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Archiv "Wissenschaftssprache: Begriffe ohne Anschauung" (14.03.2003)

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it dem Augenblick, da es – im Ge- gensatz zum Tierreich – jedem Einzelmenschen ermöglicht war, sich mehr oder weniger seine eigene Sprache bis hin zur höchst persönlichen Mundart zu formen, begann, was wir ge- meinhin Kultur nennen. Denn jede Spra- che ist eben nicht nur ein bloßes und zu- fälliges Verständigungsmittel, sondern zugleich auch immer eine eigene Mei- nung, Ausdruck einer eigenen Weltan- schauung – ein prachtvolles Kunstwerk.

Darum geht mit der Preisgabe der eige- nen Sprache auch stets die eigene Kultur unwiederbringlich zugrunde.

Die Sprache – und das gilt für jede Muttersprache – ist nicht, wie viele mei- nen, von Gelehrten zur Blüte gebracht oder gar erfunden worden. Unsere Ur- ahnen besaßen keine akademische Bil- dung, und bereits sie haben aus innerem Bedürfnis und Freude am Schönen und Vielfältigen sprachliche Unterschei- dungen geschaffen, die erstaunlicher- weise weit über das hinausgingen, was an Verständigung für ihren alltäglichen Umgang, das heißt die Sicherung ihres bescheidenen Lebensunterhalts und die Äußerung ihrer allgemeinen Gefühle, unerlässlich war. So ordneten sie bei- spielsweise jedes Hauptwort einem Ge- schlecht zu und unterschieden dazu nach Zahl, Fall und Bestimmtheit. Man weiß nicht, warum sie das taten – aber bestimmt nicht aus Tölpelhaftigkeit, auch wenn der sprachliche Reichtum mit unserer „Zivilisation“ mehr und mehr schwindet und gar nicht mehr als etwas Kunstvolles empfunden wird.

Was hat aber dies alles mit einer weltweiten einheitlichen Fachsprache zu tun, die man heute in den Wissen- schaften – und was wird heute nicht wis- senschaftlich betrieben – allenthalben fordert? Zum Glück recht wenig! Aber gerade dessen sollten wir uns eben be-

wusst bleiben, bevor wir uns vorschnell von der Fachsprache her über eine all- gemeine Weltsprache auch menschlich

„uniformieren“.

Eine Wissenschaftssprache muss nicht, wie ein Kunstwerk, erbaulich sein, sondern dient im Allgemeinen nur der kürzesten, farblosen Mitteilung ei- nes nüchternen Sachverhalts. Sie be- gnügt sich oft mit bloßen Benennungen (Namen). Noch einfacher ist die Be- zeichnung mit Zahlen oder Buch- staben, wie dies bei den chemischen Formeln üblich ist. Eine früher schon

unentbehrliche Zeichensprache war das Morsen auf See, das der Digitalisie- rung der heutigen Rechner ähnlich ist.

Doch es gab damals keinen Matro- sen, der sich auch im abendlichen St.

Pauli durch Morsezeichen verständigen wollte, was beweist, dass die nützliche Zeichensprache, wie überhaupt jede Fachsprache, ein notwendiges Übel bleibt, das man nicht um seiner selbst willen pflegt. Dabei ist festzuhalten, dass Begriffe aus Sprachen, deren man nicht mächtig ist, meist gar nicht als Be- griffe, sondern nur als bloße Namen er- scheinen. Das Gehirn arbeitet aber sehr wesentlich mit Vorstellungen, die unter- einander vernetzt sind, und nicht mit ei- ner Fülle von Bezeichnungen, die man

in immer kleinere Bestandteile „auffin- gern“, das heißt digitalisieren, kann (la- teinisch „digitus“ = Finger).

In der Medizin bediente man sich schon früh, wie allgemein in der gelehr- ten Welt des Abendlandes, des von vie- len griechischen Begriffen durchsetzten Lateins, das seinerseits mehr oder weni- ger in die sich damals entwickelnden europäischen Kultur- und National- sprachen eindrang, aber nicht umge- kehrt. Das klassische Latein blieb nir- gends als Volkssprache lebendig, wurde jedoch als kunstvolles, wenn auch „to- tes“, also unveränderliches, aber um so verlässlicheres Gebilde europäische Wissenschaftssprache. Damals verlang- te man von dem angehenden Arzt nicht nur ein Latinum und Graecum als Zu- gangsvoraussetzung zur medizinischen Fachsprache, sondern ein Philosophi- kum als Zugangsvoraussetzung zur ge- samten Wissenschaft.

Diese breite Grundlage ist Ende des 19. Jahrhunderts aufgegeben worden.

Der Medizinstudent konnte die ge- waltigen Errungenschaften der moder- nen Naturwissenschaft (physika) nicht außer Acht lassen, die seinem Fach größte Erfolge beschert hatten. Man verlangte ihm jetzt anstelle des Philoso- phikums ein Physikum ab. Doch die al- ten Sprachen blieben dessen ungeach- tet die Grundlage wissenschaftlicher Ausdrucksweise. Deren Begriffe be- hielten somit ihre Anschaulichkeit.

Anders war es nach dem Zweiten Weltkrieg: Graecum und Latinum ver- schwanden mehr und mehr aus dem Lehrplan höherer Schulen, sodass sich auch die Ärzte mit ihrer Terminologie schwer taten. Das Erstaunliche: Nicht nur bei diesen, sondern der mehr oder weniger gehobenen Schicht überhaupt hat seit dem Schwund der klassischen Bildung die gedankenlose Verwendung griechisch-lateinischer Begriffe in ei- nem ungeahnten, ja geradezu beängsti- genden Umfange zugenommen, wenn sie auch meist zu bloßen, oft gar angli- sierten Fremdwörtern verkümmert sind, von denen zwar jeder in etwa zu spüren glaubt, was gemeint ist, die aber doch eine eigentliche, das heißt klare, Vorstellung längst vermissen lassen.

Dieser Verlust ist dem Denken höchst abträglich, denn: „Begriffe ohne Anschauung sind leer.“ (Kant) T H E M E N D E R Z E I T

Deutsches ÄrzteblattJg. 100Heft 1114. März 2003 AA681

Wissenschaftssprache

Begriffe ohne Anschauung

In der Wissenschaft muss man stets aufs Neue den Grund- gehalt der verwendeten Begriffe überprüfen, was nur über die Anschauung, die sie vermitteln, möglich ist.

Zeichnung: Reinhold Löffler

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Die zivilisierte Welt hat zwar viele neue Begriffe geschaffen, aber deren Anschaulichkeit sträflich vernachläs- sigt, wie man schon an dem völlig leeren Ausdruck „zivilisiert“ selbst erkennt.

Man nahm ihnen „alle Farben, alle Le- benstöne, und uns blieb nur das entseel- te Wort“. (Schiller)

Das gilt besonders in der Medizin.

Was wir heute unbedacht nachplappern, ist der ursprünglichen Bedeutung nach oft Unsinn. Dass Chirurg nichts anderes als Handwerker bedeutet, mag man- chem noch geläufig sein. Aber schon der Orthopäde ist der ursprünglichen Be- deutung nach ein „gerades Kind“, der Logopäde ein „Wortknabe“, und richtig müssten sie „Orthopädeuten“ und „Lo- gopädeuten“ heißen. Wenn die Arthritis eine Entzündung, die Arthrosis eine Ab- nützung der Gelenke ist, dann ist die Neuritis eine Nervenentzündung, die Neurose aber plötzlich eine Verhaltens- störung, die nicht in die Hand des Neuro- logen, sondern des Psycho-Fachmanns gehört. Doch um die Seele streiten sich bereits ein „Psycho-Loge“, ein „Psych- Iater“ und ein „Psycho-Therapeut“, auch der „Psych-Agoge“ ist vielleicht im Kommen. Manche nennen sich gar „Psy- chosomatiker“, und vielleicht wird es auch bald für Kranke, die den Verstand verloren haben, den „Logologen“ oder

„Noologen“ geben. Die Helferinnen des Arztes sind zu technischen Assistentin- nen, die Masseure gar zu Physiothera- peuten geworden. Nur die unschätzba- ren Schwestern, Pfleger und Hebam- men, die dem Kranken seelisch am mei- sten geben, blieben sich selbst treu.

Es gibt heute weltweit nur noch recht wenige Ärzte, die Griechisch und La- tein überhaupt verstehen, das heißt mit dem Gesamtwortschatz und Formen- reichtum dieser Sprachen vertraut sind, – was aber unerlässlich ist, wenn Begrif- fe aus den alten Sprachen anschaulich und nicht nur reine Namen bleiben sol- len, deren Bedeutung stumpfsinnig über eine Terminologie auswendig ge- lernt wurde. In der Wissenschaft muss man stets aufs Neue den Grundgehalt der verwendeten Begriffe überprüfen, was nur über die Anschauung, die sie vermitteln, sauber möglich ist. Von Ver- wandtem kann man sich leichter „ein Bild machen“ als von Fremdem. Alle Begriffe erhalten Tiefe, Bestimmtheit

und Farbe erst durch die Wort- und Sil- benfamilien, denen sie entstammen.

Wenn jemand etwas als „irrelevant“

bezeichnet, so fängt er selbst mit diesem Wort gar nichts an, sondern ahmt nur denjenigen nach, von dem er dies voller Bewunderung gehört hat. Da dieses Wort aber für ihn, im Gegensatz zum Lateiner, nicht in eine größere Wort- und Stammsilbenfamilie und damit An- schaulichkeit eingebettet ist, kann er die Frage, was dieses Wort eigentlich bedeu- ten soll, auch nicht aus dem Stand her- aus beantworten, sondern greift zu- nächst einmal zu der inzwischen bei manchem gelehrten Redner kürzesten, aber auch häufigsten Äußerung „äh . . .“, die ihm die Zeit sichert, sich auf seine Muttersprache zu besinnen; denn es ist ihm nicht geläufig, dass das lateinische

„ir-re-levant“ wortwörtlich „un-er-heb- lich“ heißt. Es stört ihn auch nicht, wenn jemand statt irrelevant „illerevant“ sagt, wohl aber, wenn jemand statt unerheb- lich „unerbeblich“ sagen würde. Das Bedürfnis nach anschaulichen und des- halb lebendigen Begriffen ist ihm auch im Umgang mit sich selbst mehr und mehr abhanden gekommen, ohne dass ihm das bewusst oder gar von ihm als Verlust empfunden wird. Aus seinem anschaulichen und farbigen „eigenen Ich“ ist im Handumdrehen eine verblass- te, nichts sagende „Identität“ geworden,

„indem weit mehr die Menschen von der Sprache gebildet werden, denn die Sprache von den Menschen“ (Fichte).

Mit der Vielfalt der Muttersprache schwindet auch die Vielfalt des Gemüts.

Unvergorener Mischmasch

Begegnet man dieser Verarmung schon allenthalben in der täglichen Umgangs- sprache, so tritt sie in wissenschaftlichen Vorträgen in einem besonders bedenkli- chen Maße zutage. Damit sind nicht die wenigen,oft schwer zu veranschaulichen- den Termini technici gemeint, um die man in keinem Fachgebiet herum- kommt, sondern die allgemeine Überla- dung der Sprache des Vortragenden mit Fremdwörtern, die nur die Leere der Aussage verdecken sollen und keinerlei Anschauung mehr vermitteln. Ist man, nur weil man als Koryphäe – oder „Koni- fere“, wie manche sagen – gilt, seinem

Ruf schuldig, stets eine therapeutische Behandlung zu empfehlen, anstatt sich mit einer bloßen Behandlung (griech.:

therapia) zu begnügen? Man spricht von experimentellen Versuchen, von einer in- novativen Erneuerung, einer konsequen- ten oder gar konsekutiven Folge,einer in- stitutionellen oder gar institutionalisier- ten Einrichtung, von radioaktiven Strah- len oder einem zirkulären Kreislauf und fordert eine kooperative Zusammenar- beit. Wir reden doch in unserer Mutter- sprache auch nicht gedankenlos von ei- nem runden Kreis, von nassem Wasser oder einer warmen Hitze. Muss man über Suizidalität referieren, statt über den Freitod zu berichten? Stimmt es nicht be- denklich, wenn im öffentlichen Streit um die Zulassung der embryonalen Stamm- zellenforschung ein hochrangiger Red- ner mit den Worten „Ich finde das unmo- ralisch und sittenwidrig, darüber hinaus unethisch, inhuman und zutiefst un- menschlich!“ tosenden Beifall erntet, aber bestimmt nicht die Bauersfrau, die ihre ablehnende Einstellung mit den ein- fachen Worten „Ich finde das unanstän- dig“ viel kürzer und treffender auf den Begriff bringt und damit beglückend an- schaulich macht, dass uns solches Verhal- ten – warum auch immer – einfach „nicht ansteht“? Berührt es nicht eigenartig, wenn im Fernsehen eine Ärztin die Bevölkerung in allgemein verständli- chem Deutsch über den Zusammenhang von Schlaganfall, Hirnrinde und Läh- mung aufklärt, dabei einen namhaften Kliniker zu Wort kommen lässt und dann als Dolmetscherin auftreten muss, da der hohe Herr nur von Apoplex, Cortex und Parese zu reden weiß? Hier schleicht sich schnell der Verdacht ein, dass ein solcher Mediziner vor lauter Fachbegriffen gar nicht mehr zum Arzt-Patienten-Ge- spräch befähigt ist, sondern vermutlich auch in seiner Klinik die Erhebung der Anamnese, einst Schatzgrube aller ärztli- chen Diagnostik, seinen Nachgeordne- ten und vielleicht in einigen Jahren dem Computer überlassen zu können glaubt, da nur noch Begriffe, aber keine An- schaulichkeit derselben und damit keine Vertraulichkeit und kein Einfühlungs- vermögen mehr gefragt sind.

Die heutige Wissenschaftssprache ist längst ein unvergorener Mischmasch aus verwildertem Englisch und miss- handelten, oft bis zur Unkenntlichkeit T H E M E N D E R Z E I T

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entstellten lateinischen und griechi- schen Wortstücken, der die Umgangs- sprachen zu ersticken droht; denn wer wollte nicht auch im Alltag so gebildet erscheinen wie ein Gelehrter.Auch dem Englischen als einer schönen Mutter- sprache ist es abträglich, wenn man es allen anderen Muttersprachen als Welt- sprache überordnen will, sodass es nicht mehr im freien Spiel der Kräfte gefor- dert ist. Wollen wir demnächst auch beim edlen Wettstreit (Concertamen) der Musik vereinfachend C-Dur zur

„Welttonart“ erheben?

Kenntnis der alten Sprachen

Die gründliche Kenntnis der alten Spra- chen, auf deren Trennschärfe die gesamte abendländische Wissenschaft und Gei- stesbildung ruht, muss als strenge Schu- lung des Denkens wieder zum unabding- baren Rüstzeug des Medizinstudenten gehören. Wer seinen Geist schärfen will, kann auch des Schleifsteins nicht entbeh- ren. Je aussagekräftiger eine Studie an sich, umso weniger bedarf es der Worte, sie vorzustellen: Je wertvoller die Perle, umso bescheidener kann die Fassung sein. Bleibt also nur noch ein Wort zu dem treuherzigen Einwand: „Wir kön- nen doch heute in unserer ,globalen‘ Welt nicht ohne Einheitssprache leben!“

Die Welt war immer „weltweit“, und die Menschheit ist auch ohne Weltspra- che bis zum Mond vorgedrungen und wird auch ohne Englisch nicht unterge- hen. Wir lesen doch heute die Zeit auch nicht mehr an einer Sonnenuhr ab und wissen dennoch auch ohne Schatten viel genauer, wie viel Uhr es ist. Und so wer- den wir künftig durch ein kleines Knöpf- chen im Ohr und das kaum auffällige Sprechröhrchen in Kehlkopfnähe dank eines winzigen Rechners in der Lage sein, der Anschaulichkeit unserer Spra- che auch im fremden Lande freien Lauf zu lassen, des anderen fremde Worte in unserem Ohr auf Deutsch zu verneh- men und unsere eigenen Worte in be- stem Spanisch in des anderen Ohr zu wissen. Das wäre wahrer Fortschritt.

Meinem verehrten Lehrer Prof. Dr. Hans-Georg Gadamer gewidmet

Dr. med. Lothar Dinkel Clußstraße 6, 74074 Heilbronn

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-Health ist ein wichtiges Feld für eine zukunftsorientierte Gesund- heitspolitik geworden“, betonte Manfred Beeres vom Bundesverband Medizintechnologie (BVMed) in seiner Einführungsrede bei der 5. E-Health- Konferenz von MedInform in Berlin.

„E-Health-Treiber“ seien vor allem Disease-Management-Programme, die integrierte Versorgung, Fallpauschalen im Krankenhaus und Entwicklungen innerhalb der EU, wie zum Beispiel der Aktionsplan eEurope 2005 mit hohen Investitionen im Bereich Gesundheit.

Im Mittelpunkt der BVMed-Veranstal- tung standen elektronische Anwen- dungen im Gesundheitswesen, wie die elektronische Patientenakte, vernetzte Strukturen im Krankenhaus und elek- tronische Beschaffungsprozesse.

Rationalisierungspotenzial

Zwischen 20 und 40 Prozent der Leistungen im Gesundheitswesen sei- en Datenerfassungs-, Wissensverarbei- tungs- und Kommunikationsleistungen, die mit IT-Technik erheblich rationeller und qualitätssteigernd gestaltet werden könnten, meinte Dr. Stefan Bales vom Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung, Bonn. Exemplarisch hierfür sei der Krankenhausbereich, in dem Ärzte sich häufig mehr als die Hälf- te ihrer Arbeitszeit mit Informations- verarbeitung, zum Beispiel für admini- strative Zwecke, beschäftigen müssten.

Einen großen Vorteil versprächen Infor- mations- und Kommunikationstechno- logien auch bei der Qualität der medizi- nischen Behandlung, wenn beispielswei- se wichtige Gesundheitsinformationen der Patienten – insbesondere zwischen verschiedenen Versorgungsbereichen – schneller und strukturierter ausge-

tauscht würden. Hier setzt die Bundes- regierung auf die elektronische Gesund- heitskarte (siehe DÄ, Heft 49/2002). Die Karte soll ab 2006 in Verbindung mit elektronischen Heilberufsausweisen in- nerhalb einer umfassenden Telematik- infrastruktur flächendeckend einge- führt werden.

Nicht zwangsläufig weniger Kosten

Dass elektronische Kommunikations- prozesse dazu beitragen, die Gesund- heitsversorgung zu verbessern, effizien- ter zu gestalten und die Beschaffungs- prozesse zwischen Krankenhäusern und Herstellern zu optimieren, darüber be- steht weitgehend Einigkeit. Zurückhal- tender sind einige Experten bei der Ein- schätzung, ob damit auch Kosteneinspa- rungen einhergehen werden. Nach Auf- fassung von Dr. Dieter Sommer, Zen- trum für angewandte Gesundheitsförde- rung und Gesundheitswissenschaften, Berlin, wird der technische Fortschritt in der elektronischen Kommunikation eher zu einer Qualitätssteigerung als zu Kosteneinsparungen führen. Beispiel

„elektronisches Rezept“: Zwar werden die Kostenträger bei maßvollen Investi- tionen hohe Einsparungen erzielen. Bei den Apotheken jedoch lägen die Investi- tionen bereits etwas höher als ihre Ein- sparungen, wohingegen bei den Ärzten bei hohen Investitionen kaum Einspa- rungen zu erwarten seien. Die Patienten könnten qualitativ profitieren, wenn sie zum Beispiel verbesserte Informationen erhalten. Sommer verwies darauf, dass 80 Prozent der Ressourcen im Gesund- heitswesen für 20 Prozent der Patienten aufgewendet werden. Die Compliance bei chronisch Kranken, wie zum Beispiel Diabetikern, liege nur bei 30 bis 60 Pro-

E-Health und E-Commerce in der Praxis

Mehr Qualität und Effizienz

Elektronische Kommunikation trägt dazu bei, die Gesundheits- versorgung zu verbessern. Kosteneinsparungen durch

E-Commerce sind jedoch erst mittel- bis langfristig zu erzielen.

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zent – entsprechend auch die Behand- lungseffizienz. Hier sei das Kostenein- sparungspotenzial durch Maßnahmen wie Kosten- und Angebotstransparenz im Gesundheitsmarkt (etwa via Inter- net), durch Verbesserung des Präven- tivverhaltens und der Compliance sowie durch aktives Patientenmanagement

„gigantisch“. Das Fazit Sommers: „Ko- steneinsparungen werden vielmehr durch Veränderungen im individuellen Verhalten des Patienten erreicht. E- Health kann helfen, den Patienten kon- struktiv am Leistungsprozess zu beteili- gen und das Gesundheitssystem zu de- mokratisieren.“

Am Anfang der Entwicklung

Die Kluft zwischen den technischen Möglichkeiten einer elektronischen Ver- netzung und der Wirklichkeit im Ge- sundheitswesen ist groß. Die Gründe für die zahlreichen Informations- und Kom- munikationsbrüche liegen unter ande- rem in der Verschiedenartigkeit und mangelnden Integration der vorhande- nen Datenformate und IT-Systeme sowie in fehlenden Standards und Normen.

Nach einer Umfrage des Psychiatrischen Zentrums Nordbaden, Wiesloch, unter 122 Krankenhäusern steht beispielsweise die elektronische Patientenakte (EPA) noch ganz am Anfang: Nur zwei Prozent der Häuser arbeiten mit einer EPA, und ebenfalls nur zwei Prozent haben die er- fassten Daten auch bei einer Visite am Krankenbett zur Verfügung.

Über die Einführung einer elektroni- schen Patientenakte in der Praxis be- richtete Dr. med. Marion Kalwa, Oberärztin an der Klinik Münsterland der LVA Westfalen für orthopädisch- rheumatologische Erkrankungen. Das Projekt (siehe www.epa.de/reha) sollte historisch gewachsenen Strukturen und neuen technologischen Entwicklungen gleichermaßen Rechnung tragen. An- satz war eine „Best-of-Breed-Lösung“, bei der Konzepte mehrerer, auf jeweils unterschiedliche Gebiete spezialisierte Anbieter integriert wurden. Elemente des Projekts waren neben der EPA ein Order-Entry-Verfahren (beleglose Er- fassung von Aufträgen) für Therapiean- forderungen sowie ein Zeit- und Res- sourcenmanagementsystem. Hinzu ka-

men eine weitgehend automatisierte Entlassungsberichtschreibung, die Vi- sualisierung der Labordaten und die elektronische Leistungserfassung. Die bestehenden Subsysteme sind über ei- nen zentralen Kommunikationsserver verbunden, der den datenformatunab- hängigen Austausch zwischen den An- wendungen unterstützt. Das System

läuft seit einem Jahr im Echtbetrieb.

Vorteile sind die Zeitersparnis und der geringere administrative Aufwand, be- dingt durch die zentrale Datenhaltung, die einfache Statusverfolgung und die einheitliche grafische Arbeitsober- fläche. Darüber hinaus stehen zusätzli- che Recherchemöglichkeiten und struk- turierte Daten für statistische Auswer- tungen und Forschungszwecke zur Ver- fügung. Die zweite Projektstufe sieht unter anderem den papierlosen Daten- austausch mit den Krankenkassen und mit ausgewählten Akutkliniken vor.

E-Commerce

Das elektronische Beschaffungswesen (E-Commerce beziehungsweise E-Pro- curement) im Medizinproduktebereich wird sich nach Meinung von Exper- ten mittelfristig durchsetzen, auch wenn die Goldgräberstimmung vorbei ist und sich die überzogenen Erwartungen der ersten Geschäftsmodelle nicht er- füllt haben. Viele Anbieter sind wieder vom Markt verschwunden. Nur weni- ge E-Commerce-Plattformen, darunter

GHX – Global Healthcare Exchange, Medicforma, Medvantis und PLCnet, haben den Zusammenbruch des Neuen Marktes überlebt. Erfolge in diesem Bereich erfordern auch Geduld: „Lang- fristig sind erhebliche Kostenreduzie- rungen zu erwarten. Kurzfristig sind je- doch zunächst enorme Investitionen er- forderlich. Die Einsparpotenziale lie- gen beim E-Commerce vor allem bei den Pro- zesskosten, nicht bei den Einkaufspreisen“, meint Manfred Beeres.

Dies deckt sich mit den Erfahrungen, die Fred Oberhag, Leiter der Abteilung Wirt- schaft und Versorgung der Kath. St.-Johannes- Gesellschaft, Dortmund, in einem E-Commerce- Projekt mit dem An- bieter GHX gesammelt hat. Seit Februar 2003 wickelt die Einrichtung ihre Warenbestellungen mit zwölf Unternehmen ausschließlich elektro- nisch ab. Dies repräsentiert 23 Prozent des Umsatzes. Ab April ist darüber hin- aus die elektronische Übermittlung von Rechnungen geplant. Als Vorteile des elektronischen Einkaufs sieht Oberhag vor allem den schnellen und sicheren Datenaustausch, weil Medienbrüche bei Bestellungen, Auftragsbestätigun- gen und Rechnungen wegfallen, die Re- duzierung von Fehllieferungen, die Ver- ringerung der Lagerbestände, die Ver- einfachung der Stammdatenpflege und die Zeitersparnis bei administrativen Tätigkeiten. Voraussetzung dafür sei je- doch die tiefe Integration in die Ma- terialwirtschaftssysteme der Kranken- häuser und Hersteller. Sein Fazit: „Ein- sparungen werden überwiegend durch eine Optimierung der Prozessketten er- reicht und lassen sich nur bei gleichzei- tiger kritischer Prüfung der Organisati- onsstrukturen im Einkauf realisieren.“

Viele Krankenhäuser halten sich zur- zeit mit Investitionen in E-Commerce- Anwendungen allerdings noch zurück, weil Standardlösungen und Schnittstel- len fehlen, ebenso wie eine internationa- le Standardisierung der Nomenklaturen und Artikelnummern.Heike E. Krüger-Brand T H E M E N D E R Z E I T

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Alles auf einen Blick: Bildschirmansicht der in der Klinik Mün- sterland verwendeten elektronischen Patientenakte (Lösung der Firma Optimal Systems, Berlin)

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