A496 Deutsches ÄrzteblattJg. 105Heft 107. März 2008
P O L I T I K
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inen Augenblick, bitte! Dr.med. Andreas Köhler zückt seinen Taschenrechner. Nach weni- gen Minuten kommt der Vorstands- vorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) zu dem Ergebnis: Zusätzlich 365 Millionen Euro sind bei einem Punktwert von 5,11 Cent notwendig, um die Ho- norarnachteile der Neurologen und Psychiater auszugleichen.
Doch nicht nur eine bessere finan- zielle Ausstattung, sondern auch eine bessere Struktur der neuropsychia- trischen Versorgung hält Köhler für dringend notwendig. Mittlerweile sieht er sogar bereits Indizien für ei- ne Unterversorgung. Hintergrund sei- ner spontanen Berechnungen ist das Gutachten des Instituts für Gesund- heit und Sozialforschung (IGES) zum Thema „Strukturen und Finan- zierung der neurologischen und psy- chiatrischen Versorgung“, das erst- mals eine Datengrundlage liefert.
Gemeinsam mit dem Berufsverband Deutscher Neurologen und dem Be- rufsverband Deutscher Psychiater (BVDP) hatte es der Berufsverband
Deutscher Nervenärzte (BVDN) in Auftrag gegeben.
Das IGES-Gutachten zeigt: Ner- venärzte, Neurologen und Psychia- ter sind benachteiligt und derzeit die Ärzte mit dem geringsten Einkom- men. Bei einer etwa gleichbleiben- den Zahl von Ärztinnen und Ärzten haben sich die Fallzahlen in der neu- ropsychiatrischen Versorgung in- nerhalb der letzten zehn Jahre nahe-
zu verdoppelt. Die Honorare haben sich den Versorgungsbedürfnissen der Patienten jedoch nicht angepasst.
„Politik und Krankenkassen unter- schätzen die Bedeutung von neuro- logischen und psychiatrischen Er- krankungen für unser Gesundheits- wesen und unsere Volkswirtschaft“, erläutert Dr. med. Frank Bergmann, Vorsitzender des BVDN. Gefährlich sei dies insbesondere angesichts einer ständig älter werdenden Be- völkerung und der häufig mit dem Alter zunehmenden Prävalenz der neuropsychiatrischen Erkrankungen.
So verursachten dem IGES-Gutach- ten zufolge bei der Gruppe der über 65-Jährigen die Erkrankungen des Nervensystems die höchsten Kosten im Gesundheitswesen. Bei den über 85-Jährigen erreichten sie sogar et- wa das Dreifache der Kosten für Herz-Kreislauf-Erkrankungen.
Ferner stellten die Gutachter fest:
> Die Zahl der Krankenhausfälle hat wegen psychischer und verhal-
tensbezogener Erkrankungen von 1994 bis 2005 um 36 Prozent zu- genommen. Die Gesamtzahl aller Krankenhausfälle hat sich im sel- ben Zeitraum nur um elf Prozent erhöht.
> Die Zahl der Arbeitsunfähig- keitstage wegen neuropsychiatri- scher Erkrankungen hat zwischen 1997 und 2006 um 64 Prozent zuge- nommen. Die Anzahl der Arbeitsun- fähigkeitstage 2006 für alle Erkran- kungen lag dagegen auf dem glei- chen Niveau wie 1997.
> Die Arbeitsunfähigkeit auf- grund neuropsychiatrischer Erkran- kungen verursacht steigende volks- wirtschaftliche Kosten. Der Ausfall an Bruttowertschöpfung entsprach 2006 rund sieben Milliarden Euro und damit etwa 10,5 Prozent des ge- schätzten Gesamtausfalls an Brutto- wertschöpfung infolge von Arbeits- unfähigkeit. Im Jahr 2000 war die- ser Anteil mit rund 5,3 Prozent nur etwa halb so groß.
Trotz des steigenden Betreu- ungsbedarfs gebe es jedoch nur ge- ringfügig mehr Fachärztinnen und Fachärzte für Psychiatrie/Neurolo- gie, um die wachsende Zahl an Pa- tientinnen und Patienten zu versor- gen, erklärt die Vorsitzende des BVDP, Dr. med. Christa Roth- Sackenheim. Leider sei auch in Zu- kunft nicht mit mehr Nachwuchs zu rechnen, bedauert sie. Ange- sichts der von Mangel geprägten Situation setzten die Fachärzte auf eine intensive Zusammenarbeit mit den Hausärzten, die bereits viele Erkrankungen zutreffend beschrie- ben und diagnostizierten.
Verbessern solle sich in den kommenden Jahren die Honorierung der neuropsychiatrischen Facharzt- gruppen, erklärt Köhler. Dabei räumt er Versäumnisse der KBV in der Vergangenheit ein: Die bis- herigen Kalkulationen für diese Fachgruppen seien nicht ausrei- chend gewesen. Dies wolle die KBV jetzt ausgleichen. „Mit der Neuordnung der vertragsärztlichen Vergütung und der Rückverlage- rung des Morbiditätsrisikos an die Krankenkassen wird sich das ab 2009 deutlich verbessern“, ver-
spricht Köhler. I
Dr. med. Eva Richter-Kuhlmann
NEUROLOGIE/PSYCHIATRIE
Indizien für eine Unterversorgung
Steigende Fallzahlen bei gleichbleibenden Arztzahlen:
Ein IGES-Gutachten beleuchtet erstmals die Misere im neuropsychiatrischen Bereich.
Wachsende Pati- entenzahlen in der Neurologie/
Psychiatrie:Ein Grund ist die stän- dig älter werdende Bevölkerung.
Schlusslichter: Nervenärzte, Neurologen und Psychiater stehen derzeit in der Einkommensskala der Ärzte ganz unten.
Foto:Klaus Rose