ZUM BEGRIFF DER VIELZAHL UND DES VOLKES IM HUAI-NAN-TZU KAP .9
von Helmolt Vittinghoff, Erlangen
Eine der umwälzenden Neuerungen, die der von Pan Ku als ,Ahne der Konfuzia¬
ner" bezeichnete Tung Chung-shu in den Han-Konfuzianismus einbrachte, war die
Verantwortlichkeit des Herrschers gegenüber dem Himmel. Die bisher gültige Auf¬
fassung war die der Rechenschaftspflicht vor dem Volke, wie sie Mencius entwickelt
hatte und die das Recht auf Herrschaftsumsturz einschloß. Das Werk, das die
„taoistische" Gegenposition zu Tung Chung-shus eklektischem Konfuzianismus
vertrat, das Huai-nan-tzu (HNT) des Kaiserhausmitgliedes Liu An, scheint die
Mencius-Position mit umgewerteter Akzentsetzung fortgeführt zu haben. Immer
wieder wird in ihm betont, daß alle Aktionen des Herrschers, die dem ,, Wohlerge¬
hen des Volkes und der Massen" zuwiderlaufen, zu unterlassen sind. Insbesondere
werden damit Kriege, Annexionen, aufwendige Bauunternehmungen, Extravagan¬
zen in Lebensführung und Kleidung angesprochen, da sie den Rhythmus der arbei¬
tenden Bevölkerung, z.B. durch ausgedehnten Arbeitsdienst, bedrohlich verändern.
Im folgenden soll untersucht werden, was im HNT unter Volk und Massen zu
verstehen ist und welche Rolle sie in den Vorstellungen des HNT spielen. Die heuti¬
ge chinesische Auffassung von Volk und Massen, die in der sogenannten Massenlinie
mit „die Meinungen der Massen sammeln und konzentrieren, sie wiederum in die
Massen zurücktragen" von Mao Tse-tung zum Ausdruck gebracht wurde, enthält
für „Massen" den Terminus chün<hung, der das aus dem Japanischen entliehene
min-chung etwa seit den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts ersetzt. Beide Ter¬
mini sind Wortverbindungen, die bereits in cho-zeitlichen Texten verwendet wer¬
den, dort jedoch keineswegs „gesellschaftsgestaltende, konstruktive Kräfte und
revolutionäre Qualitäten" zugebiUigt erhalten.
Der beiden Wortverbindungen gemeinsame BestandteU „chung", der bereits auf
den Orakelknochen der Shang-Yin zu finden ist und dort als „The graph has three
(many) ,men' and either ,sun' or ,eye' above, the latter uncertain" gedeutet wird,
kommt in zwei verschiedenen Verwendungen auch im HNT vor, als Ausdruck für
eine unbestimmte Menge und als Mengenbegriff schlechthin. In einigen Passagen des
stark legalistisch geprägten 9. Kapitels des HNT scheint man ihn soziologisch im
Sinne von „Volksmasse" mit positiver Akzentsetzung wiedergeben zu müssen. So
hei&t es: „Wenn sich der Herrscher der Kenntnisse der Massen bedient, dann
gibt es nichts, dem er nicht gewachsen ist; wenn er die Kräfte der Massen nutzt,
gibt es nichts, das er nicht besiegen kann." Oder an anderer SteUe: ,,Was konzen¬
trierte Kraft in Angriff nimmt, führt stets zum Erfolg; was das Wissen der Mas¬
sen bewirkt, kommt stets zur VoUendung."
Wer gehört denn eigentlich zur Masse in diesen so erstaunlich demokratisch
klingenden Leitsätzen für einen idealen Herrscher? Sollte J. L. Dull recht haben mit
XX. Deutscher Orientalistentag 1977 in Erlangen
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seinem nicht näher bewiesenen statement, daß ,,by the masses here and elsewhere, Han usage meant officialdom, not the general populace", d.h. Gelehrte, Bauern, Künstler und Kaufleute?
Abgesehen davon, daß in der während der 2. Han-Zeit entstandenen Kompilation Wen-tzu unter dem von J. L. Duh so eindeutig festgelegten „chung-jen" die „unaus- gebildete, bemflose Masse" verstanden wird, geht aus dem Huai-nan-tzu eindeutig
hervor, daß damnter alle Menschen unter Ausschluß des einen Menschen, des Herr¬
schers zu zählen sind: ,,Wenn man einen Wagen baute, malte der Lackierer nicht
und der Bohrmeister führte keine Schnitte aus, denn die Handwerker verfügten
nicht über zwei Fähigkeiten, wie auch die Beamten nicht zwei Ämter zur gleichen
Zeit ausfüllten". Oder sind etwa die Beamten gemeint, wenn es heißt: „Ein Gewicht
von 1000 chün konnte selbst ein Wu Huo nicht heben, aber wenn sich die Masse
(chung-jen) zusammentut, dann haben 100 Mann mehr als genug Kräfte dafür."
Das Binomen chung-jen ist somit allgemeiner und inhaltlich umfassender als alle
Ausdrücke für das Volk, zu dem die Beamten nicht hinzugezählt werden dürfen.
Der idealisierte Zentralherrscher - vgl. die Ausführungen von G. Naundorf in
diesem Band —, dessen Volk „einfach und ernst ist, aufrichtig und offen", dessen
Volk „sich nicht voller Emotionen streitet, da ja der Besitzstand zum Leben aus¬
reicht", hat Sorge zu tragen, daß der steuerliche Druck nicht ein erträgliches Maß
überschreitet; er muß, „wenn er vom Volk die Steuern eintreiben läßt, vorher die
Ernteerträge berechnen und dann bemessen lassen, wieviel das Volk eingelagert hat;
er muß die Ziffern kennen, um die der Reichtum bzw. Ausfall an Ernte Überfluß
bzw. Mangel bringen wird." An dieser Stelle ist deutlich die Beamtenschaft aus¬
geklammert, die ja keine Steuern zu bezahlen hatte.
Für die Beamtenschaft, wie für alle anderen inklusive des Herrschers, hatten je¬
doch die Gesetze Gültigkeh, denn „Gesetze sind nicht vom Himmel gefallen, son¬
dern wurden unter den Menschen entwickelt und müssen an veränderte Gegeben¬
heiten angepaßt werden. Was man jedoch für das Volk unten aufstellt, darf man
nicht für die eigene Person oben außer Kraft setzen".
Diese starke Berücksichtigung der Bevölkerung exklusive und inklusive der
Beamtenschaft, insbesondere die exklusive der Beamtenschaft, hat bei den Biogra¬
phen des Liu An stets zur Kritik Anlaß gegeben. Dies darf jedoch nicht dazu füh¬
ren, das HNT als demokratischen Text zu klassifizieren. Die Frage, inwieweit Liu
An, vorausgesetzt, daß der das Huai-nan-tzu verfaßt hat, Volk und Massen nicht nur
zu argumentativen Zwecken benutzt hat, um Anspruch auf die Position des Zentral¬
herrschers wegen der eigenen höheren Einsicht und Moral anzumelden, kann erst
dann beantwortet werden, wenn seine praktische Regierungs- und Verwaltungsar¬
beit in seinem Herrschaftsgebiet Huai-nan und mehr über das Verhältnis zu seinen
Zu-Beherrschenden erforscht ist. Fest steht jedoch, daß zumindest die regionale
Machtkonzentration, mit der die Kaiser der 1. Han-Dynastie sich auseinandersetzen mußten, im Werk Huai-nan-tzu üiren literarischen und phüosophischen Niederschlag findet.
SEKTION XI: AFRIKANISTIK, INDONESISCHE
UND SÜDSEESPRACHEN
SEKTIONSLEITER: H. JUNGRAITHMAYR
THE DEVELOPMENT OF FULANI STUDIES
A LINGUIST'S VIEW
by Robert G. Armstrong, Ibadan
I. INTRODUCTION
The fascination of Fulani culture derives not from its having a conjectural source outside of Africa but rather from its elaborate, deep, and many-sided expression of Africa itself
The Fulfulde language (or Pulaar) is native to the Senegal River valley and the
Fouta Toro savannah area to the west of it. Greenberg (1949-50, 1963) and
Westermann (1952) are in agreement that Fulfulde is closely related to Serer-Sin
and Wolof, of Senegal. It is therefore a member of the West Atlantic sub-family of
the Niger-Congo family of African languages. We may know by this that Fulfulde is
genetically related to more than a thousand languages lying to the east and south¬
east of it all the way across Africa. The paper is largely devoted to supplying the detailed lexical, phonological and grammatical evidence to support this statement.
It draws heavily on recent studies by such scholars as Klingenheben (1963), Arnott
(1970), Noye (1974), D. Sapu, A. Wilson, Guthrie, de Wolf, Mukarovsky, Doneux
and many others.
Today the Fulb'e are spread over an enormous area. They include the extreme
social types to be found anywhere in West Africa: from nomadism to the organizing cadres of great cities and empires and big businesses; from ancient, proselytizing
Islam to paganism; from ancient, superb literacy in Fulfulde and Arabic to total
non-literacy. Despite this social diversity, they see themselves as one; and they re¬
sist the widespread view that they consist of two groups, one caucasoid (Mediter¬
ranean) and one black. This paper argues for the view that there is only one Fulb'e population, that it is basically black, that it is characterized by a wide range of
physical types produced by ancient mixture with Berber and perhaps other Medi¬
terranean peoples. Only one language characterizes the Fulb'e, namely Fulfulde or
Pulaar; and it is a very strong unifying force.
II. THE GENETIC AFFILIATION OF FULFULDE
Typologically speaking, the genetic affiliation of Fulfulde is suggested by the
fact that it is a noun-class language of a kind that is widespread in Black Africa and
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