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Archiv "Gesundheitspolitik: Honorierung und Krisenmanagement" (17.01.1997)

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D

ie „Angemessenheit“ war stets ein unbestimmter Rechtsbegriff, wie er im Sozi- algesetzbuch (SGB) oft vor- kommt. Während sonst die Sozialge- richte bei der Klärung von Rechts- auslegungen meistens hilfreich ge- wesen sind – wenn auch nicht immer zur Freude der zahlungspflichtigen Krankenkassen –, haben sie sich bei der Definition des Begriffs der „An- gemessenheit“ der Vergütung der ärztlichen Leistungen hinter dem Vertragsgegenstand „Gesamtvergü- tung“ in Sicherheit gebracht. Bezieht sich aber die „Angemessenheit“ auf die Gesamtvergütung, sind es die Elemente, aus denen die Bewertung der ärztlichen Leistung abgeleitet wird – der Bewertungsmaßstab und die Honorarverteilungsmaßstäbe (HVM) –, die zur Manövriermasse einer Angemessenheit der Leistungs- vergütung im einzelnen werden.

Zur Zeit gibt es keine stabilen Leistungspreise für die ärztliche Be- handlung von Versicherten der ge- setzlichen Krankenkassen (GKV).

Die „Honorargerechtigkeit“, die von den Ärzten gefordert und die von den Patienten erwartet wird, ist nicht einmal in den Durchschnitts- bewertungen zu garantieren, in de- nen sich der Preis-Leistungs-Bezug in der Vergütung vertragsärztlicher Behandlungen ohnehin aufgelöst hat. Der „Wirtschaftsbereich Ge- sundheit“ mit leistungsbezogenen Bewertungen der ärztlichen Arbeit ist zugunsten anderer Bereiche der Marktwirtschaft in einen „Sonder- markt“ mit zugeteilten Ressourcen

verwandelt worden. An die Stelle von Marktregeln, in denen sich so- ziale Unterschiede auswirken kön- nen, tritt in einem künstlich begrenz- ten, sozial finanzierten Anteil der Gesamtwirtschaft die Verteilung mit der immanenten Forderung nach

„Verteilungsgerechtigkeit“. Diese Variante einer Gerechtigkeit ist für den einen gerecht, für den anderen ungerecht, weil Leistung subjektiv besetzt ist und ihr Erfolg zumindest in der Patientenbehandlung nur sel- ten vergleichbar ist. Es ist ähnlich wie mit dem politischen Begriff ei- ner „sozialen Gerechtigkeit“, der

„Gerechtigkeit“ als ordnenden Rechtsbegriff unbrauchbar gemacht hat. Jeder kann ihn zum eigenen Vorteil drehen und wenden.

Krankenversicherung auf Markt getrimmt?

Zur Zeit läuft in der Gesetzge- bung der Versuch, aus dem GKV-Sy- stem einen sozial finanzierten, ge- schützten Marktbereich zu formen.

Im Rahmen von Selbstverwaltungs- vereinbarungen sollen sich Wettbe- werbselemente ordnend und qua- litätsfördernd auswirken und dabei die Vorteile einer pluralistischen Wirtschaftsstruktur nutzen: mit Freiberuflern, selbständigen Ge- sundheitsberufen, Handwerkern und mit im eigenen wie im Patien- ten-Interesse sparsam arbeitenden Krankenhäusern.

Da aber der politische Macht- kampf nicht entschieden ist zwi-

schen denen, die ein sozialistisches Gesundheitswesen in seiner Funkti- on als Herrschaftsinstrument in ei- nem entscheidenden Lebensbereich der Bürger unbedingt erhalten wol- len, und denen, die überall in der Gesellschaft soviel Freiheit und Ver- antwortung wie möglich wirksam werden lassen wollen, ist es Sache der Ärzte, ihre Option für eine qua- lifizierte, persönliche und humane Krankenversorgung offenzuhalten.

Unter so instabilen politischen Ver- hältnissen gerät die Vorstellung von einer Honorargerechtigkeit für den Arzt zur Utopie. Für die gesamte Berufsgruppe müssen an die Stelle des Kampfes aller gegen alle um die zu geringen Ressourcen gemeinsa- me Überlebensstrategien treten.

Die Konzepte dafür müssen in erster Linie die dem Patienten verantwort- liche Arztrolle festschreiben.

Einheitliche Bewertungsmaß- stäbe und HVM sind Versuche, eine hochentwickelte und effiziente am- bulante Krankenversorgung durch unruhige und finanziell magere Jah- re zu steuern. Mehr sollte von ihnen nicht erwartet werden. In ihrem Rahmen bleibt den Ärzten nur übrig, für die Krankenversorgung das Beste daraus zu machen. Dafür wird ein Krisenmanagement be- nötigt. Denn trotz der Finanzie- rungsdefizite gebietet es der ärztli- che Auftrag, die leistungsfähigen Versorgungsstrukturen zu erhalten.

Dazu haben die Kassenärztlichen Vereinigungen einen gesetzlichen Sicherstellungsauftrag. Sie müssen möglich machen, was weder der ein-

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P O L I T I K LEITARTIKEL

Deutsches Ärzteblatt 94,Heft 3, 17. Januar 1997 (11)

Gesundheitspolitik

Honorierung

und Krisenmanagement

Mit der Einführung von Obergrenzen für die Summe der Vergütung aller Ver-

tragsärzte ist ein wesentliches Ziel der Honorarverträge zwischen Kranken-

kassen und Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) – die angemessene Vergü-

tung der ärztlichen Leistungen – noch schwieriger als früher zu erreichen.

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zelne Arzt noch eine Gruppe von Ärzten zustande bringen kann.

Die Kassenärztlichen Vereini- gungen sind eben nicht nur Honorar- verteilungs- und Verwaltungsbehör- den. Sie sind auch nicht nur dazu da, mit den Krankenkassenverbänden Verträge zu schließen. Sie sind in er- ster Linie eine Genossenschaft von Ärzten, eine ärztliche Organisation, die ermöglichen soll, was ein Ver- tragsarzt auch in finanziell bedräng- ten Zeiten an qualifizierter Kranken- versorgung, unter Einsatz seiner und seiner Kollegen persönlichen und me- dizinisch-technischen Möglichkeiten, für seine Patienten leisten kann.

Die Ärzte in der Krankenversor- gung dürfen in solchen Zeiten nicht gegeneinander streiten. So hervorra- gend ist keiner, daß er durch kollegia- le Zusammenarbeit nicht noch besser werden könnte. Mit ihren Genossen- schaften, den Kassenärztlichen Verei- nigungen, dienen die Ärzte ebenso der Patientenversorgung wie mit ihrer eigenen Arbeit. Organisation, Kom- munikation und Qualitätssicherung sind Gemeinschaftsaufgaben, die nicht jeder für sich aufbauen kann.

Die „Monopolstellung“, die von den volkswirtschaftlichen Dogmatikern lediglich als Marktprivileg beurteilt wird, ist unverzichtbarer Teil einer modernen Arbeitsteilung in der prak- tizierten Medizin. Sie steht deshalb nicht als beliebig austauschbare Ver- tragsvariante zur Disposition.

Es ist notwendig, daß der Gesell- schaft wieder klar wird, daß die per- sönliche Krankenversorgung nicht im Dienste von Krankenkassen oder, von Ausnahmen abgesehen, auch nicht im Dienste des Staates erfolgt, sondern im Dienste der Gesundheit des einzel- nen Menschen. Daran ändert auch der soziale Ausgleich nichts, der durch die Krankenkassenbeiträge oder durch eine Steuerfinanzierung erfolgt. Nicht wer zahlt, schafft an, sondern es ist der Auftrag des Arztes in hippokratischer Tradition, der sich auch in der deutschen Gesetzgebung wiederfindet. Insbesondere die Kran- kenkassen als privilegierte Kassierer von Beitrags-Milliarden scheinen sich nicht immer darüber bewußt zu sein, daß sie dieses Geld verwalten, um in Anspruch genommene Leistungen zugunsten ihrer Versicherten bezah-

len zu können, und nicht dafür, die Versicherten als Nutznießer von Dumping-Preisen einer fragwürdigen Situation auszusetzen. Auch das könnte einmal Anlaß zum Wechsel ei- ner Krankenkasse werden.

Nach ihrem beruflichen Selbst- verständnis können sich die Ärzte nicht ökonomisch fremdbestimmen lassen. Sie müssen jeweils tun, was sie können, nach bestem Wissen und Ge- wissen. Eine Gesellschaft, die dies er- halten will, muß wissen, daß sie dafür Spielräume offenhalten muß. Die Menschen und ihre Schicksale sind verschieden, und aus dieser Verschie- denheit resultiert ein unterschiedli- cher Bedarf an Ressourcen für ihre Heilbehandlung. Das verbietet auch bei Nutzung statistischer Durch- schnitte eine Budgetierung. Ebenso

verbietet sich unter Ärzten ein vor- rangiger Wettbewerb um hohe Ge- winne aus ihrer Berufstätigkeit. Wer darauf nicht verzichten will, sollte ei- nen anderen Beruf wählen. Die hohe Zahl an Interessenten am Arztberuf läßt vermuten, daß dieses Merkmal des Arztberufes nicht allen gegenwär- tig ist.

Die finanzielle und strukturelle Krise in der Krankenversorgung ist mit motivierten und kollegial einge- stellten Ärztinnen und Ärzten jeden- falls eher zu überwinden als mit einem Wettbewerb, bei dem der Arztberuf unter die Räder gerät.

Prof. Dr. med.

Ernst-Eberhard Weinhold Dorfstraße 140

27637 Nordholz A-80

P O L I T I K LEITARTIKEL/AKTUELL

(12) Deutsches Ärzteblatt 94,Heft 3, 17. Januar 1997

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ie Experten eines Diskussi- onsforums der Gesellschaft für Versicherungswissenschaft und -gestaltung e.V. (GVG) in Bonn unter dem Leitthema „Medizi- nischer Fortschritt und Prioritätenset- zung“ stimmten bei der Beurteilung des Status quo des Gesundheitssiche- rungssystems und der gesundheitspo- litischen Diskussion überein: Nicht al- les medizinisch Machbare und Wün- schenswerte ist bezahlbar und über solidarisch organisierte Versicherun- gen abwickelbar. Vielfach überlagert die ökonomische Rationalität immer mehr die Leistungserbringung und die Kostenübernahme. Der Konflikt zwi- schen sozial- und zivilrechtlichen Di- mensionen und Haftungsvorausset- zungen spitzt sich immer mehr zu. Um

so mehr ist es nach Ansicht der Exper- ten der Verbände der Leistungser- bringer im Gesundheitswesen und der Krankenkassen erforderlich, Prioritä- ten zu setzen und dabei sowohl ge- meinschaftsbezogene als auch indivi- duelle Kosten-Nutzen-Abschätzun- gen sorgfältig zu beachten, um gesell- schaftliche Konflikte zu begrenzen.

Andererseits müssen alternative Ver- wendungsmöglichkeiten mit dringli- cherer Priorität und größerem Nutzen ausgelotet werden (Beachtung der sogenannten Opportunitätskosten).

Dies ist auch die Quintessenz eines ebenso kritischen wie unkonventio- nellen Grundsatzbeitrages vor dem GVG-Forum von Prof. Dr. med. Dr.

med. h. c. Michael Arnold, dem ehe- maligen Inhaber einer Stiftungspro-

Medizinischer Fortschritt und knappe Ressourcen

Das Dilemma der Prioritätensetzung

Die Ressourcen-Knappheit in allen Bereichen der sozialen Sicherung und die Dringlichkeit sowie die praktische Unbegrenztheit der Bedürfnisse zur Sicherung der gesundheitlichen Ri- siken und zur Krankheitsbekämpfung zwingen sowohl die Politik als auch die Leistungser- bringer zu einer ständigen Überprüfung der Effizienz des Mitteleinsatzes. Es führt kein Weg daran vorbei, Prioritäten beim Mitteleinsatz unter Beachtung der Effektivität zu setzen.

Darüber waren sich die Experten bei einem Bonner Symposion (im November 1996) einig.

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fessur für Gesundheits-System-For- schung an der Universität Tübingen, dem früheren Vorsitzenden des Sach- verständigenrates für die Konzertier- te Aktion im Gesundheitswesen.

Übereinstimmung unter den Ex- perten des Forums bestand auch dar- in, daß jede Prioritätensetzung eine Form der Rationierung ist. Der Arzt müsse ständig rationieren, also haus- halten mit dem knappen Gut Zeit, der Manpower und den finanziellen eben- so wie den technischen Ressourcen.

Nicht immer und uno actu könnten die Segnungen des medizinischen Fortschrittes in die Alltagspraxis des Arztes implementiert und über solida- risch finanzierte Kassen reguliert wer- den. Allerdings ge-

be es kein Problem, den medizinischen Fortschritt umzu- setzen, wenn dieser gezielt zum Einsatz käme und das Pro- blem der Medizin zu beherrschen wä- re, ihre Vielfältig- keit und relative Beliebigkeit einzu- grenzen. Immerhin gebe es für die Ak- teure im Gesund- heitswesen einen relativ großen Er- messensspielraum,

meinte Dr. med. Eckart Fiedler, Vor- standsvorsitzender der Barmer Er- satzkasse (BEK), Wuppertal, bei dem Bonner GVG-Forum. Inwiefern die Spielräume ausgenutzt werden und tatsächlich zu Ausgabenschüben führen, hänge davon ab, inwieweit der Arzt auf seine Kenntnisse und berufli- chen Erfahrungen zurückgreifen kann und ob er imstande sei, Rationalisie- rung vor Rationierung zu setzen. Es sei dringend erforderlich, auch mit Hilfe von vorgegebenen Standards die Indi- kation effizienter und gezielter zu stel- len, so der Kassen-Mann.

Dabei dürfe der Regulierungs- und Kontrolldrang nicht soweit rei- chen, daß nach dem „Vorbild“ der USA über Managed Care und Disea- se-Systeme Kostenstandards vorge- geben würden und eine rigide Indika- tionenkontrolle erfolge, so Dr. jur.

Rainer Hess, Hauptgeschäftsführer der Kassenärztlichen Bundesvereini-

gung (KBV), Köln. Dies sei zudem sehr kostenintensiv. Auch der Spre- cher der Kassenärzte riet dazu, Prio- ritäten zu setzen. Allerdings müsse genau festgelegt werden, wer dafür verantwortlich sei und ob generell oder im Einzelfall über den Einsatz der Erkenntnisse der Hochleistungs- medizin entschieden werde.

Leistungen kaum beschränkbar

Die praktische Medizin steht nach Darlegungen von Professor Ar- nold vor dem Dauer-Dilemma, daß nicht nur Patienten mit eindeutig und

objektiv nachprüfbaren pathologi- schen Befunden Hilfe von der Medi- zin und den solidarisch finanzierten Versicherungen erwarten, sondern auch solche, die unter schwer faßba- ren Befindlichkeitsstörungen und nur subjektiv geäußerten Einschränkun- gen des Wohlbefindens leiden, gleich- wohl kaum beschränkte und kaum be- schränkbare Leistungen bei den Ver- sicherungen und Leistungsträgern an- forderten.

Falls die Politik die Leistungs- rechte auf Verfahren mit objektiv nachgewiesenen Wirkungen be- schränke, könne dies aus politischen und Kostengesichtspunkten durchaus wünschenswert sein. Die Medizin und die ärztliche Therapiefreiheit würden jedoch auf ein reduktionistisches Krankheitsmodell begrenzt werden.

Dies wird aber von vielen Kritikern als eine Abkehr vom Vollkranken- schutz und der Ganzheitsmedizin kri-

tisiert und zurückgewiesen. Aus der Notwendigkeit, die Effizienz ständig zu überprüfen und zu verbessern, ließen sich mit medizinischem Sach- verstand und auf der Basis klinischer Studien Verfahren ausmachen und je- ne ausgrenzen, die objektiv nicht ef- fektiv seien, so Arnold. Allerdings sei diese Zahl nicht so groß, wie vielfach vermutet werde. Das eigentliche ko- stentreibende Problem, das die Poli- tik unter verschärften Handlungs- zwang setzt, bestehe nicht in der An- wendung obsolet gewordener und in- effektiver Verfahren, sondern viel- mehr von effektiven Verfahren, bei nicht immer gegebener Indikation und vor allem bei der additiven An- wendung her- kömmlicher Ver- fahren und Tech- nologien zu neu- en, die die alten meist nicht völlig ersetzen können und damit die Ko- steninflation an- heizen.

Nach Überzeu- gung von Arnold könnte dieser Miß- stand auch nicht durch strengere Zulassungsprü- fungen beispiels- weise für neue Arzneimittel, die Vorgabe von Positiv- listen oder von Anreizen für die Lei- stungserbringer verbessert werden.

Das hätte nur Einfluß auf das Gesamt- volumen von Leistungen, nicht aber auf die Indikationsstellung im Einzel- fall. Auch bei begrenzten Ressourcen und Kapazitäten würden in der Regel auch Leistungen unangemessen er- bracht werden, ein Tatumstand, der wiederum die Krankenkassen zusätz- lich belaste. Dieser Mißstand könne nur über restriktive Kontrollen des Einzelfalles vermieden werden, etwa im Rahmen von Instrumenten des so- genannten Managed Care.

Entscheidend für die Ausgaben- höhe der medizinischen Versorgung sind nach Meinung Arnolds nicht nur die Menge, sondern vielmehr auch die Struktur der erbrachten Leistungen.

Diese ändere sich permanent und spürbar infolge des medizinisch-wis- senschaftlichen Fortschritts und der

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P O L I T I K AKTUELL

Deutsches Ärzteblatt 94,Heft 3, 17. Januar 1997 (13) Michael Arnold: Prioritäten im Ge-

sundheitswesen setzen.

Rainer Hess: Es darf keine Indika- tionenkontrolle à la USA geben.

Eckart Fiedler: Wir haben einen medizinischen Overkill.

Fotos: Karsten Schöne/Zeitenspiegel, Waiblingen; Johannes Aevermann, Berlin; Bernhard Eifrig, Bonn

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damit verbundenen Innovationen und neuen Technologien.

Auch müsse der nicht immer in Mark und Pfennig kalkulierbare in- tangible Nutzen berücksichtigt wer- den. Gesundheitspolitische Ziele könnten bei Anwendung neuer Ver- fahren in der Regel mit größerer Si- cherheit oder geringeren Nebenwir- kungen erbracht werden, oder bisher nicht erreichbare Ziele könnten mit Hilfe neuer Verfahren erfolgreich an- gegangen werden – mithin auch wich- tige politisch erwägenswerte Optio- nen, die den Grenznutzen des Fort- schrittes umfassen.

In jedem Fall müsse es Anliegen der Politik und der Leistungserbrin- ger sein, eine Zwei-Klassen-Medizin zu vermeiden und Ausweichreaktio- nen über „graue Märkte“ zu unterbin- den. Keinesfalls dürften eindeutig medizinisch notwendige Leistungen wegen des Ressourcenmangels ver- weigert oder ab einer bestimmten Al- tersgrenze ausgeschlossen werden (Negativbeispiel: England).

Eine drohende Zwei-Klassen- medizin sei der stärkste Verstoß ge- gen das Gerechtigkeits- und Gleich- heitsprinzip. Dies ließe sich auch nicht mit noch so hohem bürokrati- schem Aufwand, einer immer größer werdenden Regelungsdichte und zentral verordneten Vorgaben (Stan- dards, Richtwerte, Budgets) vermei- den. Vielmehr seien ebenso medizi- nisch wie ökonomisch und ethisch fundierte Richtwerte notwendig – unter Beachtung einer objektiven Analyse des Status quo. Ein gesund- heitspolitisches Umdenken sei bei al- len Beteiligten notwendig – sowohl bei den Kostenträgern, den Lei- stungserbringern als auch den Versi- cherten und vor allem bei der Sozial- gerichtsbarkeit. Die Krankenkassen sollten sich darauf beschränken, aus- schließlich effiziente und notwendige Leistungen zu gewähren. Die Lei- stungserbringer müßten neben der kurativen Medizin auch präventive und aufklärerische Maßnahmen in den Vordergrund rücken. Die Sozial- gerichte sollten das Leistungsrecht restriktiver als bisher auslegen. Die Politiker müßten sich von der Illu- sion freimachen, eine Rundum-Ver- sicherung sei weiterhin finanzier-

bar. Dr. Harald Clade

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P O L I T I K AKTUELL

(14) Deutsches Ärzteblatt 94,Heft 3, 17. Januar 1997

„Gerade in Zeiten knapper Mit- tel muß sich die ärztliche Verantwor- tung gegenüber Benachteiligten in der Gesellschaft bewähren“, appel- lierte Dr. med. Ellis Huber, Präsident der Ärztekammer Berlin, an die Teil- nehmer des 2. Kongresses „Armut und Gesundheit“, den die Kammer Ende letzten Jahres in Berlin ausrich- tete. Die dritte Stufe der Gesundheits- reform sei ein Schritt hin zur Privati- sierung der Gesundheitsleistungen und führe letztlich in die Zwei-Klas- sen-Medizin. Die gesundheitliche Dienstleistung, so Huber, solle schein- bar als profitabler Wirtschaftsfaktor ausgebaut werden. Deshalb sei eine Reanimation des gemeinschaftlichen Denkens im Gesundheitswesen drin- gend erforderlich. Diesem Ziel diene auch der Kongreß. Dort standen die gesundheitliche Situation Obdachlo- ser sowie die steigende Kinderarmut mit ihren negativen Auswirkungen auf die Gesundheit im Vordergrund.

Armut und Krankheit

— ein Teufelskreis Nach aktuellen Erhebungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Woh- nungslosenhilfe waren in Deutsch- land 1996 knapp 930 000 Menschen obdachlos. Ein wachsender Teil von ihnen lebe ständig auf der Straße. Käl- te, Nässe, Gewalt und vielfach auch Alkoholabusus verschlechterten den Gesundheitszustand der Betroffe- nen nachhaltig. Einer Untersuchung der Johannes Gutenberg-Universität Mainz zufolge leiden die Obdach- losen vor allem an Herz- und Kreis- lauferkrankungen, Hautkrankheiten, Krankheiten der Atmungsorgane, In- fektionen sowie Schürf-, Schnitt- und Verbrennungswunden. Hinzu kämen vielfach schwere psychische Proble- me. Scham und Schwellenängste führ- ten häufig dazu, daß Obdachlose kei- ne Arztpraxis aufsuchten, so der

Mainzer Arzt Dr. med. Gerhard Tra- bert. Deshalb seien niederschwellige Angebote der medizinischen Versor- gung Obdachloser dringend nötig. In der gegenwärtigen gesundheitspoliti- schen Situation sei es jedoch fraglich, ob die Versorgung von sozialen Rand- gruppen weiterhin gewährleistet wer- den könne (dazu DÄ, Heft 11/1995).

Mehr Junge betroffen Wie der Bielefelder Soziologe Dr.

Andreas Klocke ausführte, ist ein neuer Aspekt der Armutssituation in Deutschland, daß immer mehr junge Menschen davon betroffen sind. Jeder fünfte bis siebte Jugendliche lebe mittlerweile in Armut. Ursachen hier- für lägen in der Massenarbeitslosig- keit, der Zunahme von alleinerzie- henden Elternteilen sowie der finan- ziell unzureichenden Situation kin- derreicher Familien. Das wirke sich sowohl auf die psychische und emo- tionale Befindlichkeit der Kinder als auch auf ihr Gesundheitsverhalten aus. Wie eine Untersuchung des Wis- senschaftszentrums Berlin ergab, ist das Gesundheitsverhalten von Kin- dern deutlich schichtabhängig. Bei Kindern aus sozial benachteiligten Familien ist demzufolge eine regel- mäßige Ernährung nicht gesichert, und sie unterscheiden sich von Gleichaltrigen durch einen wesentlich schlechteren Impfstatus. Außerdem konsumierten sie wesentlich häufiger Zigaretten, Alkohol und Medikamen- te. Die betroffenen Kinder litten zu- dem häufiger an sozialen und psycho- somatischen Störungen. Nach Ansicht der Kongreßteilnehmer können nur langfristige politische Lösungen hier Abhilfe schaffen. Auf lange Sicht könnten so auch die Ausgaben im Ge- sundheitswesen gesenkt werden. Ein Sozialstaat müsse sich daran messen lassen, wie er Tendenzen sozialer Ent- solidarisierung entgegenwirke. HK

Kongreß „Gesundheit und Armut“

Gesundheit von Kindern

zunehmend gefährdet

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