ie niedergelassenen Ärzte stecken seit Jahren in einem ausweglos scheinenden Di- lemma. Mit nur geringfügig stei- genden Budgets sollen sie einen er- heblich schneller wachsenden Ver- sorgungsbedarf bedienen. Sie allein tragen das Morbiditätsrisiko, denn die Krankenkassen richten die Ge- samtvergütung für die ambulante Ver- sorgung nicht am tatsächlichen Krank- heitsgeschehen aus, sondern aus- schließlich an der Entwicklung der sozialversicherungspflichtigen Löhne und Gehälter.
Die Folgen dieser strikten Bud- getierung waren über einen langen Zeitraum hinweg nur innerhalb der Kassenärzteschaft zu spüren: immer mehr Leistungen für immer we- niger Geld. Die Versorgung der Pa- tienten hingegen litt nach außen hin keinen Schaden. Erst die erzwun- gene Rationierung bei der Verord- nung von Arzneimitteln lässt die Ge- sundheitspolitiker inzwischen auf- horchen (siehe dazu den Leitartikel in diesem Heft).
Dennoch: Die Forderung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) nach einer stärkeren Berück- sichtung des medizinischen Versor- gungsbedarfs der Bevölkerung wurde bislang stets mit dem lapidaren Hin- weis auf angebliche „Wirtschaftlich- keitsreserven“ abgetan. Mit anderen Worten: Es ist Geld genug da, es muss nur vernünftig verteilt werden. Vor al- lem sollten die Ärzte nicht so viele
„überflüssige Leistungen“ erbringen.
Dieser perfiden Argumentation der Krankenkassen will die KBV nun harte Zahlen gegenüberstellen. Ein so genannter Morbiditätsindex soll mehr Transparenz in das Leistungsgesche- hen und den Versorgungsbedarf brin-
gen. Dabei steht nicht der Arzt, son- dern der Patient im Mittelpunkt der Betrachtung. „Trotz der Fülle von Sta- tistiken im Gesundheitswesen“, so Dr.
Dominik von Stillfried, Leiter der Ab- teilung für Grundsatzfragen bei der KBV, „kann gegenwärtig niemand mit Sicherheit sagen, wie viele Patienten in den Praxen niedergelassener Ärzte wegen einer bestimmten Krankheit, zum Beispiel Diabetes mellitus oder Asthma, behandelt werden und welche Leistungen für diese Patientengruppen erbracht worden sind.“ Abgesehen von einzelnen Studien bliebe daher auch unklar, in welchem Umfang etwa die Zahl chronisch kranker Patienten zunehme und wie sich der Versor- gungsbedarf im Verhältnis zu ande- ren Patientengruppen entwickele. Der Morbiditätsindex soll künftig Licht ins Dunkle bringen und Veränderun- gen des Krankheitsspektrums und der Versorgungsintensität offen legen.
Klassifizierung nach dem Vorbild der USA
Zunächst will die KBV anhand ei- ner Patientenstichprobe feststellen, wie sich die Leistungen in der ambu- lanten Versorgung auf die Patienten verteilen. Anschließend sollen die Pa- tienten auf der Grundlage der jewei- ligen Behandlungsdiagnosen und er- forderlichen Behandlungsintensität zu möglichst homogenen Gruppen zu- sammengefasst werden. Die Gruppen- bildung basiert auf der Kostenhöhe nach Morbiditätskriterien. Sie soll ein zuverlässiger Indikator für das Kosten- risiko der jeweiligen Patientengruppen im Folgejahr sein.
Derartige Patienten-Klassifikati- onssysteme sind in den USA verbrei-
tet. Eines dieser Verfahren soll nun auch hierzulande wissenschaftlich vali- diert werden. Nach diesen grundlegen- den Entwicklungsarbeiten soll der Morbiditätsindex jährlich aktualisiert werden. Er weist dann unter anderem die Veränderungen der Patientenzah- len in definierten Patientengruppen nach. Von Stillfried: „Steigt beispiels- weise der Anteil der Patienten in auf- wendigen Behandlungsfeldern, etwa bei chronisch behandlungsbedürftigen Zuständen, so steigt auch der Morbi- ditätsindex.“
Das ambitionierte Projekt ver- spricht damit zweierlei: Einerseits kann der Morbiditätsindex dazu bei- tragen, das Versorgungsniveau quan- titativ und qualitativ zu definieren, an- dererseits versetzt er die KBV und die KVen in die Lage, die dafür notwendi- gen finanziellen Mittel auf der Grund- lage valider Daten einzufordern.
Vor die Erhöhung der Versor- gungsbudgets hat der Gesetzgeber das Ausschöpfen von Wirtschaftlichkeits- reserven gesetzt. Daran anknüpfend argumentiert von Stillfried: „Wenn künftig mit Hilfe des Morbiditätsinde- xes verdeutlicht werden kann, wel- cher Anteil dieser Budgets auf welche Patientengruppe entfällt und welches Leistungsspektrum darin enthalten ist, muss die Frage nach den Wirt- schaftlichkeitsreserven konkret be- antwortet werden. Dann dürfte klar werden, was der Gesetzgeber bisher immer verschwiegen hat: Die oft un- terstellten Wirtschaftlichkeitsreserven sind häufig nichts anderes als ein Lei- stungsabbau für bestimmte Patienten- gruppen ohne Lobby.“
Im Umkehrschluss: Wenn der Ver- sorgungsbedarf nachgewiesen ist, kann dessen Finanzierung nicht länger ver- weigert werden. SPD und Grüne müss- ten diesem Gedanken grundsätzlich aufgeschlossen gegenüberstehen, denn sie fordern seit langem eine bessere Gesundheitsberichterstattung.
Nachdem sich der Vorstand und der Länderausschuss der Kassenärzt- lichen Bundesvereinigung bereits für die Entwicklung des Morbiditätsin- dexes ausgesprochen haben, werden die Delegierten der KBV-Vertreter- versammlung das Thema auf ihrer Tagung am 8. Mai im Vorfeld des 103. Deutschen Ärztetages in Köln
beraten. Josef Maus
A-1042 Deutsches Ärzteblatt 97,Heft 16, 21. April 2000
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