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Archiv "Wenn die Müdigkeit durchschlägt: Chronologie eines 24-Stunden-Dienstes" (09.12.2005)

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Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 102⏐⏐Heft 49⏐⏐9. Dezember 2005 AA3463

S T A T U S

A

uf die Frage nach dem heutigen Datum bietet Herr Lang „irgendetwas zwischen eins und fünfzehn“.

Ich sitze ihm in einem Psych- iatrischen Krankenhaus auf der Station für Suchtkranke gegenüber und entnehme Blut aus der Armvene. Der Mann ist sechzig Jahre alt und auf dieser Station, weil sein Haus- arzt der Ansicht ist, dass er mehr Alkohol und Schlafmit- tel zu sich nimmt, als ihm gut tut. Herr Lang teilt diese An- sicht nicht. Aber er ist gut- mütig und mag seinen Haus- arzt. Deshalb hat er seinem Rat, eine Entzugsbehandlung zu machen, zugestimmt.

Es ist der 7. Dezember 2005. Dies sollte eigentlich mein letzter Dienst sein, der 24 Stunden dauert. Bereits zum 1. Januar 2004 hat der deutsche Gesetzgeber das Ar- beitszeitgesetz an die EU-Ar- beitszeitrichtlinie angepasst.

Demnach sind Bereitschafts- dienste in vollem Umfang als Arbeitszeit einzustufen. Und:

Gearbeitet werden darf nur noch maximal 13 Stunden am Stück. Doch die meisten Kli- nikärzte haben davon bislang wenig gespürt. Denn ein Pas- sus, der im Dezember 2003 in letzter Sekunde vom Vermitt- lungsausschuss in den Gesetz-

entwurf eingefügt wurde, räumt den Krankenhausträ- gern eine zweijährige Über- gangszeit ein, um neue Ar- beitszeitmodelle zu entwik- keln. Diese Frist endet am 31.

Dezember dieses Jahres. Geht es nach dem Bundesrat, wird sie um ein weiteres Jahr ver- längert.

Bis auf weiteres gilt es also, die eben ange- brochenen 24 Stunden durchzustehen.

Die Am- bulanz ist tagsüber besetzt, so- dass ich mich wie an einem normalen Arbeitstag bis 16.30 Uhr der Stationstätigkeit wid- men kann. Um 16.45 Uhr klopft es an die Tür des Am- bulanzzimmers. Frau Kraft, von der Kollegin in der nahe gelegenen Universitätsklinik zur Aufnahme angemeldet, steht in Begleitung ihres Man- nes vor der Tür. Ich beschrei- be ihr den Weg zur Station.

Der Pförtner ruft an: Neben ihm steht eine Frau und möch- te ihren Sohn abgeben. Sie wisse sich nicht mehr zu hel- fen, er spreche den ganzen Tag mit sich selbst. Seit Tagen ge- he es schon so, heute sei er endlich bereit, sich im Kran- kenhaus behandeln zu lassen.

Ich veranlasse die Aufnahme.

Dann mache ich mich auf den Weg, um mit Frau Kraft zu sprechen. Sie hat ihre Ge- schichte schon ein paarmal er- zählt: Als ihr Mann heute nach einem heftigen Streit die Trennung angekündigt hat, sei sie „durchgedreht“ und habe ihm die Autoreifen aufge- schlitzt. Sie hat Angst, sich selbst oder ihm etwas anzu- tun, kann nicht mehr für sich garantieren. Auf mich wirkt sie gefasst, das Brodeln unter der Oberfläche ist kaum spür- bar. Allein durch die Aufnah- me ist sie deutlich entlastet.

Als ich sie nach dem Datum frage, wird sie unsicher: „Ich bin doch nicht verrückt.“

Der Pförtner teilt mit, dass Frau Los und Herr Toll gerade an seinem Häuschen vorbei- gefahren seien. Die Sanitäter bringen sie direkt auf die zu- ständige Station. Station drei fragt, wo ich bleibe – Herr Kant, der junge Mann von der Pforte, ist mit seiner Mutter inzwischen dort eingetroffen.

Ich verspreche, bald zu kom- men, und sage, dass die Mutter nicht auf mich zu warten brau- che. Station elf fragt, was sie machen sollen: Herr Zank ist im Isolierzimmer auf die Idee gekommen, sein Bett als

Rammbock zu benutzen und damit die Zimmertür aufzu- brechen. Durchs Telefon höre ich das Getöse, es fällt schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Keinesfalls könne man ihn da herauslassen, fällt der Pfleger mir ins Wort, er habe heute versucht, das Stations- klavier anzuzünden. Ich emp- fehle, begütigend auf ihn ein- zuwirken, ihm, wenn möglich, eine beruhigende Arznei an- zubieten.

Es ist 19 Uhr.

Station fünf fragt, was sie ma- chen sollen: Frau Mund möch- te sofort mit einem Arzt spre- chen und entlassen werden.

Aufgrund eines Gerichtsbe- schlusses ist sie zur Behand- lung untergebracht – eine Ent- lassung scheidet daher aus. Ich verspreche, so rasch wie mög- lich zu kommen, und spurte auf Station drei. Herr Kant, der junge Mann, läuft mit halb heruntergelassener Hose er- regt im Stationszimmer auf und ab und schaut mich ver- ängstigt an. Er hat LSD und Cannabis zu sich genommen.

Ohne Punkt und Komma re- det er von der Matrix und dem Abgrund, den er endlich ent- deckt habe. Auf die linke Brust hat er sich eine Ziel- scheibe tätowieren lassen,

„damals, von Hans Lackfluss, in Unna. Ich habe dem ein

Foto:laif

Wenn die Müdigkeit durchschlägt

Chronologie eines 24-Stunden-Dienstes

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Gutachten geschrieben, damit er als Künstler in eine andere Steuerklasse kommt, wissen Sie. Weil ich diese Zielscheibe über dem Herzen trage, bin ich noch nie getroffen wor- den. Und auf mich ist schon oft geschossen worden.“ Er ist schon mehrmals in Behand- lung gewesen, die Pfleger ken- nen ihn. Schließlich nimmt er ein angstlösendes Medika- ment und beruhigt sich etwas.

Der Pförtner meldet einen Anruf: Die Polizei hat Frau Nott an den Bahngleisen auf- gegriffen. Sie hat angekün- digt, sich umzubringen, der zuständige Polizeiarzt hält sie für nicht gewahrsamsfähig.

Ich mache ein paar Notizen und wende mich dann Frau Los zu. Sie habe ihr Leben nicht mehr im Griff, sei am Arbeitsplatz belästigt wor- den, und nun habe man ihr auch noch gekündigt. Auch die junge Frau ist froh, erst mal im Krankenhaus zu sein.

Auf Station zwei wartet Herr Toll. Passanten haben ihn al- koholisiert, verwirrt und bar- fuß in der Stadt aufgegriffen und in eine Arztpraxis ge- bracht. Auch er war schon oft in stationärer Behandlung und gilt in den ersten Tagen als unberechenbar. Im Isolier- zimmer hat er sich neben der Matratze auf den Boden ge- legt. Er riecht deutlich nach Alkohol, weiß, wo er ist, kann sich aber überhaupt nicht er- klären, wie und warum er ins

Krankenhaus gekommen ist.

Schließlich legt er sich, meiner Empfehlung folgend, auf die Matratze.

In der gerontopsychiatri- schen Abteilung hat eine Pati- entin nach dem Abendessen viermal erbrochen. Bei der Untersuchung kann ich nichts Beunruhigendes feststellen.

Es ist 21.15 Uhr.

Inzwi- schen ist Frau Nott eingetrof- fen. Mehrmals pro Woche kündigt sie an, sich umzubrin- gen, und erzwingt so die Auf- nahme im Krankenhaus. Ob- wohl ich keine akute Gefähr- dung sehe, nehme ich sie für eine Nacht auf. Als ich mich verabschiede, fragt sie ohne eine Regung: „Wie war noch gleich Ihr Name?“

Die Nachtschwester der Psychotherapiestation teilt mit, dass Herr Lenk nicht aus dem Ausgang zurückgekehrt ist. Wir rekonstruieren den Grund seines Aufenthaltes und stimmen überein, dass er für sich selbst und andere kei- ne Gefahr darstellt – eine Fahndung wäre demnach nicht angemessen. Der Pfört- ner meldet erneut zwei Anru- fe: Eine junge Frau weiß nicht mehr weiter, sie hat Angst zu sterben. Bereits viermal war sie in der vergangenen Wo- che beim Notarzt. Ich versu- che, mit ihr herauszufinden, wie sie mit ihren Ängsten so umgehen kann, dass sie die Nacht übersteht, und biete ei- nen Ambulanztermin am nächsten Tag an. In der zwei- ten Leitung wartet die Kolle- gin aus der Uniklinik: Herr Rand ist heute nach einem halben Jahr aus dem Gefäng- nis entlassen worden und hat sich unverzüglich Bier und Schnaps in großer Menge einverleibt. Die Heilsarmee hat ihn in die Uniklinik ge- bracht – Herr Rand ist kräf- tig gebaut, und unter Ein- fluss alkoholhaltiger Geträn- ke kann er sehr unangenehm werden. Im Krankenhaus an- gelangt, ist er jedoch fried- lich wie ein Lamm und, wie es scheint, beinahe froh, „da- heim“ zu sein – ist doch im Lauf der Jahre die Klinik so etwas wie eine Heimat für ihn geworden.

Gerade habe ich mich ins Bereitschaftszimmer zurück- gezogen, da klingelt erneut das Telefon: Ein Mann klagt über Angst, weiß nicht, was er machen soll. Beim niederge- lassenen Psychiater war er schon lange nicht mehr. Ich frage ihn, ob er Freunde oder eine Freundin habe, und er antwortet: Ja, eine Freundin habe er schon, aber die sei jetzt bei sich daheim; und um diese Zeit rufe er sie nicht so gern an, weil sie ja morgen wieder arbeiten müsse. Mei- ner Empfehlung, morgen sei- nen Psychiater aufzusuchen, folgt er erleichtert, beinahe gut gelaunt.

Es ist 0.00 Uhr.

Ich lege mich aufs Bett und stelle den Fernseher an.

„Harry meint es gut mit dir“

läuft im Zweiten. Immerhin, denke ich matt. Doch der an- gebliche Wohltäter entpuppt sich bald als psychotische Zeitbombe. Ich gehe vor die Tür. Im Park ist es still, man hört bloß ein paar Zweige ra- scheln. Eine Nachtschwester aus der Gerontopsychiatrie bittet mich zu kommen: Eine Patientin ist auf dem Weg zur Toilette gestürzt und hat Schmerzen im rechten Bein.

Als ich mich der alten Dame als Dienstarzt vorstelle, sagt sie: „Also Sie sind jetzt mein Dienstarzt, hahaha.“ Bei der Untersuchung spricht nichts dafür, dass sie sich etwas ge- brochen hat. Ihre Schmerzen sind erträglich. Sicherheitshal- ber veranlasse ich eine Rönt- genaufnahme für den näch- sten Tag.

Es ist 1.30 Uhr.

Eine Flasche Wasser leere ich in wenigen Schlucken. Die junge Frau, mit der ich vor drei Stunden telefoniert habe, hat ihre Todesängste nicht mehr ausgehalten und muss aufge- nommen werden. Als ich ihr gegenübersitze, wirkt sie weni- ger verängstigt, als ich erwar- tet habe. Klar und bestimmt äußert sie, wie sie sich ihre weitere Behandlung vorstellt.

Gegen 3.00 Uhr bin ich entschlossen, mich durch nichts mehr vom Schlafen abhalten zu lassen.

Doch ich habe die Rechnung ohne Frau Hart ge- macht. Sie ist daheim durchge-

dreht, wie sie selbst es nennt, und hat ein Messer nach ihrem Freund geworfen. Aus Angst, dass sie jemanden umbringen könnte, hat sie die Polizei ge- rufen und sich einweisen las- sen. Im Aufnahmegespräch bestätigt sie unaufgefordert und mit vor Zorn blitzenden Augen, dass sie jederzeit wie- der durchdrehen werde. „Jetzt bloß kein falsches Wort“, den- ke ich, da klingelt erneut das Telefon: Frau Luft ist von der Polizei barfuß in der Stadt auf- gegriffen worden. Auch sie ist schon oft stationär behandelt worden. Sie ist nicht bereit, mit mir zu sprechen, setzt sich auf einen Stuhl mitten im Stati- onszimmer und wendet mir den Rücken zu. Auf meine Fragen antwortet sie kurz und schnippisch: In Stockdorf ha- be sie die Bäume gezählt, das sei doch nicht verboten. Im Dunkeln sei das viel leichter, und im Übrigen müsse sie bis acht damit fertig sein. Mitte fünfzig und von zierlicher Ge- stalt, strahlt sie eine Kraft und Energie aus, über die ich seit Stunden nicht mehr verfüge.

Um 5.30 Uhr falle ich in einen komaähn- lichen Schlaf,

aus dem mich kurz vor acht das Klin- geln des Weckers reißt. Als ich in der Ambulanz die Da- ten der aufgenommenen Pa- tienten in den Computer ein- tippe, klopft es an der Tür.

Zwei Patienten, mit denen ich für heute einen Aufnah- metermin vereinbart habe, sind eingetroffen. Die Se- kretärin leitet sie an die Sta- tionen weiter.

Nach dem Übergabebe- richt warte ich am Bahnhof auf den Zug. Ein junger Mensch stellt sich mir als „Ob- mann der polymorph-perver- sen Klinik“ vor. Er trägt an je- dem Handgelenk eine Arm- banduhr, die Unterhose über der Überhose und auf dem Glatzkopf einen Hut aus sie- ben großen, bunten Kämmen.

Mit trunkener Geste weist er auf das Bahnhofshaus: „Also, ich finde, dieses Gebäude ist ein Statement.“ Oder ha- be ich mir das vor lauter Übermüdung bloß eingebil- det?Dr. med. Christof Goddemeier S T A T U S

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