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Archiv "Gefahrstoffe in der Arztpraxis: Erkennen und sicher handhaben" (19.11.2004)

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A3164 Deutsches ÄrzteblattJg. 101Heft 4719. November 2004

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esinfektions- und Reinigungsmit- tel werden in allen Arztpraxen in unterschiedlich großen Mengen eingesetzt. Viele dort Beschäftigte unterschätzen die damit verbundenen gesundheitlichen Risiken. Die Handha- bung der Konzentrate kann zu Gesund- heitsschäden wie Verätzungen, Reizun- gen und Sensibilisierungen von Haut und Schleimhaut sowie zu Umwelt- gefährdungen führen. Bei alkoholischen Produkten sind zusätzlich Brand- und Explosionsgefährdungen zu beachten.

Speziell bei Gastroenterologen und Nephrologen stellen Desinfektions- arbeiten einen Tätigkeitsschwerpunkt der Beschäftigten dar. Weitere Gefahr- stoffe können insbesondere bei Urolo- gen, Pathologen, Gynäkologen, Chirur- gen, Dermatologen, Onkologen und Orthopäden hinzukommen. Selbst Was- ser kann bei häufiger oder lang dauern- der Exposition zu den Gefahrstoffen zählen. Textkasten 1 gibt eine Übersicht über Gefahrstoffe, die in Arztpraxen vorkommen können.

Häufig Hauterkrankungen

Ein sachgerechter und verantwortungs- bewusster Umgang mit Chemikalien, der diesen Risiken Rechnung trägt, ist Voraussetzung für die Erhaltung der Ge- sundheit der Beschäftigten. Ungeschütz- ter Kontakt mit diesen Stoffen sollte grundsätzlich vermieden werden, zumal sich der Kenntnisstand über Risiken beim Umgang stetig weiterentwickelt.

Bei den gemeldeten Versicherungsfällen bei Ärzten und ihren Beschäftigten sind vor allem chronische Einwirkungen be- deutsam. Dagegen spielen akute Einwir-

kungen von Chemikalien,

wie Verätzungen von

Haut oder Augen, nur eine unter- geordnete Rolle. Jährlich werden aus den Arztpraxen etwa 1,4 Berufserkran- kungen, bezogen auf 1 000 Vollarbeits- kräfte, gemeldet. Dies entspricht den Durchschnittszahlen im Gesundheits- dienst. Die meisten Meldungen betref- fen Hauterkrankungen mit 56 Prozent.

Im Vergleich hierzu liegt diese Quote mit 75 Prozent bei Zahnärzten deutlich höher. Folgende Probleme treten nach den Erfahrungen der Berufsgenossen- schaft für Gesundheitsdienst und Wohl- fahrtspflege (BGW) häufig in Arzt- praxen auf:

>Hautbelastung durch häufiges Händewaschen, langes Tragen von Handschuhen und unzureichende Hautpflege: Die hierdurch verursach- ten Abnutzungsekzeme bilden den Schwerpunkt der Hauterkrankungen.

Allergische Hauterkrankungen sind häufig auf Latexproteine, Inhaltsstoffe von Flächen- und Instrumentendesin- fektionsmittel oder Duft- und Konser- vierungsstoffe zurückzuführen.

>Hautbelastung bei Desinfektions- arbeiten: Häufig werden die üblichen kurzen medizinischen Untersuchungs- handschuhe benutzt. Diese sind je- doch nicht geeignet zum Schutz vor Chemikalien, da viele Inhaltsstoffe das Handschuhmaterial durchdringen und auf die Haut gelangen können.

Bei kurzen Handschuhen und gleich- zeitig intensivem Umgang mit der Desinfektionsmittellösung ist die Haut am Unterarm ungeschützt, und es kann Lösung von oben in den Handschuh hineinlaufen.

>Atemwegsbelastung bei Desinfek- tionsarbeiten: Sprühverfahren führen zu einer hohen Belastung und sind daher grundsätzlich zu vermeiden. Bei der manuellen Instrumentendesinfek- tion mit Formaldehyd enthaltenden Produkten kann es zur Überschreitung des Luftgrenzwertes für Formaldehyd kommen.

>Atemwegsbelastung in der Patholo- gie: Häufig wird die Grenze für die inha- lative Spitzenbelastung mit Formaldehyd überschritten. Problematische Arbeits-

Gefahrstoffe in der Arztpraxis

Erkennen und sicher handhaben

Für die Erhaltung der Gesundheit der Praxismitarbeiter ist ein sachgerechter Umgang mit Chemikalien unerlässlich.

Mögliche Gefahrstoffe in Arztpraxen

>Feuchtigkeit im Rahmen von Feuchtarbeit (Hautkontakt mit Wasser, Okklusion im Handschuh)

>gepuderte Latexhandschuhe

>Desinfektionsmittel (Ethanol, 2-Propanol, Formaldehyd, Glutaraldehyd, Peressigsäure, Natriumhypochlorit)

>Konzentrierte Reinigungsmittel (Tenside, Ethanol, 2-Propanol, Glykolether)

>Laborchemikalien (Xylol, Formaldehyd, Iod, Methanol, Reagenzien)

>Arzneimittel (Methotrexat, antibiotika- oder steroidhaltige Salben) und Medizin- produkte (Stützverbände auf der Basis von Polyurethanen)

>Anästhesiegase (Lachgas, Halothan, Enfluran, Isofluran, Sevofluran, Desfluran)

>Röntgenchemikalien (Ammoniumthiosul- fat, Essigsäure, Hydrochinon, Kaliumsulfit) Textkasten 1

Foto:

BGW

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bereiche sind hier das Zuschneiden und die Entsorgung von Präparaten.

>Atemwegsbelastung in der Anäs- thesie: Werden Anästhesiegase regel- mäßig ohne ausreichende Absaugung und Lüftung eingesetzt, muss mit der Überschreitung von Luftgrenzwerten gerechnet werden.

>Atemwegsbelastung in der Dialyse:

Es können Atemwegsreizungen durch peressigsäurehaltige und hypochlorit- haltige Produkte auftreten.

>Haut- und Atemwegsbelastung durch Arzneimittel: Vielen Beschäftig- ten ist die Gefährdung beim Umgang mit Arzneimitteln nicht immer bewusst, obwohl einige sogar krebserzeugende Eigenschaften haben. Nach den Erfah- rungen des Präventionsdienstes der BGW haben Praxen in Bezug auf Lüftungstechnik und Unterweisung im Vergleich zu Krankenhäusern einen geringeren Schutzstandard.

Maßnahmen zum Schutz der Beschäftigten

Maßnahmen zur Vermeidung von Ge- fahren am Arbeitsplatz werden in einer großen Anzahl gesetzlicher und berufs- genossenschaftlicher Regelungen be- schrieben. Speziell für die Arztpraxen wurden die Technischen Regeln für Gefahrstoffe (TRGS) 525 „Umgang mit Gefahrstoffen in Einrichtungen der

humanmedizinischen Ver- sorgung“ entwickelt. Bei den Schutzmaßnahmen hat tech- nischer Schutz, der das Ent- weichen gefährlicher Stoffe verhindert, Vorrang vor or- ganisatorischem Schutz, etwa der Begrenzung von Arbeits- zeiten oder persönlichen Maßnahmen wie dem Tragen von Handschuhen. Norma- tive Vorgaben werden jedoch oft nur unvollständig umge- setzt. Bei der Implementie- rung von Maßnahmen zum Schutz vor Gefahrstoffen ist ein schrittweises Vorgehen nach dem Schema in Textka- sten 2 empfehlenswert.

Die Arztpraxen können sich hierbei von Sicherheits- fachkräften, Betriebsärzten und Arbeitsschutzexperten der BGW unterstützen lassen. Für eine Reihe von Aufgaben sind bereits Lösungen erar- beitet worden:

Ein Gefahrstoffverzeichnis muss fol- gende Angaben enthalten:

>Bezeichnung des Gefahrstoffs

>Einstufung des Gefahrstoffs

>Mengenbereiche des Gefahrstoffs im Betrieb

>Arbeitsbereiche, in denen mit dem Gefahrstoff umgegangen wird.

In typischen Arztpraxen mit wenigen Beschäftigten ist es für Dokumentations- zwecke ausreichend, wenn Herstellerin- formationen der Produkte, zum Beispiel Sicherheitsdatenblätter, in einem Ordner

abgelegt sind und zusätzlich der unge- fähre Jahresverbrauch vermerkt ist.

Bei der BGW sind Schriften und Empfehlungen für die Handhabung von Arznei-, Reinigungs- und Desinfek- tionsmitteln und für Anästhesiegase erhältlich. Hier findet man konkrete Hinweise – etwa dass sich für Arbeits- bereiche mit hohem Anteil manueller Instrumentendesinfektion (zum Bei- spiel in gastroenterologischen Praxen) der Einsatz von Automaten empfiehlt.

Nur so kann bei Produkten mit Form- aldehyd der Luftgrenzwert für den Stoff sicher eingehalten werden.

Ersatzstoffprüfung

Bei der Prüfung, ob Reinigungsmittel und Desinfektionsreiniger durch weni- ger gefährliche Alternativen ersetzt werden können, ist der Produkt- kode hilfreich. Produkte mit ähnlicher chemischer Zusammensetzung, ähnli- chem Einsatzzweck und vergleichbarer Gefährdung wurden in Produktgruppen zusammengefasst, um dem Anwender die Beurteilung des gesundheitlichen Risikos jedes Einzelprodukts abzuneh- men. Welchem Produktkode das jewei- lige Produkt zuzuordnen ist, kann man dem Sicherheitsdatenblatt und dem Gebindeetikett entnehmen. Desinfek- tionsreiniger sind unterteilt in die Gruppen GD 10 bis GDU 90, wobei die Kodes nach aufsteigender Gefährdung sortiert sind. Produkte mit dem Kode GD 10 auf der Basis von Sauerstoff-

Gefährdungen beurteilen

1. Verzeichnis der verwendeten Gefahrstof- fe und der bei Verfahren erzeugten Ge- fahrstoffe erstellen.

2. Informationen über die Gefahren der Stoffe sammeln, zum Beispiel Sicherheits- datenblätter, Fachinformationen.

3. Art (oral, inhalativ, dermal), Intensität, Dauer und Häufigkeit der Exposition beurteilen.

4. Prüfen, ob Arbeitsplatzgrenzwerte exi- stieren (Quelle sind zum Beispiel Sicher- heitsdatenblätter).

5. Für Maßnahmenplan Risiken gemäß der Schwere einstufen.

Maßnahmen ergreifen

1. Prüfen, ob Gefahrstoffe vermieden oder durch weniger gefährliche ersetzt werden können.

2. Prüfen, ob technische Schutzmaßnahmen erforderlich sind.

3. Prüfen, ob persönliche Schutzausrüstung erforderlich ist.

4. Die Beschäftigten kontinuierlich über Risiken und Präventivmaßnahmen infor- mieren.

5. Die Beschäftigten in Entscheidungspro- zesse mit einbeziehen.

6. Die Standards für Sicherheit und Gesund- heitsschutz regelmäßig überprüfen.

Textkasten 2 Häufiges Händewaschen und der Kontakt mit Duft- und Konservierungsstoffen belasten die Haut.

Foto:Peter Wirtz

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A3168 Deutsches ÄrzteblattJg. 101Heft 4719. November 2004

abspaltern weisen in der Gruppe der Desinfektionsreiniger beispielsweise die geringste Gefährdung auf.

Für den Umgang mit Chemikalien müssen Handschuhe beständig gegen- über chemischen Stoffen sein. Empfeh- lungen zum Handschuhmaterial, das sich am besten für eine bestimmte Tätigkeit eignet, geben Hersteller der Produkte und auch Handschuh- hersteller. Zum Schutz vor Desinfek- tionsmitteln und Laborchemikalien sind Handschuhe aus Nitrilkautschuk emp- fehlenswert. Eine geringe Wandstärke ist hier in vielen Fällen schon aus- reichend, wodurch sie anwenderfreund- licher im Vergleich zu Haushaltshand- schuhen sind.

Hilfreiche Checklisten

Diese und viele weitere Tipps findet man auf den Internetseiten der BGW unter www.bgw-online.de/virtuell. Hier steht die „Virtuelle Praxis“, ein kom- plettes Informations- und Gefahr- stoffmanagementsystem speziell für Ärzte zur Verfügung. Die Seiten lie- fern Checklisten zum sicheren Um- gang mit Gefahrstoffen, Vorlagen für dokumentationspflichtige Angaben, zum Beispiel in Form von Betriebs- anweisungsentwürfen, und Informa- tionen zu Beschäftigungsbeschrän- kungen. Die „Virtuelle Praxis“ kann auch zur Unterweisung der Mitarbei- ter genutzt werden. Die TRGS 525

„Umgang mit Gefahrstoffen in Ein- richtungen der humanmedizinischen Versorgung“ steht zum Download zur Verfügung.

Die BGW bietet darüber hinaus zu vielen weiteren Themen des Arbeits- und Gesundheitsschutzes, wie Manage- ment gefährlicher Güter im Gesund- heitsdienst, Infektionsgefährdung, Prä- vention von Wegeunfällen und Ergo- nomie, Informationen und Arbeits- hilfen für Arztpraxen an. Eine Zu- sammenstellung kann unter der Fax- nummer 02 21/3 77 25 10 angefordert werden.

Dr. rer. nat. Gabriele Halsen

Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege

Bereich Gefahrstoffe Bonner Straße 337, 50968 Köln

S

eit den 50er-Jahren haben in fast 40 Ländern weltweit Haftungsprozesse gegen die Tabakindustrie stattge- funden. Raucher machten aufgrund von tabakrauchbedingten Krankheiten An- sprüche geltend, Nichtraucher aufgrund von Schäden durch Passivrauchen (1, 2).

Neben den Einzelklägern traten auch 40 US-Bundesstaaten als Kläger gegen die Tabakindustrie auf. Ihnen ging es um die Erstattung der Millionenbeträge, die jährlich im amerikanischen Gesund- heitswesen für die Behandlung der durch Tabakkonsum verursachten Krankheiten aufgewendet werden.

Vergleich mit Bundesstaaten

Die Flut von Klagen erreichte Mitte der 90er-Jahre einen Höhepunkt und ver- anlasste die Industrie, einen Vergleich anzustreben. Da die Bundesregierung in Washington jedoch nicht zu Zuge- ständnissen bereit war, einigten sich die Konzerne im November 1998 nur mit den Bundesstaaten, dem District of Columbia und fünf US-amerikanischen Territorien auf das so genannte Master Settlement Agreement (3, 4). Im Ergeb- nis kommen auf die Tabakindustrie Zahlungen in Höhe von mehr als 200 Milliarden US-Dollar zu, die sie in den nächsten 25 Jahren an die Bundesstaaten leisten muss. Ferner verpflichtete sie sich zur Zahlung von 1,5 Milliarden US- Dollar für eine Aufklärungskampagne über die Gefahren des Tabakkonsums sowie zur Zahlung von 250 Millionen US-Dollar an eine Stiftung, die sich für eine Verringerung des Tabakkonsums bei Kindern und Jugendlichen einsetzt.

Zudem wurden der Industrie Werbebe- schränkungen auferlegt sowie bestimm-

te Lobby-Aktivitäten und der Verkauf von Tabakprodukten an Minderjährige verboten. Im Gegenzug verpflichteten sich die Bundesstaaten, auf weitere Kla- gen zu verzichten. Klagen von Privat- personen und der Bundesregierung bleiben aber weiterhin zulässig (5).

Veröffentlichungen von angesehenen Forschergruppen seit Mitte der 90er-Jah- re und der anschließende öffentliche Diskurs haben darüber hinaus zu einem Wandel der öffentlichen Meinung über die Rolle der Tabakkonzerne geführt.

Sie ließen die Zigarettenhersteller zu- nehmend als Profiteure auf Kosten der öffentlichen Gesundheit erscheinen.

Einen weiteren Höhepunkt der Haf- tungsklagen gegen Tabakkonzerne kün- digte Bill Clinton 1999 in seiner Rede zur Lage der Nation an. Die US-Regie- rung werde Hunderte von Milliarden US-Dollar zurückverlangen, die über das staatliche Medicare-Programm für die Behandlung von tabakrauchbeding- ten Krankheiten aufgewendet wurden, sagte der Präsident (6, 3). Das Verfahren wurde noch im selben Jahr bei einem Bundesgericht im District of Columbia anhängig gemacht. Am 21. September 2004 wurde der Prozess eröffnet.*

Das US-amerikanische Justizmini- sterium hat zur Vorbereitung der Klage am 1. Juli sein Untersuchungsergebnis vorgelegt. Darin beschuldigt es die Tabakindustrie, Öffentlichkeit und Ver-

Haftungsprozess

Tabakindustrie auf der Anklagebank

Die US-Regierung verlangt von den Zigarettenherstellern 280 Milliarden Dollar als Entschädigung für die immensen Behandlungskosten bei tabakrauchbedingten Krankheiten.

*Die rechtswissenschaftliche Literatur zu den Haftungs- grundlagen und den Klagen gegen die Tabakkonzerne ist nahezu unüberschaubar geworden (3). Neben einer Vielzahl von wissenschaftlichen Abhandlungen sind hierzu aber umfangreiche Internetquellen zugänglich (7) sowie regelmäßig erscheinende Zeitschriften, die aus- schließlich über die Tabakklagen berichten (Tobacco Litigation Reporter, Mealey’s Litigation Report und The Tobacco Products Litigation Reporter).

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braucher seit 50 Jahren über das Sucht- potenzial von Zigaretten und die ge- sundheitlichen Folgen des Rauchens zu täuschen. Für besonders gravierend hält das Ministerium den Umstand, dass die Tabakindustrie bewusst eine Strate- gie zur Irreführung der Öffentlichkeit entwickelt hat, die wissenschaftliche Belege in Zweifel ziehen sollte. Die fünf größten Zigarettenhersteller schalteten bereits 1953 in 448 amerikanischen Tageszeitungen eine

ganzseitige Anzeige, in der behauptet wur- de, dass es keine ausreichenden wissen- schaftlichen und me- dizinischen Belege da- für gebe, dass Rauchen Krankheiten verur-

sache. Die Konzerne kündigten außer- dem die Gründung eines „Tobacco Industry Research Committee“ an, das die „unabhängige“ Forschung über mögliche Gesundheitseffekte des Rau- chens fördern solle. Die Tabakindustrie habe in erster Linie ein Interesse an der Gesundheit der Menschen. Die Verant- wortung dafür habe Vorrang vor allen wirtschaftlichen Interessen, hieß es.

Das Tobacco Industry Research Committee diente in der Folgezeit dazu, die Gefahren des Rauchens zu verleugnen, die Öffentlichkeit in Sicherheit zu wiegen und so genannte wissenschaftliche Kontroversen über

den Zusammenhang von Rauchen und Krankheiten zu führen. 1958 gründeten die Mitglieder des Komitees das

„Tobacco Institute“, das viele Funktio- nen des Tobacco Industry Research Committee übernahm. Die einzelnen Tabakkonzerne arbeiteten in den fol- genden Jahren noch enger zusammen, um wissenschaftliche Studien anzugrei- fen, die die Gefahren des Zigaretten- rauchens belegten. Sie finanzierten eigene Forschungspro- gramme, die sich auf Krankheitsursachen- forschung konzentrier- ten, aber die grund- sätzlichen Fragen über die Gefahren des Rau- chens bewusst aus- klammerten. Außer- dem traten von der Tabakindustrie bezahlte Wissenschaftler als Zeugen in Haftungsprozessen auf, um die Geschworenen zu verunsichern und industriefreundliche Urteile zu erwirken.

Das amerikanische Justizministerium belegt auf der Grundlage interner Dokumente der Tabakindustrie, dass diese bewusst eine wissenschaftliche

„Kontroverse“ zur Verunsicherung der Öffentlichkeit führte, um dem überwäl- tigenden wissenschaftlichen Konsens entgegenzuwirken, die Verbraucher in Sicherheit zu wiegen und die Raucher über die Gefährlichkeit ihrer Produkte im Unklaren zu lassen.

Die Entscheidung der Tabakindu- strie, die Gesundheitsgefahren des Rauchens öffentlich zu leugnen, hatte Folgen für alle ihre Aktivitäten. Dem amerikanischen Justizministerium zu- folge verzichteten die Konzerne darauf, Marketing oder Forschung für die

„sichere Zigarette“ zu betreiben, weil sie befürchteten, dass die Verbraucher die bereits auf dem Markt befindlichen Produkte dann als zu gefährlich einstufen und nicht mehr konsumieren würden.

So hatte die Firma Liggett bereits eine Zigarette entwickelt, die deutlich weniger Kanzerogene enthielt. Liggett wurde jedoch von den anderen Herstellern derart unter Druck gesetzt, dass diese Zigarette nie auf den Markt kam.

Nachdem in den 70er-Jahren auch die Gesundheitsgefährdung durch Pas- sivrauchen belegt wurde und sowohl der Gesundheitsminister als auch der Nationale Forschungsrat der Akademie der Wissenschaften zum Ergebnis kamen, dass Passivrauchen bei Nichtrau- chern schwere Gesundheitsschäden, sogar Lungenkrebs verursacht, reagierte die Tabakindustrie mit Angriffen gegen die wissenschaftliche Beweisführung.

1988 gründete sie das „Center for Indoor Air Research“, das die Aufgabe hatte, die Diskussion um die Gefahren des Passivrauchens „kontrovers“ zu führen.

Mit abschreckenden Abbildungen und drastischen Warnhin- weisen auf Zigarettenschachteln hat die Europäische Union (EU) eine 72 Millionen Euro teure Medienkampagne gestartet, um ihren Kampf gegen den Tabakmissbrauch fortzusetzen. Die Fotos zeigen unter anderem vom Krebs zer- fressene Lungen (Bildunterschrift: „Rauchen verursacht tödlichen Lungenkrebs“), einen Toten in der Leichenhalle („Raucher sterben jung“) und einen Mann mit Rachentumor („Rauchen kann zu einem langsamen und

schmerzhaften Tod führen“).

Insgesamt stehen 42 Bilder zur Auswahl, die in Kombination mit den Warnhinweisen verwendet werden sollen. Die EU-Mitglied- staaten können allerdings selbst ent- scheiden, ob sie von den Bildern samt Warnhinweisen Gebrauch machen wollen

oder nicht.

Der derzeit noch für Gesundheit und Verbraucherschutz zuständige EU-Kommissar David Byrne sagte:

„Die Menschen müssen aus ihrer Gleichgültigkeit gegenüber dem Tabak aufgeschreckt werden. Ich entschuldige mich nicht für die

Bilder, die wir einsetzen. Das wahre Gesicht

des Rauchens sind Krankheit, Tod und Schrecken – nicht Glanz und große weite Welt, wie die Werbung der Tabakindustrie uns weismachen will. Die EU muss diese Botschaft den jungen Menschen über ihre Medienkampagnen und den Rauchern über die Zigarettenpackungen nahe bringen.“

Die Wirkung der Bilder wurde an ausgewählten Zielgruppen in allen 25 Mitgliedstaaten getestet. Außerdem deuten Erfah- rungen in Kanada, wo Warnhinweise mit Bildern seit einigen Jahren eingesetzt werden, darauf hin, dass derartige Maßnah- men helfen können, den Nikotinmissbrauch zu reduzieren. ps

Kampf der EU gegen Tabakmissbrauch geht weiter

Das Zigarettenmarketing beeinflusst sowohl die Entscheidung, mit dem Rauchen zu beginnen, als auch die Entscheidung,

weiter zu rauchen.

(5)

Ziel war es, den sich ausbreitenden Nichtraucherschutz zu verhindern.

Aus internen Dokumenten geht her- vor, dass die Tabakindustrie die gesund- heitlichen Folgen des Passivrauchens sehr genau kannte. Dennoch bemühte sie sich über Jahrzehnte, die unabhängi- ge Wissenschaft zu verunsichern. Die Industrie organisierte und finanzierte zahlreiche Konferenzen, öffentliche Ver- anstaltungen sowie eine Flut von Ar- tikeln und Leserbriefen an wissenschaft- liche Zeitschriften. Die Täuschung der Öffentlichkeit über das Passivrauchen wird bis heute fortgesetzt.

Suchtstoff Nikotin

Das Suchtpotenzial des Nikotins kannte die Tabakindustrie bereits seit den 50er- Jahren. Alle Konzerne waren sich einig, diesen pharmakologischen Effekt des Nikotins zu bewahren und zu verstär- ken, damit die Verbraucher abhängig blieben. Deshalb hatte die Industrie auch kein Interesse daran, Nikotin aus dem Tabak zu entfernen, obwohl dies technisch möglich ist. Entgegen einer Vielzahl eigener Untersuchungen täuschten die Tabakkonzerne die Öf- fentlichkeit, indem sie bis in die 90er- Jahre hinein behaupteten, dass ihre Pro- dukte nicht abhängig machten und Rau- chen eine „freie Entscheidung“ sei. Die Firmen leugnen bis heute, dass sie ihre Produkte so manipulieren, dass Zigaret- ten eine ausreichende Dosis von biover- fügbarem Nikotin enthalten. Um der zu- nehmenden öffentlichen Kritik an den Gesundheitsrisiken des Zigarettenrau- chens zu begegnen, entwickelte die Tabakindustrie Filter-

systeme, die die Teer- belastung vermindern und insbesondere den gesundheitsbewussten Rauchern suggerieren sollten, dass diese Zigaretten nicht nur

„leicht“, „ultraleicht“

oder „mild“ seien, sondern auch sicherer

als reguläre „full flavour“-Zigaretten.

Dabei wusste die Industrie bereits seit den 60er-Jahren, dass ein „Light“- Raucher keineswegs weniger Gesund- heitsschäden zu erwarten hat.

Als Meisterleistung der Täuschung von Verbrauchern und Behörden kann man die von der Tabakindustrie vorge- schlagene Testmethode bezeichnen, die 1967 von der Federal Trade Commission eingeführt wurde. Da-

bei misst eine Rauch- maschine beim kon- trollierten Abbrennen einer Zigarette deren Teer- und Nikotin- gehalt. Dass diese Rauchmaschine nie- mals das menschliche Rauchverhalten abbil- det, war der Tabakin- dustrie von Anfang an klar, jedoch nicht den Behörden. Den Fir- men war bewusst, dass Raucher von „Light“- Zigaretten kompensa- torisch tiefer inhalie- ren, den Rauch länger

in ihren Lungen behalten und den Zigarettenfilter stärker mit Fingern oder Lippen abdichten.Außerdem konsumie- ren diese Raucher in der Regel mehr Zigaretten als zuvor, um eine ausrei- chende Nikotindosis zu erhalten. Die Folge: „Light“-Raucher nehmen höhere Teer- und Nikotinmengen auf.

Ein weiterer schwerwiegender Vor- wurf gegen die Tabakindustrie betrifft die fortgesetzte Marketingstrategie, die sich an Kinder und Jugendliche richtet.

Um die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen für ihre Werbestrategien genau zu erfassen, informierte sich die Tabakindustrie bei Herstellern von Kinderspielzeug und Marktforschungs- instituten. Nach wie vor thematisieren die Werbekampagnen Unabhängigkeit, Frei- heit, Attraktivität, Abenteuerlust, Gla- mour, Sport, soziale Akzeptanz, sexuelle Attraktivität, Schlank- heit, Beliebtheit, Re- bellion und Individua- lität. Platziert ist die Werbung genau dort, wo sich Kinder und Jugendliche aufhal- ten. Sowohl firmeneigene Untersuchun- gen als auch unabhängige Wissenschaft haben die Wirksamkeit der Werbestrate- gien belegt. Das Zigarettenmarketing

beeinflusst sowohl die Entscheidung, mit dem Rauchen zu beginnen, als auch die Entscheidung, weiter zu rauchen.

Darüber hinaus wirft das Justizmini- sterium der Tabakindustrie vor, sie habe Dokumente und Un- terlagen der letzten 50 Jahre zerstört oder unterschlagen. Damit wolle sie verhindern, dass die Öffentlichkeit die Wahrheit über die verheerenden Ge- sundheitsschäden des Rauchens und das Suchtpotenzial von Nikotin erfährt.Außer- dem wollten die Kon- zerne damit die Haf- tung für tabakrauch- bedingte Gesundheits- schäden in Rechts- auseinandersetzungen vermeiden oder auf ein Minimum begrenzen und regula- torische Eingriffe des Gesetzgebers, insbesondere Werbebeschränkungen, verhindern.

Das Beweismaterial des Justizmini- steriums verdeutlicht, dass ausreichend Belege für eine bewusste Täuschung der Öffentlichkeit mit dramatischen Folgen für die öffentliche Gesundheit vorliegen. Deshalb verlangt die US- Regierung von der Tabakindustrie 280 Milliarden US-Dollar – die Gewinne aus dem Zigarettenverkauf an die- jenigen Raucher, die in ihrer Jugend tabakabhängig gemacht wurden.

Die Entscheidung des Bundesge- richts über diese bislang größte Zivil- klage gegen die Tabakindustrie ist nicht in Kürze zu erwarten. Doch das Beweis- material ist ein Meilenstein in der Beweisführung gegen die Hersteller.

Es belegt, dass diese wissentlich und willentlich Produkte herstellen und an Kinder und Jugendliche vermarkten, die bei bestimmungsgemäßem Ge- brauch einen Großteil der Konsumenten abhängig und krank machen und vorzeitig sterben lassen.

Dr. med. Martina Pötschke-Langer

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A3172 Deutsches ÄrzteblattJg. 101Heft 4719. November 2004

Aktions-Plakat der US-Initiative

„Campaign for Tobacco-Free Kids“

Die Tabakindustrie habe in erster Linie ein Interesse an der Gesundheit der Menschen.

Die Verantwortung dafür habe Vorrang vor allen wirtschaftlichen

Interessen, hieß es.

Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literatur- verzeichnis, das im Internet unter www.aerzteblatt.de/

lit4704 abrufbar ist.

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