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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
Heft 10
vom 11. März 1983
Rückschritt
durch Fortschritt?
E. Chargaff Foto: Klett-Cotta Erwin Chargaff: Warnungsta- feln, Die Vergangenheit spricht zur Gegenwart, Ver- lagsgemeinschaft Klett-Cotta, Stuttgart, 1982, 266 Seiten, Leinen mit Schutzumschlag, 36 DM
Erwin Chargaff, von der Ausbildung her Biochemi- ker, kann auf eine glanzvol- le Laufbahn als Begründer der modernen Nukleinsäu- rechemie zurückblicken.
Das geschah in den USA, wohin er als Jude auswan- dern mußte, nicht ohne vorher noch den elitären Wissenschaftler-Kreis der Berliner Gruppe in den gol- denen dreißiger Jahren kennengelernt zu haben.
Der zweite Kreis, der ihn richtungweisend beeinfluß- te, war der von Karl Kraus in Wien. Seine Vorträge weckten in ihm das Interes- se für Literatur und förder- ten seine aphoristische Be- gabung. Diesen „zweiten Bildungsweg" hat er zeit seines Lebens beibehalten, und so erstaunt es nicht, daß uns im vorliegenden Buch ein Mensch entge- gentritt, an dem wir nicht nur seine Fähigkeit bewun- dern, Natur und Wissen- schaft kritisch, aber ver- ständlich zu interpretieren, sondern auch ein Schrift- steller, der mit der Sprache umzugehen weiß.
Das Buch zeigt vor allem das starke Traditionsbe- wußtsein des Autors, so als wolle er uns durch die Wur- zeln des Abendlandes (am Beispiel von Lukian, Kant, Hamann, Peacock, Dela- croix, Aurel, Nietzsche, Kraus, Kafka und Simone Weil) neue geistige Nah- rungsquellen erschließen.
Die Naturwissenschaften sind ausgezogen, „uns das Staunen abzugewöhnen";
ja sie haben uns überredet,
„daß wir um so klüger wer- den, je mehr Schaden zu stiften wir ihnen gestat- ten". Die Medizin ist da nicht ausgenommen, so
heißt es beispielsweise von der Krebsforschung, daß es an der Zeit wäre, „ein Mo- ratorium der Scham zu de- klarieren, einen Fünfjah- resplan völligen Schwei- gens". Seine apokalypti- sche Kritik macht auch vor der „Forschung" nicht halt: Sie wird völlig kom- merzialisiert, „die haupt- sächliche Funktion der Wissenschaft ist jetzt die Erhaltung der Wissen- schaftler", und in der heuti- gen Forschung sei „so viel Scharfsinn von so wenig Tiefsinn begleitet, so viel Fleiß von so wenig Ein- sicht". Die biomedizini- sche Forschung verbrau- che Summen, die jedes Volk besser verwenden könne: „Klötze von Krebs- instituten mag man als Op- fergabe an eine zornige Gottheit betrachten", „For- scher sind zwar der Senf der Erde, aber zuviel Senf verdirbt die schönste Brat- wurst". Ein Mensch, der
„das Paradies vor lauter Schlangen nicht mehr sieht", entdeckt auch schon bei Peacock ein Um- weltbewußtsein und spürt sarkastisch den Müll des Fortschritts auf, um ihn uns unter die Nase zu halten:
„Aus dem Segen in die Traufe".
Chargaff ist der Überzeu- gung, daß man sich an al- les gewöhnen kann, auch an eine Entwöhnung von dem gewohnten Leben.
Skeptische Vernunft als Kritik der reinen Unver- nunft, die unserer Welt den Stempel des Verfallsda- tums aufprägt. Also: „Fiat mundus et pereat scien- tia"? (um einen seiner Aphorismen umzukehren).
Als Ausweg sieht er einen
Einweg: Nur im Privaten liegt die Rettung. Fast ei- ne Quäker-Philosophie: „If there is peace in your heart..." Man denke auch an die Schweigepause!
Chargaff bietet uns jedoch keine neue Ersatzreligion an, er verweist auf das menschliche Herz, Rückbe- sinnung auf die Ursprünge unserer Kultur, er appelliert an unsere Moral. Ob aller- dings die gute, alte Zeit die bessere und Wert-vollere war, muß man bezweifeln.
Der Mensch jedenfalls war es nicht, auch das lehrt die Vergangenheit. Und er wird es wohl auch in Zukunft nicht werden. Sein Ge- heimnis liegt in dem Zell- kern, dessen Erbsubstanz Chargaff einst entschlüs- selt hat. Und ob das Böse nicht doch ein dominantes Allel des Guten ist, dem wir die von ehrgeiziger Macht- besessenheit technisierte Welt „verdanken", das ist nicht ein Problem der Na- turwissenschaft, sondern ein Problem der Wissen- schaft von der Natur des Menschen. Denn auch der Kern des Menschen ist ge- spalten: Er kann gut und böse unterscheiden, und oft genug dient ihm das Böse dazu, um zu über- leben.
Leider dürfte sich die Ver- erbung der verderbenbrin- genden Eigenschaften des Menschen kaum beeinflus- sen lassen, denn auch die Natur des Menschen macht keine Sprünge — über sich selbst hinaus. Auch nicht im Angesicht von „Apoka- lypse now". Dieses provo- zierende Buch jedoch ist ein Blick nach vorn im Zorn, ein temperamentvol- les und geistreiches Feuer- werk, welches inständig den Beginn einer neuen Epoche der Menschheit — und nicht deren letzte Tage
— heraufbeschwört.
Gerhard Uhlenbruck, Köln
Ausgabe A DEUTSCHES ÄRZTEBLATT 80. Jahrgang Heft 10 vom 11. März 1983 121