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Archiv "Irak nach dem Krieg: Die Amerikaner müssen sich ihrer Verantwortung stellen" (16.05.2003)

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rst kurz vor Beginn des Krieges ist es der medizinischen Hilfsorganisa- tion Ärzte ohne Grenzen nach jah- relangen erfolglosen Bemühungen ge- lungen, wieder Zugang zum Irak zu er- halten. Wir entsandten ein sechs Mit- glieder zählendes Team, das während des Krieges in Bagdad arbeiten sollte, um die irakischen Ärzte mit Medika- menten, medizinischem Material und Personal zu unterstützen. Das Team be- stand aus einem Chirurgen, einem Anästhesisten, einem Intensivmedizi- ner sowie drei Logistikern.

Als wir in Bagdad ankamen, funktio- nierten die meisten der 34 Krankenhäu- ser verhältnismäßig gut. Es fehlten zwar Arzneimittel zur Behandlung einiger spezieller Krankheiten, doch die Ärzte waren gut ausgebildet, und sie hatten fortschrittliche Diagnose-Möglichkei-

ten. Kurz vor Kriegsausbruch veröffent- lichte der irakische Gesundheitsmini- ster einen Notfallplan, der die Versor- gung von Kriegsverwundeten regelte und festlegte, welche Krankenhäuser die Erstversorgung von Verletzten übernehmen sollten und welche für die Nachsorge zuständig sein sollten. Selbst während des Krieges, als wir mit unse- rem chirurgischen Team im Al Kindi- Hospital arbeiteten, funktionierte alles den Umständen entsprechend gut.

Einen schweren Rückschlag erlitt die Arbeit von Ärzte ohne Grenzen am 2. April, als zwei Kollegen des Teams in Bagdad von der irakischen Polizei fest- genommen wurden. Neun zermürbende Tage lang wussten wir nicht, was mit ih- nen geschehen war. Erst nach ihrer Frei- lassung erfuhren wir, dass die Polizei sie während dieser Zeit in drei verschiede- nen Gefängnissen festgehalten hatte.

Nach dem Verschwinden der Kollegen traf der Rest des Teams die schwere Ent- scheidung, die Arbeit im Al-Kindi-Kran- kenhaus aus Sicherheitsgründen und aus Protest gegen diese Festnahme einzu- stellen. Wir konnten nicht akzeptieren, dass humanitäre Helfer auf eine solche Art grundlos verhaftet wurden. Es war eine sehr schmerzhafte Entscheidung,

denn auf der Höhe des Konfliktes konn- ten wir kaum Hilfe leisten. Zwar liefer- ten wir weiterhin Medikamente und me- dizinisches Material, aber unserem chir- urgischen Team waren die Hände ge- bunden.Als unsere beiden Kollegen am 11. April unversehrt freikamen, hatte sich die Situation in den Krankenhäu- sern bereits sehr verändert.

Am 9.April zogen die Amerikaner in Bagdad ein. Am selben Tag brach in der Stadt das Chaos aus, und die Plünderun- gen begannen. Das Al-Kindi-Kranken- haus wurde geschlossen, und die noch verbliebenen 120 Patienten, die teilwei- se schwere Operationen hinter sich hat- ten, wurden in andere Kliniken über- wiesen oder einfach entlassen. Eine me- dizinische Nachsorge konnte nicht mehr gewährleistet werden.

Der Zusammenbruch der Kranken- haus-Struktur in Bagdad war unserer Einschätzung nach auf die sich drama- tisch verschlechternde Sicherheitslage zurückzuführen. Da die Krankenhäuser nicht gesichert waren, wurden auch sie von den Plünderungen nicht verschont.

Die Mitarbeiter fürchteten zudem, dass ihre privaten Unterkünfte geplündert würden, sodass viele nicht mehr zur Ar- beit erschienen. Hinzu kam, dass der öf- fentliche Nahverkehr zusammengebro- chen war und es kaum noch Benzin gab.

Häufige Stromausfälle und die ungenü- gende Energieversorgung machten die medizinische Versorgung in den Kran- kenhäusern beinahe unmöglich. Den- noch ging die Arbeit in einigen Kran- kenhäusern weiter, so gut es eben ging.

Dies wäre ohne die irakischen Ärzte, Krankenschwestern und Pfleger nicht möglich gewesen, die unermüdlich ta- gelang durchgearbeitet haben.

T H E M E N D E R Z E I T

A

A1342 Deutsches ÄrzteblattJg. 100Heft 2016. Mai 2003

Irak nach dem Krieg

Die Amerikaner müssen sich ihrer Verantwortung stellen

Obwohl Bagdad bereits seit mehr als drei Wochen von den US-Streitkräften besetzt ist, funktionieren die Krankenhäuser dort noch immer

nicht. Ein persönlicher Erfahrungsbericht von Ärzte ohne Grenzen

16. April: In einem der wenigen geöffneten Hospitäler Bagdads wird ein Verwundeter versorgt.

Foto:dpa

Morten Rostrup (l.) und sein Team in Bagdad

Foto:Ärzte ohne Grenzen

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Heute, mehr als drei Wochen nach dem Sturz des Regimes, ist die Situation in den Krankenhäusern noch immer völlig inakzeptabel. Sie sind noch im- mer desorganisiert, die Notaufnahmen sind überfüllt, die Operationssäle funk- tionieren nur schlecht. Es gibt nicht ein einziges Krankenhaus in Bagdad, das ganz normal arbeitet – nicht einmal das Al Yarmouk-Hospital mit 1 000 Betten oder das Sadr-Stadt-Krankenhaus mit 3 000 Betten.

Die Organisation der Kliniken ist zusammengebrochen

Es ist widersinnig, dass vor und während des Krieges die medizinische Versor- gung in den Krankenhäusern sicherge- stellt war, nach der Machtübernahme durch die US-geführte Allianz jedoch nicht mehr. Nach dem Sturz des Re- gimes ist es zu einem Machtkampf um die Krankenhäuser gekommen. Die feh- lende Leitungsstruktur führt dazu, dass die Arbeit an allen Ecken an ihre Gren- zen stößt: Niemand scheint einen wirkli- chen Überblick über alle Krankenhäu- ser zu haben – geschweige denn über die Material-Bestände. Es gibt zwar genü- gend Ärzte und Pflegepersonal in Bag- dad, aber die Organisation der Kran- kenhäuser ist zusammengebrochen, und es gibt nur eine schlechte Notversor- gung. Laut Genfer Konventionen ist die Besatzungsmacht verpflichtet, die medi- zinische Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen. Also trägt die US-ge- führte Allianz die Verantwortung für die derzeitigen Missstände im Irak. Sie muss gewährleisten, dass die medizinische Basisversorgung funktioniert. Ich bin mehr als erstaunt, dass es nach dem Krieg keinen Notfallplan für die Auf- rechterhaltung der medizinischen Ver- sorgung gegeben hat.

Nicht nur, dass es der Allianz nicht gelungen ist, im Nachkriegschaos die Krankenhäuser zu schützen. Sie haben nach Einstellung der Kämpfe auch kei- ne umfassende Evaluierung des medizi- nischen Bedarfs durchgeführt. Schließ- lich gab es viele Patienten, die dringend versorgt werden mussten – dazu gehör- ten nicht nur Kriegsverletzte, sondern auch chronisch Kranke. Nach den Plün- derungen fehlt es in den Krankenhäu-

sern an Sauerstoff, Narkose- und Schmerzmedikamenten. Problematisch ist auch die Behandlung von Kala Azar, einer lebensbedrohlichen Erkrankung, die im Irak weit verbreitet ist. Viele Pa- tienten, die an chronischen Krankhei- ten wie Diabetes, Epilepsie oder Herz- Kreislauf-Erkrankungen leiden, haben zurzeit keinen Zugang zu ihren Medi- kamenten. Außerdem gibt es viele Pati- enten, die vorzeitig aus den Kranken- häusern entlassen wurden, weil man be- fürchtete, dass die Hospitäler bombar- diert oder geplündert werden könnten.

Viele dieser frühzeitig Entlassenen ha- ben seitdem keine medizinische Versor- gung erhalten, obwohl sie eine Nachbe- handlung benötigen. Doch selbst wenn es sie gäbe, wüssten die Kranken nicht, wie sie ins Krankenhaus kommen soll- ten, denn organisierte Krankentrans- porte für Notfälle fehlen völlig.

Die Teams von Ärzte ohne Grenzen haben mittlerweile in mehr als zehn ira- kischen Städten den Bedarf in den Kran-

kenhäusern evaluiert. Sie sind dabei in jeder Klinik auf andere Probleme ge- stoßen. Es sind zwar bislang keine Epi- demien ausgebrochen, auch die Krank- heits- und Sterblichkeitsraten sind bis- lang nicht dramatisch, sodass wir nicht von einer humanitären Katastrophe sprechen würden. Dennoch sind die Pro- bleme im Gesundheitssektor gravierend und müssen dringend von der US-ge- führten Allianz gelöst werden. Es ist ihre Verantwortung, und sie müssen sie ernst nehmen. Heute. Auch wenn es gestern hätte sein müssen. Dr. med. Morten Rostrup T H E M E N D E R Z E I T

Deutsches ÄrzteblattJg. 100Heft 2016. Mai 2003 AA1343

Ärzte ohne Grenzen ist zurzeit mit rund 30 interna- tionalen Mitarbeitern im Irak und in den angrenzen- den Ländern tätig. Während des Krieges hat Morten Rostrup, internationaler Präsident von Ärzte ohne Grenzen und Intensivmediziner, gemeinsam mit fünf Kollegen in Bagdad gearbeitet. Akutelle Informatio- nen zur Arbeit im Irak finden sich im Internet unter:

www.aerzte-ohne-grenzen.de.

Spendenkonto: Sparkasse Bonn, BLZ 380 500 00, Kto.: 97 0 97

14. April: In einem Krankenhaus in Bagdad warten Iraker auf ihre Medikamente. Foto: ap

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