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Archiv "Chronologie eines 24-Stunden-Dienstes: Der ganz normale Wahnsinn" (24.03.2006)

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Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 103⏐⏐Heft 12⏐⏐24. März 2006 AA811

S T A T U S

S

onntagmorgen, 9 Uhr, ein kommunales Krankenhaus mit 200 Betten, 80 davon internistisch: Eine Kollegin in- formiert mich über die in den letzten 24 Stunden aufgenom- menen Patienten. Sie hat nur eineinhalb Stunden geschlafen und sieht müde aus. Ich denke noch, dass ich nach so einer Nacht rein statistisch gesehen endlich mal wieder einen ruhi- gen Dienst haben müsste.

9.30 Uhr. Die 89-jährige Frau Schreiber von Station hat Luftnot und Brustschmerzen.

Sie empfängt mich mit den Worten:„Frau Doktor, helfen Sie mir, bitte.“Das EKG ist bei reinen Schrittmacheraktionen nicht verwertbar, dennoch zeigt das Troponin einen deut- lichen Anstieg. Bei einer aus- geprägten Niereninsuffizienz wird eine maximale konserva- tive Therapie eingeleitet.

Die Ambulanz piepst mich an: Der Notarzt warte mit Herrn Möller auf mich. Herr Möller biete eine wahnhafte Psychose und verweigere Nahrung und Flüssigkeit, oh- ne es zu bemerken.Als ich ein- treffe, beschimpft er mich: Er wolle sofort heim. Dass er in der Rehaklinik getobt hat und er nach mehreren Beruhi- gungsspritzen Ruhe gab, weiß er nicht mehr. Nachdem er in

Richtung Überwachungsstati- on unterwegs ist, eile ich auf Station Ost, wo eine 76-Jähri- ge nur noch lallend spricht.

Die Töchter sind in heller Auf- regung. Als ich ankomme, bil- det sich die Aphasie und Dys- arthrie innerhalb von fünf Mi- nuten zurück. Ich lasse mich ins Neurozentrum der nächst- gelegenen Uniklinik verbin- den. Da die Patientin rüstig ist, bietet man mir an, sie zu über- nehmen. Die Töchter sind sehr dankbar. Schnell wird noch ein Brief geschrieben und der Transport organisiert.

In der Notaufnahme ist nun Herr Paul angekommen, der unter Marcumar,ASS und Pla- vix Blut abgesetzt hat und kol- laptisch war. Zwischendurch werde ich von einer Frau angepiepst, die selbst Ärztin ist und seit dem Genuss ei- ner Bratwurst Bauchschmer- zen hat, die dem Protonen- pumpeninhibitor trotzen. Ich wage keine Ferndiagnose und empfehle eine Vorstellung in der Klinik.Während Herr Paul seine Infusionen und Sauer- stoff erhält und wir auf das La- bor warten, wird die Endosko- pie vorbereitet. Da die Leit- stelle einen komatösen Patien- ten ankündigt, kann ich mei- nem Oberarzt nicht assistie- ren, sondern muss zurück in

die Notaufnahme. Kurz vor dem Notarzt kommt ein 50- Jähriger mit Bauchschmerzen, der als nicht dringlich einge- stuft wird und erst mal warten muss. Die Ambulanzschwester sagt, die Ärztin mit den Bauch- schmerzen sei auch inzwischen eingetroffen. Wegen ihres gu- ten Allgemeinzustands muss auch sie erst mal warten.

Der Notarzt bringt den an- gekündigten somnolenten 60- Jährigen nach einem wohl erstmaligen Krampfanfall. Ich lasse das CT frei machen und hoffe, dass der Krampfanfall erst mal sistiert. Auf dem Weg zum CT äußert der Patient plötzlich starke Kopfschmer- zen. Er erbricht und beginnt erneut zu krampfen. Kurz dar- auf liegt der Patient beatmet im CT. Die Vermutung einer großen intrazerebralen Blu- tung bestätigt sich. Der Pati- ent erhält vom intensivme- dizinischen Kollegen noch einen arteriellen Zugang, während ich die Helikopter- Verlegung organisiere und den Brief schreibe. Die An- gehörigen fragen nach den Chancen. Ich mache Mut, oh- ne zu viel zu versprechen.

Zurück in der Notaufnah- me setzt mich die Schwester davon in Kenntnis, dass neben dem Mann mit Bauchschmer-

zen und der Kollegin mit Bauchschmerzen jetzt noch eine Frau mit Grippe wartet.

Ich frage mich nur kurz, was eine Grippe-Patientin in der Notaufnahme zu suchen hat.

Da erreicht mich ein erneuter Fernruf auf dem Piepser. Die Zentrale verbindet mit jener Kollegin, die nebenan im War- tezimmer sitzt. Sie fragt per Handy, ob ich Notfälle hätte, sie würde schon seit einer Stunde warten. Ruhig erkläre ich ihr, dass genau dies der Fall ist. Der Mann mit den Bauch- schmerzen kann entlassen werden. Schnell will ich mir die Kollegin ansehen. Sie hat das Haus aber bereits verlassen. So widme ich mich der Grippe- Patientin, der mit Schmerzmit- teln und Nasentropfen gehol- fen werden kann.

Nun ist es 14 Uhr, und die 78-jährige Frau Meier wird mit dem Rettungsdienst gebracht.

Sie kann nur noch im Sitzen at- men. Bei einem bekannten schweren Klappenfehler, den sie nicht operieren lassen will, ist ihre Herzschwäche kata- strophal. Ich versuche, ihr me- dikamentös Erleichterung zu verschaffen. Sie ist trotz Hör- gerät nahezu taub. Aus ihrem letzten Entlassbrief geht her- vor, dass man sich schriftlich mit ihr verständigen könne.Ich versuche es, aber Frau Meier winkt ab: „Vergessen Sie es, es hat keinen Sinn.“ Resigniert organisiere ich den Transport auf die Station.

Im Nebenzimmer wartet schon Frau Sen auf mich. Sie hat Kopfschmerzen. Darunter leidet sie dreimal wöchent- lich, aber diesmal wollen die Schmerzen trotz Schmerz- tabletten nicht weggehen.

Ich diagnostiziere Spannungs- kopfschmerzen, erhöhe die Dosis der Analgetika und empfehle Massage und Kran- kengymnastik.

Ich mache eine Runde über die Stationen, lege schnell ein paar venöse Zugänge. Des Weiteren bittet mich eine Schwester, nach Herrn Haupt von Station Süd zu sehen, der während seiner Alkoholentgif- tung alkoholisiert vom Spa- ziergang zurückkam. Herr Haupt ist vor wenigen Wochen

Chronologie eines 24-Stunden-Dienstes

Der ganz normale Wahnsinn

Foto:Caro

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aus disziplinarischen Gründen genau deshalb bei uns entlas- sen worden. Jetzt ist er wegen Entzugssymptomatik wieder da. Und er will meinen Ärger nicht verstehen. Dass unsere Medikamente mit Alkohol zu- sammen gefährlich sein kön- nen, scheint er noch eher zu begreifen als die Tatsache, dass wir ihn nicht entgiften können, wenn er nebenher trinkt. Mir berichtet er von „nur einem Bier“, der Schwester gegen- über gibt er einen Schnaps zu.

Ich belasse es – aus Zeitman- gel – bei einer Verwarnung.

Ich trabe zurück in die Not- aufnahme. Dort wartet Herr Vogel mit Wadenschmerzen:

eine (immerhin nur oberfläch- liche) Thrombose. Ebenfalls auf mich warten musste Fabi- an: Ein 21-Jähriger, der kern- gesund scheint. Er klagt über atemabhängige Schmerzen.

Weil er heiser klingt, denke ich zunächst an eine Rippenfell- entzündung. Als ich mein Ste- thoskop auf seine Lungen set- ze, findet sich rechts fast kein Atemgeräusch. Die Sauer- stoffsättigung ist 100 Prozent.

Ungläubig veranlasse ich ein Röntgenbild.Es bestätigt sich ein großer Pneumothorax.

Chirurgen und Anästhesisten stehen aber im OP. Da es Fabi- an gut geht, muss er monitori- siert einen Moment warten.

Weil der Chirurg nicht da ist und wir Platz brauchen, ver- sorge ich einer jungen Frau ne- benher ihre Fingerschnittwun- de. Nun ist der Raum frei für einen 45-Jährigen mit Bauch- schmerzen. Nach eingehender Untersuchung muss auch er auf den Chirurgen warten.

Möglicherweise eine retrozö- kal liegende Appendizitis – der Mann will nach Hause.

Es ist Abend geworden. Das Pflegeheim schickt Frau Wei- her: eine rüstige alte Dame mit Verdacht auf Anämie und sehr geschwächt. Frau Weiher will nicht bei uns bleiben. Sie muss aber zugeben, dass sie hier vielleicht besser aufgehoben ist, weil sie vor Schwäche seit einigen Tagen kaum mehr al- leine aufstehen kann.

Der Notarzt wird wieder vorstellig. Diesmal bringt er ei- nen sehr verwahrlosten Mitt-

fünfziger, der einen Alkohol- entzugskrampf erlitten hat und sich nach 30 mg Diazepam durch den Hausarzt jetzt in ei- nem Zustand zwischen post- iktal und sehr sediert befindet.

Auf starke Schmerzreize be- wegt er nur die rechte Körper- hälfte. Da seine Sauerstoff- sättigung die 72 Prozent kaum mehr überschreitet, bitte ich den Anästhesisten, mir bei der Intubation beizustehen, damit das CT gefahrlos durchgeführt werden kann. Selbiges bleibt unauffällig, wir vermuten eine Toddsche Parese und bringen den Patienten intubiert und be- atmet auf die Intensivstation.

Nebenher hatte sich Herr Mohammed, den ich auf An- fang 60 schätze, immer wieder durch lautes Stöhnen und eine Bauchlandung auf der Unter- suchungsliege in den Ambu- lanzbetrieb eingemischt. Ein kurzer Blick des Oberarztes vermittelte uns, dass er den- noch nicht akut vital gefährdet war.Als ich bei ihm ankomme, klagt er über Schwindel und Grippe. Nach dem Ausstellen einer Krankmeldung nimmt er nicht einmal mehr das von mir angebotene Parazetamol, son- dern zieht eiligst von dannen.

Nun ist Herr Bäumle dran.

Sein Bett war vor dem OP ab- gestellt worden, weil die Am- bulanz überfüllt ist. Herr Bäumle ist 40 Jahre alt und hat in Ermangelung von Wodka zwei Flaschen Rasierwasser getrunken. Nachdem er dar- aufhin massiv erbrechen muss- te und seinen Hausarzt hier- über informierte, sah dieser sich gezwungen, ihn erneut zu hospitalisieren.Ich frage Herrn Bäumle, ob er diesmal bereit sei, im Anschluss an die Ent- giftung eine Entzugstherapie mitzumachen. Er ist dieses Jahr schon mehrfach bei uns gewesen. Einmal hatte er Franzbranntwein getrunken und einmal Brennspiritus.

Jetzt will er unserem Vor- schlag folgen und die Thera- pie nahtlos anschließen. Die Giftzentrale versichert mir, dass bei genanntem Rasier- wasser keine gravierenden Folgen zu erwarten sind. Ich schicke Herrn Bäumle auf die Station.

Es ist 23 Uhr. Der 19-jährige Mario klagt über Durchfall seit einem Monat. Er sei nervös.

Warum, will er mir zunächst nicht verraten. Als ich den Va- ter, der vor der Tür lauschte, wegschicke, berichtet er, dass seine Freundin ihn verlasse ha- be und seine Eltern ständig über ihn wachten. Er fühlt sich unruhig und kann schlecht schlafen. Die Blutentnahme verweigert er, sodass ich ei- ne Schilddrüsenproblematik nicht ausschließen kann. Er wird mit Baldrian und der Maßgabe, den Hausarzt zu konsultieren, entlassen.

Auf Station bittet mich die Nachtschwester, nach Herrn Amthal zu sehen. Er sei sehr schläfrig und verlangsamt. Ein Blick in die Kurve verrät mir, dass Herr Amthal innerhalb von 72 Stunden um mehr als fünf Kilo leichter geworden ist.

Ich diagnostiziere den Zu- stand einer Exsikkose.

Die Notaufnahme ruft schon wieder.Ein 13 Monate altes Kind wird mir mit Aus- schlag vorgestellt. Dieser ver- färbt sich zunehmend livide, die Temperatur liegt bei 39,6 Grad Celsius. Das Kind hat Ödeme an Armen und Beinen.

Da an unser Haus keine pädia- trische Abteilung angeschlos- sen ist, halte ich Rücksprache mit der 30 Kilometer entfern- ten Kinderklinik. Dort ist man meiner Meinung: Das Kind muss sofort kommen.

Es ist ein Uhr nachts: Ein siebenjähriger Junge wird von den Eltern gebracht. Er sei vor Bauchschmerzen aus dem Schlaf aufgewacht. Die Schmerzen sind im linken Un- terbauch. Der Junge bewegt sich vor Schmerzen kaum. Die Blutentnahme wird zur Zer- reißprobe: Die Venen sind ein- wandfrei, aber meine Ohren wollen um diese Uhrzeit nichts mehr mit solchen Frequenzen – der Junge schreit unaufhör- lich – zu tun haben. Als der Chirurg aus dem OP kommt, lacht das Kind wieder und er- klärt, die Schmerzen seien fort.

Geduldig erklärt mein Kollege das Prinzip einer Invagination oder Torsion und empfiehlt bei erneutem Auftreten das An- fahren einer Kinderklinik. Als

die Familie fort ist, berichtet er mir noch von der erfolgreichen Thoraxdrainage bei Fabian, der nun auf der chirurgischen Station untergekommen ist.

Es piepst erneut:Ich werde nochmals zu Frau Meier geru- fen. Frau Meier hat trotz maxi- maler Bemühungen nichts ausgeschieden und sitzt senk- recht nach Luft ringend im Bett. Ich entscheide mich für einen Lasixperfusor, Morphin und Nitro und versuche nochmals, ihr Mut zuzuspre- chen. Da dies nicht gelingt, bleibe ich ein paar Minuten bei ihr sitzen und halte ihre Hand.

Als das Morphin wirkt, wird sie ruhiger.

Es ist jetzt zwei Uhr nachts.

Meine Tagesration Nahrung habe ich mir gegen 23 Uhr ein- verleibt. Ich denke erneut: Der Statistik nach müsstest du jetzt wenigstens vier Stunden schla- fen können. Diesmal hat die Statistik Erbarmen. Die vier Stunden gehören mir. Ich träu- me fast die ganze Zeit von der Klinik: mäßig erholsam.

Als der Wecker klingelt, geht es schnell unter die Du- sche und dann erneut auf Stati- on: Blut abnehmen, Infusions- nadeln legen, Problempatien- ten anschauen. Frau Meier hat weiterhin nichts ausgeschie- den. Es scheint wenig aus- sichtsreich für ihre Genesung, aber sie schläft jetzt ruhiger.

Wir treffen uns zur Übergabe auf der Intensivstation. Dem Mann mit der Blutung geht es nach Unterspritzung mit Su- pra besser, jener mit dem Ent- zugskrampf ist weiterhin beat- met, und der Psychotiker hat die Intensivstation die ganze Nacht mit seinen Verschwö- rungstheorien beschäftigt. Es folgt die Besprechung, in der die Neuzugänge auf Nor- malstation berichtet werden.

Jetzt steht noch die normale Visite an. Matt bemühe ich mich um ein patientenorien- tiertes Vorgehen. Ein Patient sagt:„Sie sind ja immer noch da.“ Um zwölf Uhr mittags verlasse ich die Klinik. Ein- mal mehr bin ich der Ansicht, dass die Fristverlängerung zur Umsetzung der EU-Arbeits- zeitrichtlinie keine gute Idee ist. Dr. med. Katrin Schuchardt S T A T U S

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