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14. November 2014STUDIEN IM FOKUS
Der septische Schock ist eine le- bensbedrohliche Erkrankung, die Krankenhaussterblichkeit liegt bei circa 60 %. Eine frühe, auf das Erreichen bestimmter Zielwerte aus- gerichtete Therapie (early goal-di- rected therapy, EGDT) ist eine Stra- tegie, die seit einer 2001 publizier- ten monozentrischen proof-of-con- cept-Studie (1) durchaus praktiziert wird, obwohl die Studie metho- disch kritisiert wird. In der kürzlich veröffentlichten multizentrischen ProCESS-Studie aus den USA konnten die früheren Daten inso- fern nicht bestätigt werden, als EGDT die Mortalität nicht senkte (2). Nun gibt es eine weitere Studie für EGDT versus Standardtherapie (3). EGDT wird definiert als ag- gressives Monitoring mit Hilfe ei- nes zentralen Venenkatheters, über den zentraler Venendruck, venöse Sauerstoffsättigung und arterieller Mitteldruck engmaschig kontrol- liert werden, um bei Abweichen von Zielwerten über Medikamente, Erythrozytenkonzentrate oder Volu- menersatzmittel einem hämodyna- misch ungünstigen Verläufen früh- zeitig entgegenzuwirken. Teilge- nommen haben 1 600 Patienten an 51 Kliniken in Australien und Neu- seeland. Diese wurden in zwei Be- handlungsarme randomisiert: ent- weder EGDT oder eine intensiv - medizinische Standard behandlung.
Verglichen wurden Mortalität, Dau- er des Krankenhausaufenthalts und mögliche Komplikationen.
Primärer Endpunkt der Studie war die Mortalität der Patienten binnen 90 Tagen. Zwischen der EGDT- und der Standardgruppe konnten die Forscher keine Unter- schiede in der Mortalität feststel- len (18,6 versus 18,8 %; p = 0,90).
28-Tages-Mortalität, Aufenthalts- dauer, Komplikationen und zusätz- liche Parameter wie Beatmungs- dauer oder Dialysehäufigkeit konnten trotz des aggressiveren
Therapieschemas nicht signifikant gesenkt werden. Auch Subgrup- penanalysen, die die Schwere der Sepsis miteinbezogen, ergaben keine Unterschiede. Ob eine An- passung des Protokolls mit verän- derten Zielwerten das Ergebnis verbessern könnte, bleibt offen.
Fazit: „Der fehlende Effekt der EGDT in den Studien ARISE und ProCESS verdeutlicht erneut, dass der Benefit einer intensivmedizini- schen Intervention einer originär monozentrischen Studie in einem multizentrischen Setting verloren gehen kann“, kommentieren die In- tensivmedizimer PD Dr. med. Hol- ger Herff und Prof. Dr. med. Bernd Böttiger von der Universitätsklinik Köln. „Wenig überraschend ist, dass eine in der Sepsis nach drei Stun- den begonnene und sechs Stunden dauernde Therapie wie in ARISE nicht den entscheidenden Erfolg bringt. Auch wurde in beiden Ar- men teilweise ähnlich behandelt, zum Beispiel mit 4 479 versus 4 403 mL Infusionen in den ersten neun Stunden. Kritisch sehen wir bei EGDT die vermehrte Anwen- dung von Dobutamin und anderen Katecholaminen. Es gibt zuneh- mend Hinweise auf die Schädlich- keit adrenergen Stresses bei septi-
schen Patienten. Ebenso kritisch se- hen wir das liberalere Transfusions- regime in den EGDT-Armen: viel- leicht auch dies ein Grund für ten- denziell mehr ,adverse Events‘. Aus unserer Sicht ist eine frühe, strin- gente, multifaktorielle und durchaus auch aggressive Sepsistherapie wei- ter essenziell. Die ,eine‘ singuläre Strategie war und ist nicht in Sicht.“
Dr. rer. nat. Nicola Siegmund-Schultze SEPTISCHER SCHOCK
Nutzen aggressiver früher Therapien bleibt kontrovers
Häufig leiden Patienten mit einem Schleudertrauma der Halswirbelsäu- le (HWS) länger als sechs Monate an Symptomen. Bis zu 30 % berich- ten über mittelschwere bis schwe- re Schmerzen und Funktionsbeein- trächtigung. In einer australischen Studie wurde nun randomisiert un- tersucht, wie ein aufwendiges Phy- siotherapieprogramm im Vergleich
zu Beratung und Aufklärung wirkte.
In die PROMISE-Studie wurden 172 Patienten eingeschlossen, die nach einen Schleudertrauma mehr als drei Monate und weniger als fünf Jahre unter chronischen Schmerzen litten. Randomisiert wurden sie mit einem umfangreichen Physiothera- pieprogramm in 20 einstündigen Sitzungen über zwölf Wochen oder CHRONISCHES HWS-SCHLEUDERTRAUMA
Intensive Physiotherapie ist nicht besser als Beratung
GRAFIK
Überleben von Patienten mit septischem Schock, denen gene- rell ein zentraler Venenkatheter für Monitoring und Therapie gelegt wurde (EGDT), oder die die Standardtherapie erhielten
Überlebenswahrscheinlichkeit
Tage seit Randomisierung 1,00
0,75
0,50
0,25
0,00
0 30 60 90 EGDT
Standardtherapie
Patienten im Risiko
EGDT 792 677 660 646
Standard 796 670 657 646
modifiziert nach: N Eng J Med 2014; DOI 10.1056/NEJMoa1404380
1. Rivers E, et al.: Early goal-directed therapy in the treatment of severe sepsis and septic shock. N Engl J Med 2001; 345: 1368–77.
2. The ProCESS Investigators: A randomized trial of protocol-based care for early septic shock. N Engl J Med 2014; 370: 1683–93.
3. The ARISE-Investigators and the ANZICS Clinical Trials Group: Goal-directed resusci- tation for patients with early septic shock.
N Engl J Med 2014; 371: 1496–506.
M E D I Z I N R E P O R T
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14. November 2014 Das diabetische Makulaödem(DMÖ), Folge einer Dysfunktion der Blut-Retina-Schranke, der Bil- dung von Mikroaneurysmen und anderen mikrovaskulären Schädi- gungen im Rahmen eines Diabetes mellitus, ist die häufigste Erblin- dungsursache bei Erwerbstätigen.
Die Standardbehandlung des DMÖ war seit der als „Landmark“ gelten- den Early Treatment Diabetic Reti- nopathy Study (ETDRS) aus der Mitte der 1980er Jahre die fokale Laserkoagulation. Der Ansatz ist in den letzten Jahren zugunsten intra- vitrealer Injektionen von VEGF-
(vascular endothelial growth factor-) Inhibitoren in den Hintergrund ge- treten.
Die Strategien sind in zwei ver- gleichbar konzipierten, doppelblin- den Phase-III-Studien (VISTA und VIVID) verglichen worden. Bei insgesamt 872 Patienten mit DMÖ als Folge eines Typ-1- oder eines Typ-2-Diabetes wurde auf jeweils einem erkrankten Auge entweder eine Laserkoagulation durchgeführt oder mit dem Wirkstoff Aflibercept behandelt. Er hat eine deutlich hö- here Bindungsaktivität gegenüber VEGF-A aufgewiesen als andere Inhibitoren dieses Moleküls. Afli- bercept wurde über die Beobach- tungsdauer von einem Jahr in einer Dosis von 2 mg (2q4) entweder alle vier Wochen oder alle acht Wochen nach fünf initialen monatlichen Do- sierungen (2q8) injiziert.
Mit intravitrealen Applikationen ließen sich an den behandelten Au- gen funktionell wie anatomisch deutlich bessere Ergebnisse erzie- len: Nach 52 Wochen hatten Patien- ten unter Aflibercept-Therapie in den beiden Studien einen durch- schnittlichen Visusgewinn entwe- der von 12,5 bzw. 10,5 Zeichen auf den ETDRS-Sehtesttafeln im 2q4-Behandlungsschema oder von jeweils 10,7 Zeichen bei 2q8-Gabe – die mit Laser behandelten Augen
verzeichneten eine Visusverbesse- rung von lediglich 0,2 oder 1,2 Zei- chen. Eine substanzielle Verbesse- rung der Sehschärfe um 15 Zeichen oder mehr wurde bei 41,6 % der be- handelten Augen in der VISTA -Studie und 32,4 % der behandelten Augen in der VIVID-Studie beim Schema 2q4 erzielt, bei 31,1 % (VISTA) und 33,3 % (VIVID) unter dem Schema 2q8 und bei 7,8 % (VISTA) und 9,1 % (VIVID) nach Laserkoagulation erzielt. Auch die Abnahme der mittleren Makuladi- cke (ein Zeichen der morphologi- schen Erholung) war unter Afliber- cept deutlicher ausgeprägt und lag in der Größenordnung um 190 μm gegenüber etwa 70 μm nach Laser- behandlung.
Fazit: „Die Studienergebnisse be- legen, dass Aflibercept ein wirk - sames und sicheres Anti-VEGF- Präparat ist, das die Therapiemög- lichkeiten für Betroffene sinnvoll erweitert und Seheinschränkung bei Diabetikern verhindern kann“, kommentiert Prof. Dr. med. Frank G. Holz, Direktor der Universi- tätsaugenklinik Bonn. Weltweit und auch in Deutschland nehme die Inzidenz des Diabetes mellitus zu. Das diabetische Makulaödem sei eine Hauptursache für Sehver- lust. Dr. med. Ronald D. Gerste Korobelnik JF, et al.: Intravitreal Aflibercept for diabetic macular edema. Ophthalmology 2014, online publiziert am 8. Juli. DOI:
10.1016/j.ophtha.2014.05.006.
GRAFIK
Zugewinn in der Sehfunktion um mindestens 15 Buchstaben im ETDRS-Sehtest bis Woche 52
Anteil der Patienten mit best korrigiertem Visus (%)
Laserkoagulation 2 mg Aflibercept pro 4 Wochen
2 mg Aflibercept pro 8 Wochen *** p < 0,0001 100
80
60
40
20
0
VISTA VIVID
modifiziert nach: Ophthalmology 2014
7.8 41.6***
31.1***
9.1
32.4*** 33.3***
DIABETISCHES MAKULAÖDEM
Aflibercept der Lasertherapie deutlich überlegen
mit einem einmaligen Aufklärungs- und Beratungsgespräch sowie wei- teren telefonischen Kontakten be- handelt. Bei der einmaligen 30-mi- nütigen Beratung lasen die Patien- ten eine Broschüre zu ihrer Erkran- kung und übten die dort empfohle- nen Übungen unter Anleitung eines Physiotherapeuten. Offene Fragen wurden geklärt. Wenn die Patienten weiteren Beratungsbedarf hatten, konnten sie den Physiotherapeuten zweimal telefonisch kontaktierten.
Die Übungen konnten sie nach ei- genem Ermessen ausführen.
Primärer Endpunkt der Studie war die Schmerzintensität, gemes-
sen durch einen verblindeten Un- tersucher mit Hilfe einer 10-Punk- te-Skala zu Beginn der Studie, nach 14 Wochen, sechs und zwölf Monaten. Durch die intensive Phy- siotherapie wurden jedoch die Schmerzen nicht stärker gelindert als durch die alleinige Beratung der Patienten. Auch keiner der sekun- dären Endpunkte wurde durch die intensive Physiotherapie stärker ver bessert als in der Vergleichs- gruppe. Möglicherweise ist die Komplexität der Erkrankung mit zentraler nozizeptiver Übererreg- barkeit und posttraumatischen Stresssymptomen eine Erklärung
für die fehlende Wirkung der inten- siven Physiotherapie.
Fazit: Bei Patienten mit chronischen Schmerzen nach einem Schleuder- trauma wirkt Aufklärung und Bera- tung ebenso gut wie eine intensive und damit kostspielige Physiothera- pie. Allerdings ist noch unklar, wie Auf klärung und Beratung am sinn- vollsten durchgeführt werden, da- mit der Patient den optimalen Nut- zen hat. Dr. rer. nat. Susanne Heinzl
Michaleff Z, et al.: Comprehensive physiothe- rapy exercise programme or advice for chronic whiplash (PROMISE): a pragmatic randomized controlled trial. Lancet 2014; 384: 133–41.