DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
Heft 1 vom 5. Januar 1978
Zur Fortbildung Aktuelle Medizin
Die sogenannte
„schmerzhafte Armlähmung bei Kleinkindern"
Pathogenese, Diagnose und Therapie der Chassaignac-Lähmung
Dieter Armbruster, Peter Brüser
Aus der II. Chirurgischen Universitätsklinik der Universität Köln (Direktor: Professor Dr. Wilhelm Schink)
Wenn ein kleines Kind beim Spiel von Erwachsenen an den Armen gehalten und im Kreis herumgeschleudert wird oder wenn es ausrutscht und vom Erwachsenen am Arm hochgerissen wird, entsteht relativ häufig das Krankheits- bild der „schmerzhaften Arm- lähmung". Es handelt sich da- bei um keine nervale Armläh- mung, sondern um eine Sub- luxation des Radiusköpf- chens.
Die sogenannte „schmerzhafte Arm- lähmung" ist bei Kleinkindern zwi- schen zwei und vier Jahren ein rela- tiv oft auftretendes und häufig nicht erkanntes, fehlgedeutetes Krank- heitsbild.
Pathogenese
Das Krankheitsbild entsteht immer dann, wenn der Arm des Kindes plötzlich gestreckt, gezerrt und su- piniert wird. Die dazu führenden Be- wegungsabläufe resultieren aus ganz typischen Unfallmechanismen:
a) Das Kleinkind wird vom Erwach- senen oder Jugendlichen an den Ar- men durch die Luft im Kreise herum- geschleudert.
lenks, speziell der Articulatio hume- ro-radialis, sind die Grundlage für das Zustandekommen dieses typi- schen Krankheitsbildes: So ist das Radiusköpfchen bis zum fünften Le- bensjahr im Durchmesser nicht grö- ßer als der Halsteil. Die Kegelform des Speichenköpfchens ist bis zum fünften Jahr noch wenig ausge- prägt. Ferner ist die Kapsel beim Kleinkind wesentlich dehnbarer als beim Erwachsenen. Schließlich ist das Ringband beim Kind besonders an der Stelle der Einstrahlung des radialen Seitenbandes nur schwach entwickelt. Somit stellt die
„schmerzhafte Armlähmung der Kleinkinder" eine Subluxation des Radiusköpfchens mit innerer Ring- bandeinklemmung dar.
b) Das Kleinkind, das von Erwachse- nen an der Hand gehalten wird, rutscht plötzlich aus.
Durch diese typischen Unfallmecha- nismen schlüpft das Capitulum radii teilweise aus der Schlinge des Liga- mentum anulare, wobei gleichzeitig das Ringband innen eingeklemmt wird.
Die besonderen anatomischen Ver- hältnisse des Kinder-Ellenbogenge-
Diagnose und Therapie
Anamnese, das heißt Unfallmecha- nismus und klinisches Bild sind so typisch, daß die Diagnose direkt und ohne Röntgenbild gestellt werden kann. Die Therapie ist einfach. Häu- fig kommt es zur spontanen Reposi- tion während der Untersuchung. Die Reposition erfolgt sonst durch Zug am maximal supinierten Unterarm und anschließende Beugung im Ellenbogengelenk.
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Zur Fortbildung Aktuelle Medizin Chassaig nac-Läh m u ng
Darstellung 1: Radiusköpfchen und -hals eines Kindes. fehlende Kegel- form
Diagnose
~ typische Anamnese = Unfallme- chanismus
~ schlaffes Hängenlassen des Ar- mes ohne ersichtlichen Grund
~ umschriebener Druckschmerz im Bereich des Radiusköpfchens
~ Adduktion des Armes. Pronation des Unterarmes, leichte Beugung des Ellenbogengelenkes
~ fehlende Schwellung, keine Fehl- stellung, erhaltene Funktion
~ sofortige Schmerzfreiheit nach erfolgter Reposition
Therapie
~ Reposition
~ Streckung am maximal supinier- ten Unterarm
Darstellung 2: Subluxation des Ra- diusköpfchens mit Interposition des Ringbandes (Chassaignac-Lähmung)
~ Beugung im Ellenbogengelenk Zu achten ist bei der ,.schmerzhaf- ten Armlähmung bei Kleinkindern"
auf Nebenverletzungen. ln Betracht kommen vor allem Frakturen der Clavicula, des Ober- und Unterarms, sowie traumatische Epiphysenlö- sungen. Frakturen und Epiphysenlö- sungen sind durch die früh nach- weisbare Schwellung, Fehlstellung und Functio laesa gut abzugrenzen und erfordern dann Röntgenkon- trollen mit Vergleichsaufnahmen der gesunden Seite.
Rezidive treten bei der ,.schmerzhaf- ten Armlähmung" gewöhnlich nicht auf. Zur Nachbehandlung sollte man den Eitern empfehlen, den betroffe- nen Arm in den nächsten drei Wo-
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Darstellung 3: Radiusköpfchen und -hals eines Erwachsenen mit ausge- prägter Kegelform
chen zu schonen, das heißt, das Kind an dem betroffenen Arm nicht zu führen.
Literatur
Chassaignac, C. M.: Arch. gen. Med. (1856) 653 - Reismann, B.: chir. Praxis 15 (1971) 449-450 - Grob, M.: Lehrbuch der Kinderchirurgie.
Thieme, Stuttgart, 1957 - Sasse, W., Oelsner, S., Backmann, L.: Münch. med. Wschr. 12 (1967) 655-Heinrich, G., Mordeja, J.: Langen- becks Arch. klin. Chir. 309 (1965) 256
Anschrift der Verfasser:
Dr. med. Dieter Armbruster Dr. med. Peter Brüser
II. Chirurgische Universitätsklinik Ostmerheimer Straße 200 5000 Köln-Merheim