[112] Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 103⏐⏐Heft 22⏐⏐1. Juni 2007
S C H L U S S P U N K T
E
s ist Freitagnachmittag, und Frau Meier aus der kleinen Bauernschaft X sagt, natürlich auf Platt, zu ihrer Schwiegertochter: „Nun musst du doch mal den Doktor holen, das ist nicht gut mit meiner Luft.“ Dr. K.ist zwar nicht begeistert, so kurz vor Feierabend, fährt aber dennoch bei Frau Meier vorbei. Schließlich ist er schon seit mehr als 15 Jahren ihr Hausarzt und weiß, dass Frau Meier etwas herzschwach ist, und außerdem ging er mit ihrem Sohn zur Schule. Blutdruck, Lunge, alles ist im grünen Bereich. Frau Meier ist sehr ängstlich geworden, erst recht, seit ihr Mann vor zwei Jahren starb. Dr. K. beruhigt sie, gibt ihr noch zwei Kapseln für den Notfall und, weil er weiß, dass Frau Meier sowieso nicht den Notdienst anrufen würde, seine Handynum- mer. Er weiß, dass die ältere Dame diese nur in äußerster Not benutzen würde. Für Montag verabredet er einen Termin mit ihr in der Praxis. So weit, so gut, Patientin und Familie sind beruhigt, Dr. K. geht ins Wochenende, und Montag geht es Frau Meier schon viel besser. Die Kapseln hat sie nicht gebraucht.
Zwei Jahre später: Frau Meyer ist noch etwas älter, wieder Freitagnachmittag, wieder die Luft. Und seit dem letzten Krankenhausaufenthalt ist das Gehen noch schlechter geworden. Die Schwiegertochter ruft den Arzt an. Nein, nicht mehr Dr. K., der hat seine Praxis ge-
schlossen, eine von seinen Helferinnen sitzt jetzt immer an der Kasse im Supermarkt. Wo die anderen netten Mädchen geblieben sind, weiß man bei Meyers nicht.
Dr. K. selbst soll jetzt immer alle zwei Wochen in Eng- land sein, Dienst machen, weil dort die Ärzte knapp sind. Wird gut bezahlt, sagt man. Die Schwiegertochter muss jetzt im Medizinischen Versorgungszentrum (MVZ) anrufen. Dort sitzen alle Ärzte unter einem Dach. Aber dafür mehr als 20 Kilometer weit weg. Im MVZ sagt die Schwester, momentan kann kein Arzt rauskommen. Da sind noch 50 Leute in der Sprechstun- de, und Hausbesuche sind auch schon bis spät in die Nacht angenommen. Ob Frau Meyer nicht kommen könnte. Sonst müsste ein Rettungswagen kommen, um sie gleich ins Krankenhaus zu bringen.
Frau Meyers Sohn muss vorzeitig von der Arbeit kommen, zusammen mit einem Nachbarn wird die schweratmige Mutter ins Auto gehievt, vom Zerren und Ziehen tun ihr jetzt auch noch die Arme und das Kreuz weh. Endlich im MVZ angekommen, heißt es, Persona- lien anzugeben. An die Versichertenkarte hat keiner ge- dacht, Sohn Meier muss zurück, sie nachholen. Als Frau Meyer endlich dran ist, hat sie einen knallroten Kopf, der Blutdruck ist zu hoch, die Luft noch knapper. Dr. V., der junge Arzt, der hier Dienst macht, um sein mageres Assistentengehalt aufzubessern, ist zwar nett, aber von Haus aus Chirurg. Mit Herz und Blutdruck ist das so ei- ne Sache. Erst mal Röntgen, beschließt er, dann noch Blutabnehmen, in der Zwischenzeit kann man ja noch ein wenig nachlesen. Als Frau Meyer den jungen Doktor zwei Stunden später wiedersieht, hat sie blaue Lippen und er Schweißperlen auf der Stirn.
Im Zweifelsfall hier bleiben, beschließt der junge Doktor und schickt Frau Meyer auf die Station. Die nächsten zwei Tage passiert nicht viel, Wochenende, Frau Meyer sieht vier verschiedene Ärzte, aber alle nur ganz kurz. Ab Montag volles Programm, noch mal Röntgen, Blut, Herzuntersuchungen, vier Tage später ist nichts Neues dabei herausgekommen. Freitagmittag wird Frau Meyer entlassen, alle Untersuchungen sind gemacht, länger wird das Krankenhaus bei den vorlie- genden Krankheiten nicht bezahlt. Wieder ins Auto ge- hievt, wieder Schmerzen im Kreuz und in den Schul- tern, ach ja, die Luft ist immer noch schlecht, aber zu- mindest weiß Frau Meyer jetzt, dass daran nichts zu ma- chen ist. Eins hat Familie Meyer gelernt: Das nächste Mal geht es besser ohne Arzt. Der Doktor K. hätte das sicher gleich gewusst. Aber der ist ja nun bei den Engländern . . .
Eine Horrorstory? Vielleicht. Aber keine erfundene.I Dr. med. Hermann Brands
ARZTGESCHICHTE
Eine kleine Episode von heute und morgen
„Eins hat Familie Meyer gelernt:
Das nächste Mal geht es besser ohne Arzt. Der Dr. K. hätte das sicher gleich gewusst.“
Zeichnung:Elke Steiner