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in estnischer Land- arzt, Friedrich Rein- hald Kreutzwald, hat das Versepos „Kale- vipoeg“ (Kalevs Sohn) geschaffen, das jetzt in einer Neuausgabe veröffentlicht wurde.Kreutzwald – das ist der eingedeutschte Na- me des finnischstäm- migen Schustersohnes Vidri Rein Ristimets – hat auf der Suche nach Zeugnissen der alten Volkspoesie Estlands die überlieferten Ge- sänge zu einem viel- farbigen literarischen Textil verbunden. Ne- ben der dokumentie- renden Sammlung ist Kreutzwald auch die dichterische Leistung gelungen, die alten Formen mit neuen, dem Volkston konge- nial erdachten Versen in eine epische Gesamtgestalt zu flechten. Wegen seiner tiefen Verwurzelung im kollektiven Unbewussten eines gerade erst befreiten Volkes hat das erstmals 1853 publizierte Werk auch eine identitätsstiftende Wirkung für das estnische Na- tionalbewusstsein haben kön- nen, was nach der osteuropäi- schen Wende seine Aktualität für die Esten ausmacht.
Das „Kalevipoeg“ ebenso wie das von dem finnischen Landarzt Elias Lönnrot zu- sammengewobene finnische Nationalepos „Kalevala“ (DÄ, Heft 11/2002) sind beeindruk- kende Belege der Volksdich- tung und der vorgeschichtli- chen Wurzeln der poetischen Kultur Nordeuropas.Während das finnische „Kalevala“ die mythische Vorzeit und das psy-
chische Näheverhältnis der Menschen zu den schon perso- nifizierten, doch noch weit- gehend magisch-animistischen Göttern besingt, beschreibt das
„Kalevipoeg“ in der dichteri- schen Gestaltung seines Mate- rials durch Kreutzwald eine Suchfahrt des Helden. Das Versepos stellt am Beispiel des
Helden Kalevipoeg einen Entwicklungs- schritt der Mensch- heit von der magisch- mythischen (und da- mit unbewussten) Ver- bundenheit mit dem Kosmos zu einem sei- ner selbst bewusst werdenden und damit verantwortlichen in- dividuellen Menschen dar. In seinem For- scherdrang, das Ende – die äußerste Grenze – der Welt zu finden, erfährt er die Endlo- sigkeit der Welt und die Begrenztheit sei- ner Existenz.
Zweimal entschließt sich Kalevipoeg frei- willig – nicht durch übermächtige Schick- salsgestalten und durch tragische Verwicklung genötigt – zur Fahrt in die Unterwelt, um das Böse zu besiegen. Der Willensakt markiert den Beginn einer psychischen Entwicklung: Die- se Höllenfahrt führt zur Begeg- nung mit dem eigenen, noch nach außen projizierten Schat- ten und der Wut als destrukti- vem Affekt. Sie ist als Nacht- fahrt der Seele psychologisch
und nicht nur dramaturgisch notwendig, damit die destrukti- ven Kräfte „besiegt“ werden können. Für Kalevipoeg ist der Erfolg aber nicht die „Ver- nichtung der Kräfte des Bö- sen“, sondern ein integrieren- der Akt, der die „bösen“ – le- bensfeindlichen,destruktiven – Kräfte ins Bewusstsein auf- nimmt und sie so bändigt.
Dies entspricht der Forderung Freuds „Wo Es war, soll Ich werden!“ Indem der Held sich seiner Verantwortung bewusst wird und sie mutig übernimmt, gewinnt er eine selbstbewuss- te Haltung gegenüber dem Schicksal. Analog zu Freuds Postulat könnte man formulie- ren: Wo tragische Verstrickung war, wurde Verantwortung.
Diesem Aspekt des Epos wird der dem Buch angefügte Aufsatz von Prof. Dr. med.
Peter Petersen gerecht, der sich als Psychoanalytiker mit den entwicklungspsychologi- schen Aspekten dieses litera- rischen Dokuments auseinan- der setzt. Dabei sind ihm die den psychoanalytischen Hori- zont erweiternden Denkwei- sen von Erich Fromm und der phänomenologischen Philo- sophen wie Husserl und Mer- leau-Ponty hilfreich. So ge- langt Petersen zwischen ana- lytischen und imaginativen Annäherungen feinsinnig und behutsam pendelnd zu einer ganzheitlichen Sicht des Wer- kes. Es ist für ihn ein Beispiel für die Bildung von Bewusst- heit und humanem Gewissen und zugleich eine Mahnung an die heutigen Menschen zur Umsetzung der ökologischen Verantwortung gegenüber den destruktiven Kräften der Welt. Walter Dmoch V A R I A
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A2108 Deutsches ÄrzteblattJg. 102Heft 3029. Juli 2005
Kalevipoeg
Die Endlosigkeit der Welt
Das estnische Nationalepos ist eine beeindruckende Dokumentation der poetischen Kultur Nordeuropas.
Feuilleton
Potsdam
Museum der besonderen Art
Zu einem Sommerspazier- gang lädt der Lennésche Garten in Potsdam mit zur- zeit 500 rekultivierten Obst- gehölzen ein. Die Erholung
lässt sich dann noch mit Kul- tur und Bildung verbinden:
Die Potsdam Stiftung hat unter Leitung von Dr. Kre- mer in der Kolonie Alexan- drowka nach eigenen Anga- ben „ein Museum der beson- deren Art entstehen lassen“.
Das unter Denkmalschutz stehende Haus präsentiert sich seit Januar mit einer Dauerausstellung, die ein-
zelne Aspekte zur wechsel- vollen Geschichte der Kolo- nie Alexandrowka zeigt.
„Die Besucher gewinnen ei- nen Einblick in die histori- schen Zeugnisse, die politi- schen Rahmenbedingungen der Zeit um 1826 bis heute.“
Führungen lassen sich tele- fonisch buchen unter 03 31/
8 17 02 03. Infos: www.alex
androwka.de. EB
Johann Köhler: Porträt von Friedrich Reinhald Kreutzwald, Öl auf Leinwand, 1864
Foto:The Art Museum of Estonia