• Keine Ergebnisse gefunden

OPUS 4 | Was brauchen die Kleinen?

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "OPUS 4 | Was brauchen die Kleinen?"

Copied!
100
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

KitaDebatte_2-2008 RZ 26.11.2008 11:48 Uhr Seite 1

Was brauchen die Kleinen?

JUGEND

Ministerium für Bildung, Jugend und Sport

Presse- und Öffentlichkeitsarbeit Heinrich-Mann-Allee 107 14473 Potsdam

E-mail: poststelle@mbjs.brandenburg.de Internet: www.mbjs.brandenburg.de

KITADEBATTE 2/2008 Was brauchen die Kleinen?

LAND

BRANDENBURG

M i n i s t e r i u m f ü r B i l d u n g , J u g e n d u n d S p o r t

(2)

Was brauchen die Kleinen?

(3)

1. Auflage, Dezember 2008

Herausgegeben vom: Ministerium für Bildung, Jugend und Sport (MBJS) Presse- und Öffentlichkeitsarbeit

Heinrich-Mann-Allee 107, 14473 Potsdam Internet: www.mbjs.brandenburg.de E-Mail: poststelle@mbjs.brandenburg.de Redaktion: Sabine Karradt, Ralf Kohlberger

Fotos: privat, Archiv

Der seit Januar 1998 ehrenamtlich tätige Redaktionsbeirat KITADEBATTE unterstützt bei Themen- findung und Realisierung die KitaDebatte. Für die Ausgabe 2/2008 kamen Zuarbeiten von Petra El- lenberg, Jugend- und Sozialwerk gGmbH, Karin Herrmann, Praxisberaterin/Supervisorin, Landkreis Märkisch-Oderland, Brunhilde Simke, Praxisberaterin, Landkreis Spree-Neiße.

Layout/Druck: GS Druck und Medien GmbH, Potsdam Umschlaggestaltung: schütz brandcom gmbh

Die namentlich gekennzeichneten Beiträge entsprechen nicht in jedem Fall der Meinung des Herausgebers und der Redaktion.

Internetpräsenz:

Als aktuelle Informations- und Recherchequelle wurde das MBJS-Internetportal aufgebaut. Unter www.mbjs.brandenburg.de/kita/kita-startseitegelangen Interessierte zu den speziellen Angebo- ten im Bereich der Kindertagesbetreuung. Zu finden sind u.a. Informationen zu Recht und Struktur, zur Pädagogik und zu statistischen Daten sowie die Online-Version der Broschüren KitaDebatte.

Über den Button „Online-Bibliothek“ öffnet sich eine Datenbank. Sie können über eingerichtete In- ternetforen mit Mitarbeitern des MBJS in Kontakt kommen.

(4)

Seite Vorwort...5 Sprachförderung von Anfang an

Anna Winner...7 Ohne Bindung keine Bildung – Während der Eingewöhnung keine Fortbildung

Monika Bekemeier, SFBB – Fachbereich Kindertagesbetreuung...24 Die Phase der Eingewöhnung gemeinsam gestalten

Leni ist 1 Jahr und sieben Monate alt und meistert die Eingewöhnung

Brunhilde Simke ...32 Sauber werden ist eine Leistung des Kindes

Kaum ein anderes Thema beschäftigt Erwachsene in der Erziehung so sehr wie die Sauberkeitserziehung Astrid Sult, Barbara Schmitz...35 Das eigene Tun als Motor kindlicher Bildungsprozesse

Pädagogische Fachkräfte unterstützen Kinder auf dem Weg

Astrid Sult, Barbara Schmitz...38 Was brauchen die Kleinen? Erzieherinnen in die Planung einbeziehen

Erfahrungen einer Erzieherin bei der Mitarbeit in der Arbeitsgruppe Kita-Neubau in Brieselang

Ruth Woityczka...42 Auch für die Jüngsten Lernsituationen in der Kita schaffen

Krippen-Team der Integrationskindertagesstätte „Am Schlosspark“ in Oranienburg Karin Knorr, Evelyn Banzhaf, Harried Reher, Andrea Hoffer,

Jeanette Birkner und Sylvia Rabensdorf...46 Für Familien ein Ort der Begegnung und Bildung

In der Kita „Pusteblume“ in Eisenhüttenstadt gibt es Angebote für Kinder ohne Rechtsanspruch von null bis drei Jahren

Rita Schamberger ...50

Inhaltsverzeichnis

(5)

Pferde malen und einander Pferde-Geschichten erzählen

Integrative Kita „Sonnenschein“ in Brandenburg/Havel über die Projektarbeit mit fünf- bis sechsjährigen Kindergartenkindern

Gerda Lukat...52

Männer in die Kita Eine tätigkeitsbegleitende Qualifizierung arbeitsloser Männer zu Fachkräften Detlef Diskowski, Leiter des Referats „Kindertagesbetreuung und familienunterstützende Angebote im Ministerium für Bildung, Jugend und Sport (MBJS)...65

Männer in die Kita – ein Projekt Tätigkeitsbegleitende Qualifizierung arbeitsloser Männer als Fachkräfte im Kita-Bereich Christiane Ehmann, Dipl.-Päd., Christian Bethke, Geschäftsführendes Vorstandsmitglied, Berliner Institut für Frühpädagogik (BlfF), Berlin ...71

Bewegung à la Hengstenberg Eine Fortbildung zu den Methoden der Reformpädagogin Elfriede Hengstenberg Ute Starke, Kita Neuhardenberg...76

WAS-WAnn-WO Konsultationskita „Nesthäkchen“ und „Pusteblume“ in Eberswalde...80

Konsultationskita „Rappelkiste“ in Vetschau/Spreewald...81

Sozialpädagogisches Fortbildungsinstitut Berlin-Brandenburg Aktuelles aus dem SFBB – Fachbereich Kindertagesbetreuung ...82

Leitungsqualität in brandenburgischen Kindertageseinrichtungen...85

Internetangebote des MBJS ...88

FAcHLITERATUR – REzEnSIOnEn – AnKÜnDIGUnGEn Tiere auf dem Bauernhof ...92

Eine kleine Hasenschwester für Karl...93

Viele bunte „Wimmel-Bilder“ ...94

Kitas im Land Brandenburg/Grafik...96

(6)

Liebe Erzieherinnen und Erzieher, liebe Eltern, die Beiträge der aktuellen KitaDebatte „Was brauchen die Kleinen?“ machen deutlich: Wenn wir kindliche Entwicklungsprozesse erfolgreich begleiten wollen, brauchen wir kontinuierliche Verbesserungen der Qualität in Kindertagesseinrichtungen. Die Bedürfnis- se von Kindern und die Anforderungen an Erzieherin- nen und Erzieher entwickeln sich ständig weiter. Auf die Frage, was Kinder brauchen, kann es deshalb keine endgültige Antwort geben, sondern es müssen ständig neue Antworten gesucht und gegeben wer- den.

Das zeigen schon die Veränderungen der vergange- nen Jahre, in denen wir eine Reihe von Initiativen ge- meinsam erfolgreich umgesetzt haben, etwa:

– die Verbesserung der Bildungsarbeit in Kindertagesstätten mit den „Grundsätzen elementarer Bildung“, – die Früherkennung von Entwicklungsbeeinträchtigungen mit den „Grenzsteinen der Entwicklung“ und – die Förderung sprachauffälliger Kinder im letzten Kita-Jahr.

Zudem haben wir die Zusammenarbeit von vorschulischem Bereich und Grundschule verbessert, unter an- derem mit dem Ziel der frühzeitigeren Einschulung und der differenzierteren individuellen Förderung in der Flexiblen Eingangsphase.

Nicht nur in der Fachöffentlichkeit, sondern auch in den Medien wird über die Verbesserung der Qualität der Kindertagesbetreuung diskutiert. In den zurückliegenden Ausgaben hat auch die KitaDebatte das Thema mit Beiträgen aus der Praxis immer wieder dargestellt und diskutiert.

Das Land Brandenburg nimmt mit der vorhandenen Ausstattung an Kitaplätzen einen anerkannt guten Platz im bundesweiten Vergleich ein. Ich verstehe aber auch, dass viele Fachkräfte darüber enttäuscht sind, dass es kurzfristig nicht möglich ist, der qualitativen Entwicklung der Arbeit in unseren Kindertages- stätten bspw. durch eine Verbesserung des Betreuungsschlüssels einen zusätzlichen Impuls zu geben. Ich kann Ihnen versprechen, dass ich mich entschieden dafür einsetzen werde, dass es in der nächsten Legis- laturperiode zu einer Verbesserung kommt. Daher meine Bitte: Arbeiten Sie weiterhin motiviert daran mit, die Qualität der Arbeit in unseren Kitas Schritt für Schritt zu verbessern.

Vorwort

(7)

Die aktuelle KitaDebatte mit dem Titel „Was brauchen die Kleinen?“ konzentriert sich auf die Bedürfnisse der unter Dreijährigen. Die Autorinnen und Autoren gehen in ihren Beiträgen exemplarisch auf die Beson- derheiten dieser Altersgruppe ein, etwa bei der Eingewöhnung, bei der Schaffung von speziellen Lern - situationen für die Kleinsten oder bei der Sauberkeitserziehung.

Besonders spannend finde ich den Erfahrungsbericht einer Erzieherin über den Kita-Neubau in ihrer Gemeinde. Sie konnte bereits bei der Planung des zukünftigen Gebäudes eigene Vorstellungen und ihre Berufserfahrung einbringen. Ich bin davon überzeugt: Die Gemeindevertreter und Planer tun gut daran, die künftigen Nutzer des Gebäudes als Partner zu betrachten und einzubeziehen. Von der Gestaltbarkeit des Raumangebots sowie von der vorhandenen Ausstattung hängt es letztlich entscheidend ab, ob die Arbeit der Erzieherinnen gefördert oder behindert wird.

Ein weiteres Alltagsbeispiel beschreiben Erzieherinnen aus Oranienburg. In der Integrationskindertages- stätte „Am Schlosspark“ haben sie ihr pädagogisches Konzept kritisch überprüft – und das hat sowohl die räumliche Ordnung als auch die inhaltliche Arbeit in der Einrichtung verändert. Die Eltern konnten ihre Vorstellungen in Gesprächsrunden einbringen und den Veränderungsprozess zu jedem Zeitpunkt hinter - fragen, um zu gemeinsamen Lösungen zu finden.

Wie kindliche Bildungsprozesse angeregt und begleitet werden, dokumentiert der Text „Das eigene Tun als Motor...“. Ausgehend von den festgelegten Bildungsbereichen bauen die Autorinnen auf die Entwicklung kindlicher Kompetenzen als entscheidendem Motor in der frühkindlichen Bildung und geben so einen Impuls für den Kita-Alltag.

„Männer in die Kita – ein Projekt“ ist ein gutes Beispiel, wie Entwicklungsmöglichkeiten aus brandenburgi- schen Kitas als Anregung weitergegeben werden. Im Jahr 2005 begannen zwanzig Männer aus Cottbus und dem Landkreis Spree-Neiße die Qualifizierung zum Erzieher, 18 Teilnehmer erhielten schließlich eine Gleichwertigkeitsfeststellung zum staatlich anerkannten Erzieher in Kindertagesstätten. Weitere solche Projekte sollen noch in diesem Jahr in anderen Regionen des Landes folgen. Ich begrüße es sehr, wenn die

„männliche Sicht“ bei der Erziehung in den Kitas verstärkt wird – auch das brauchen unsere Kinder.

Ich wünsche Ihnen viel Spaß und zahlreiche Anregungen bei der Lektüre der aktuellen KitaDebatte!

Holger Rupprecht

Minister für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg

(8)

Anna Winner

Das Wort „Förderung“ besitzt im Deutschen un- terschiedliche Bedeutungen, die in der Pädago- gik oft zu Missverständnissen führen.

Im heilpädagogischen Kontext wird Förderung so verstanden: Ein Mensch mit einer seeli- schen, körperlichen oder geistigen Beeinträchti- gung oder mit einem Mangel an sozialen Res- sourcen soll möglichst früh gefördert werden, damit aus dieser Beeinträchtigung keine Behin- derung in seinem Leben resultiert. Förderung wird hier kompensatorisch verstanden.

Defizite sollen ausgeglichen werden. Sprachför- derung nimmt hier Kinder in den Blick, bei denen eine Beeinträchtigung diagnostiziert wurde und das Risiko besteht, dass sie in ihrer Sprachentwicklung behindert werden.

Es werden aber auch Förderpreise verliehen für Menschen mit besonderen Kompetenzen auf einem Gebiet, z.B. der Kunst. Wir fördern hoch- begabte Kinder und gründen Musik- oder Sport- Gymnasien, auf denen Kinder besonders geför- dert werden sollen. Förderung bedeutet hier, einem Menschen zu helfen, ihn zu unterstützen, damit er seine Kompetenzen weiterentwickeln kann. Wir haben hier die Stärken, nicht die Defizite im Blick.

Schließlich verstehen wir unter „Förderung“ das Herstellen einer anregungsreichen Umge- bung, das Ermöglichen von Selbstbildungspro- zessen, die Ermutigung, Schritte ins Ungewisse zu wagen.

Gemeinsam ist all diesen Förder-Begriffen, dass der einzelne Mensch von anderen Men- schen unterstützt wird, damit er sich umfas- send entwickeln kann.

Jeder Mensch braucht die Unterstützung sei- ner Gesellschaft, um seine Fähigkeiten zu entwickeln. So verstandene Sprachförderung bedeutet: Alle Kinder brauchen Förderung, damit sie ihre kommunikativen und kogniti- ven Fähigkeiten mithilfe einer oder mehrerer Nationalsprachen entwickeln können. Nur in einer sprechenden (und zuhörenden) Umge- bung entwickeln Kinder Sprache. Und wie gut dies gelingt, wird neben den biogeneti- schen und autogenen Faktoren entscheidend von der Qualität der Menschen beeinflusst, die die Kinder umgeben. Solche Sprachför- derung brauchen alle Kinder und zwar von Geburt an.

So verstehe ich Sprachförderung und möch- te mich im folgenden Text auf die ersten Kindheitsjahre konzentrieren, weil in dieser Zeit die Grundlagen gelegt werden. Meine Frage lautet:

„Was können Erzieherinnen und Erzieher in Kindertageseinrichtungen tun, damit alle Kinder ihre Sprachkompetenzen gut entwickeln können?“

Um diese Frage zu beantworten, möchte ich zuerst einmal deutlich machen, wie ich Spra- che definiere, welche Bedeutungen ich mit Sprache verbinde.

Sprachförderung von Anfang an

(9)

Was Sprache für den Menschen bedeutet In meinen Fortbildungen frage ich die Teilneh- merinnen und Teilnehmer zu Beginn meist, was sie mit dem Wort „Sprache“ verbinden, und bitte sie, etwa fünf Assoziationen zu nennen.

Unabhängig von Beruf, Geschlecht und Alter der Antwortenden werden häufig folgende Be- griffe genannt: Verständigung, Verstehen, Ver- ständnis, Kommunikation, Kontakte, Kontakt- aufnahme, Beziehungen, Austausch mit Mit- menschen, Bedürfnisse äußern.

Oft finden sich noch folgende Aussagen: Unter- haltung, Spaß haben, Geselligkeit, Witze ma- chen, Austausch von Informationen, Mitteilung, Denken, Entwicklung, Reden, Laute, Worte, Sätze, Mimik, Gestik, Lesen, Hören, Erzählen, Fremdsprachen, Urlaub.

Vereinzelt werden genannt: Ausbildung, Schule, Lernen, Erfolg, Missverständnis, Sprachbarrie- ren, Streiten, Grammatik.

Wie jeden anderen Gegenstand definieren wir auch Sprache nicht nur nach der „äußeren Ge- stalt“, nach der Form, dem Material, den Struk- turen. Viel bedeutsamer erscheint uns im Alltag, wofür wir diesen Gegenstand brauchen können, welchen Funktionen er dient, was Sprache für den Menschen bedeutet. Um die Funktion von Sprache zu verdeutlichen, beschrieb der grie- chische Philosoph Platon Sprache vor ca. 2400 Jahren als ein Werkzeug (altgriechisch: „organ- on“), das dazu dient, „ „einander etwas mitzutei- len über die Dinge“. Diesen Werkzeugbegriff dürfen wir ruhig wörtlich nehmen, auch wenn es sich bei Sprache nicht um ein materielles, son-

dern um ein psychisches Werkzeug handelt.

Sprache besitzt alle Eigenschaften eines Werkzeugs, und Kinder entwickeln den Um- gang mit diesem Werkzeug genauso wie den mit allen anderen Werkzeugen.

Das Werkzeug Sprache

Das Werkzeug Sprache braucht der Mensch, um Verständigung „herzustellen“ (Kommunikati- on) und um Erkenntnisse zu „gewinnen“ (Kogni- tion). Nur der Mensch besitzt dieses wunderba- re Werkzeug, mit dem es ihm gelingt, individuel- les Wissen mit anderen Menschen zu kommuni- zieren und von den Erfahrungen anderer zu pro- fitieren. Wie jedes Werkzeug hat auch Sprache eine Form, eine Struktur, einen Mechanismus, besteht auch Sprache aus verschiedenen Mate- rialien.

Um dieses Werkzeug mit all seinen Facetten und Möglichkeiten selbstständig nutzen zu kön- nen, braucht es viele Jahre; und im besten Fall entwickelt sich unsere Sprache ein Leben lang.

Die Entwicklung einer Muttersprache dauert in etwa 18 Jahre. Im Jugendalter werden unsere Sprache und unser Denken noch einmal quali- tativ verändert, unsere „Hardware“ im Gehirn wird in dieser Zeitspanne kräftig durchgerüttelt.

Die Schule ist dabei ein wichtiger Ort, an dem die Sprachkompetenz erweitert wird.

Nicht alle Menschen werden zu Meisterinnen an diesem Instrument, können Gedichte verfassen oder Bücher schreiben. Das erwartet auch nie- mand. Aber selbst erwachsene und ausgereifte Muttersprachler brauchen ein Leben lang sprachliche Anregungen, um nichts zu verges- sen und fit zu bleiben.

(10)

Faktoren der Sprachentwicklung

Die ersten vier Lebensjahre sind für die Sprach- entwicklung von großer Bedeutung. In den er- sten vier Lebensjahren erfinden Kinder die Sprache in gewissem Sinne neu. Sie entdecken die Funktionen von Sprache, sie beginnen, sprachliche Strukturen nach eigenen Konzep- ten zu konstruieren, und haben eine Strategie entwickelt, wie sie mit ihren individuellen organi- schen Bedingungen Sprachlaute so bilden kön- nen, dass sie auch von Erwachsenen verstan- den werden, die ihnen fremd sind.

Sprachentwicklung ist ein aktiver Prozess, der durch bloße Aneignung einer Erwachsenen- sprache nicht erklärt werden kann. Kinder kön- nen Sprache nur entwickeln, wenn sie dafür einen sozialen und kulturellen Nährboden fin- den. Sie brauchen Erwachsene, die ihnen Spra- che als Mittel der Kommunikation und des Den- kens vorleben. Vor allem drei Kompetenzen müssen Kinder an den Erwachsenen entdecken können:

• die Fähigkeit zur Empathie, Einfühlungsver- mögen;

• die Fähigkeit, Symbole zu nutzen und zu verstehen;

• die Fähigkeit, Sachverhalte zu begreifen und Begriffe zu bilden.

Einfühlungsvermögen

Die Verhaltensbiologie verblüfft uns immer wie- der mit Ergebnissen, wie gut Tiere denken und kommunizieren können. Was sie vom Men- schen unterscheidet, das ist die fehlende Ver- bindung dieser beiden Fähigkeiten. Nur Men- schen können individuelle Erfahrungen anderen Menschen mitteilen. Die Gans hingegen steckt

andere Gänse mit ihrem aufgeregten Geschnat- ter zwar an, aber sie kann ihnen nicht mitteilen, was sie gesehen hat.

Nach Tomasello können wir Denken und Kom- munikation verbinden, weil wir die biologische Ausstattung haben, andere Menschen als „in- tentionale Akteure“, als absichtsvoll Handelnde zu erkennen. Die Menschen unterstellen ihren Mitmenschen bei jeder Handlung eine Absicht – eine spezifisch menschliche Macke, könnte man sagen. „Das habe ich nicht mit Absicht ge- macht.“ gilt schon bei Kindern als Entschuldi- gung und „Das hat der mit Absicht gemacht.“ als große Gemeinheit. Deshalb können Menschen in einer „sozialen Situation auch nicht kommuni- zieren“, wie Paul Watzlawick betont, denn jede Interaktion wird als Botschaft interpretiert.

Um eine Absicht erkennen zu können, müs- sen wir die Perspektive wechseln.Wir müs- sen die Situation mit den Augen des anderen Menschen betrachten, seine Sichtweise einneh- men.

Nur wir Menschen verfügen über diese einzigar- tige, biologische Fähigkeit, die Fähigkeit zur Empathie. Wir können uns in andere Individuen hineindenken, können die Gedanken anderer Menschen „lesen“ und deren Absichten verste- hen, auch wenn unsere Annahmen nicht immer korrekt sind.

Die Wissenschaft ist sich noch nicht ganz einig darüber, ob diese Fähigkeit von Geburt an vor- handen ist oder ob sie in den ersten acht Mona- ten reift. Erwiesen ist aber, dass die Art und Weise, wie Erwachsene in den ersten Monaten

(11)

mit einem Säugling kommunizieren, für die Ent- wicklung dieser Fähigkeit besonders wichtig ist.

Die Erwachsenen lehren das Kind Absichten verstehen, indem sie versuchen, die Botschaf- ten des Kindes zu entschlüsseln, und die Äuße- rungen des Kindes interpretierend nachahmen.

Bei Neugeborenen sind die Sprechorgane und der Hörsinn im Normalfall voll entwickelt. Be- reits mit wenigen Wochen modifizieren die Säuglinge ihr Schreien, wohlige Gurrgeräu- sche, hohe Laute und ganze „Sprechmelodien“

kommen dazu. All dies geschieht noch unbe- wusst, noch kann der Säugling seine Äußerun- gen nicht steuern. Auch das Verhalten der Er- wachsenen ist anfangs unbewusst. Sie sind es nämlich, die jetzt den Säugling nachahmen.

Sie greifen die Laute des Kindes auf und ver- binden sie mit einer sinnvollen Aussage in ihrer Sprache. Produziert das Baby z.B. ein Brum- men auf einer niedrigen Tonhöhe, greift die Mutter diese Äußerung auf und antwortet in gleichem Tonfall: „Ja, was musst du denn so schimpfen?“ Oder: „Ja, du bist ja heute ein richtiger Tiger.“ Auf große Tonhöhenschwan- kungen und Melodiebogen aus Vokalen rea- giert sie vielleicht mit Sätzen wie „So gut geht es meinem Liebling heute.“ Oder: „So viel kannst du schon erzählen.“

Entscheidend ist bei diesen Gesprächen die Ähnlichkeit des Tonfalls. Dabei entdeckt das Kind, dass es mit Lauten und Geräuschen das Verhalten der Erwachsenen beeinflussen kann, dass bestimmte Laute bei den Erwach- senen ähnliche Äußerungen provozieren. Das Kind kann so seine Urheberschaft spüren, es kann Wirkungen erzielen. Es entdeckt die

kommunikative Funktion von Sprache.Zu- nehmend wird das Kind nun auch umgekehrt versuchen, die erwachsenen Gesprächspart- ner zu imitieren.

In solchen Gesprächen gibt es erfolgreiche und weniger erfolgreiche Laute, denn während das Kind sechs, acht Monate lang noch alle Sprachlaute der Welt ausprobiert, können die Erwachsenen nur noch mit ihren Sprachlauten antworten. So wächst das Kind in das Lautre- pertoire einer Nationalsprache hinein. Dieses Verhalten finden wir in allen Sprachen der Welt.

Es genügt nicht, Kleinkindern Laute vorzusa- gen, damit sie sie nachbilden können. Mit stimmlichen Äußerungen müssen kommu- nikative Absichten verfolgt werden. Der Säugling wächst in den ersten Monaten in eine Kommunikationskultur hinein, die ihn prägen wird. Er wird erleben, ob die Erwachsenen Be- reitschaft zeigen, sich auf Verständigung ein- zulassen, auch wenn sie über Worte noch nicht gelingen kann. Er merkt aber: Hier gibt es je- manden, der mich verstehen will – egal, mit welchem Mittel ich mich ausdrücke.

Im Spiel zwischen Kleinkindern lässt sich be- obachten, dass sie unterschiedliche Kommuni- kationsmittel einsetzen, auch wenn sie noch nicht über Worte verfügen. Sie blicken einan- der an, berühren einander, machen Gesten und begleiten all dies durch angemessene stimmliche Äußerungen. Dabei erfahren sie, dass ihre stimmlichen und mimischen Verhal- tensweisen zu bestimmten Reaktionen führen, bevor sie sie bewusst und zielgerichtet einset- zen können.

(12)

Es sind also die Erwachsenen, die dem Kind vorleben, wie es gelingen kann, sich in andere hineinzuversetzen. An diesem Modell entwickelt das Kind seine Empathie und kommuniziert.

Sehr anschaulich beschreiben Brodin & Hylan- der diesen Prozess in ihrem Buch „Wie Kinder kommunizieren“: „Bisher geschah die Interakti- on als unmittelbare Reaktion auf äußere Hand- lungen, ohne dass das Kind die dahinter liegen- den psychischen Zustände begreifen konnte.

Es ahmte nach und entdeckte dabei: „Wenn ich schreie, kommt Mama mit Essen.“ Nun nimmt es eine neue Empfindung wahr. Ein anderer versteht, was es bedeutet hungrig zu sein.

„Mama kommt mit Essen, weil sie selbst das Gefühl von Hunger kennt und deshalb weiß, wie ich mich fühle, wenn ich hungrig bin“. (Brodin &

Hylander 2002, S. 73)

Es kommt also darauf an zu verstehen, was das Kind meint, und nicht nur zu hören, was es sagt oder eben nicht sagt.

„Es ist Essenszeit. Andreas (22 Monate) sitzt mit den anderen Kindern am Tisch. Heute hat es ihm besonders gut geschmeckt. Nachdem er aufgegessen hat, streckt er sich über den gan- zen Tisch, um die Schüssel zu erreichen und sie zu sich herzuziehen. Die Erzieherin hält die Schüssel fest und sagt fragend: „Andreas, möchtest du noch etwas?“ Andreas schaut sie an, dann schaut er die Schüssel an und hält die Hand weiter ausgestreckt. Die Erzieherin hält die Schüssel fest und wiederholt: „Andreas, möchtest du noch etwas?“ Ihr Blick, ihre Haltung und ihre Gestik signalisieren einem anderen Er- wachsenen: „Andreas, ich möchte, dass du mir eine sprachliche Antwort gibst. Ich möchte, dass

du zumindest ja oder nein sagst.“ Aber was ver- steht Andreas in dieser Situation, in der für ihn ein großer Erfolgsdruck besteht? Er möchte doch so gerne noch etwas essen. Andreas spürt, dass die Erzieherin sein Anliegen ver- standen hat. Trotzdem hilft sie ihm nicht, son- dern hält die Schüssel fest. Vielleicht hört An- dreas: “Sie will mir nichts mehr geben.“ Andreas sagt nichts. Er nimmt die Hand zurück und setzt sich wieder auf seinen Platz.“ (Winner 2007, S.

20)

Situationen, in denen Einfühlungsvermögen geübt wird

Einfühlungsvermögen ist eine Schlüsselqualifi- kation für alle Erzieherinnen und Erzieher. Sie wissen, wie wichtig eine verlässliche Beziehung für die sozial-emotionale Entwicklung des Kin- des ist und wie sehr Lernprozesse von emotio- naler Sicherheit bestimmt werden. Wie sehr Einfühlen und Eindenken die Sprachentwick- lung bestimmt und in der Sprache selbst immer wieder geübt wird, das gerät dabei manchmal in Vergessenheit.

Im Gespräch die Perspektive zu wechseln, die Dinge aus der Sicht des anderen Menschen zu sehen, wirklich zu verstehen, was er meint, dies bleibt ein Leben lang eine Herausforderung. Die sprachlichen Anregungen der Erwachsenen be- gleiten das Kind bei der Entwicklung dieser Fä- higkeit.

In den ersten 12 Monaten wird das Kind über- wiegend mit seinem Namen angesprochen. Es erlebt sich als Lena, John, Mehmet oder Susan- ne. Im Spiel erfährt das Kind, dass es eine Nase besitzt („Wo hat die Lena die Nase?“), obwohl es sein Gesicht nicht sehen kann, dass es ein

(13)

„Aua“ hat und dass es jetzt müde ist. Etwa mit einem Jahr entdeckt das Kind den Spiegel und erkennt zunehmend andere Personen oder Ge- genstände im Spiegelbild. Mit 15 bis 18 Mona- ten schauen viele Kinder deutlich und manch- mal beschämt weg, wenn ihnen ein Spiegel vor- gehalten wird, als ob sie ahnen würden, dass sie die Person im Spiegel sind. Etwa mit zwei Jahren betrachten sich die Kinder meist gerne im Spiegel und deuten auf sich, wenn sie ge- fragt werden, wen sie da sehen, lächeln und sind stolz. Sie beginnen, Grimassen zu schnei- den und ihr Spiegelbild zu erforschen. Im Spie- gel sehen sie sich aus einer anderen Perspekti- ve. Parallel zu der Entdeckung des Spiegels verläuft die Entdeckung des Wörtchens „ich“.

Mit ca. 30 Monaten beginnen die Kinder spon- tan „ich“ zu sagen.

Die Personenbezeichnungen „ich“ und „du“ kön- nen nicht über die direkte Nachahmung erwor- ben werden. Die Kinder müssen das Wechsel- spiel erst durchschauen. Das Wort „ich“ ist das einzige Wort, das aus der Sicht des Sprechen- den nur zu einem einzigen Objekt in der Welt passt, nämlich zu ihm selbst. Es gehört des- halb auch eine Portion Mut und Selbstver- trauen dazu, sich mit „ich“ anzusprechen, denn das trennt die Person unwiederbringlich von den anderen Menschen.

„Silvan und Laurin sind Zwillinge. Während viele Kinder sich zuerst mit dem eigenen Namen an- sprechen, benutzten beide für sich den Namen Laurin (Laurin), das veränderte sich mit der Zeit, es gab eine Phase, in der sie die Namen ver- tauschten, bis sie ihre eigenen Namen für sich benutzten. Mit drei Jahren meinte Laurin am

Tisch: Mama, der Silvan heißt nicht ich, nur ich heiß ich.“ (Winner 2007, S. 84).

Die Frage nach „mein“ und „dein“, „ich“ und „du“

sorgt deshalb im Gespräch mit anderen Kindern oft für Diskussionsstoff und manchmal für Streit.

Da werden die Bilder der Eltern betrachtet:

„Meine Mama. Nein, meine Mama. Nein, meine Mama.“ Dass jedes Kind seine Mama, eine

„meine Mama“ besitzt, erscheint ungeheuerlich.

Eigenen Besitz zu schützen, eigenen Besitz zu haben, das wird deshalb jetzt wichtig.

Das Spiel um Nehmen und Geben, bitte und danke bietet ein weiteres Trainingsfeld für die- sen Perspektivenwechsel. Ebenso das „Telefo- nieren“ im weitesten Sinne. Bei einem Schnurte- lefon halten Kleinkinder häufig das eine Ende an das Ohr, wenn das auch die Erwachsene tut, und an den Mund, wenn die Erwachsene in das Telefon spricht. Auch hier muss die Wechselsei- tigkeit erst durchschaut werden.

Passivsätze sind für Kleinkinder noch nicht ver- stehbar und verwirren auch Kindergartenkinder noch oft. „Die Maus wird von der Katze gefres- sen“ erscheint ihnen unwahrscheinlich, weil sie verstehen: Die Maus frisst die Katze. Um einen Passivsatz zu verstehen und ihn selbst bilden zu können, genügt es nicht, die grammatikali- sche Struktur zu hören. Das Kind muss erle- ben, dass ein anderer etwas erleidet, wenn es selbst etwas tut,und umgekehrt. Aussagen wie: „Hannah ärgert sich, weil du ihr das Auto weggenommen hast“ oder „Leo freut sich, weil du ihm das Auto gegeben hast“ schaffen nicht nur ein gutes soziales Klima, sie dienen der Sprachförderung.

(14)

Die Einschätzung, welche Informationen eine andere Person braucht, um eine Geschichte zu verstehen, erfordert viel Erfahrung. Auch Kin- dergartenkinder verlassen sich deshalb nur un- gern allein auf Sprache. In der mündlichen Kommunikation sprechen sie mit dem ganzen Körper, sie schmücken ihre Worte mit Gesten aus und nutzen ihre Stimme, ihre Blicke, ganze Handlungssequenzen, um sich verständlich zu machen.

Um einen Text zu verstehen, müssen wir in die Gedanken der Autoren schlüpfen können, deren Wissen kennen. Texte werden deshalb von vielen Kindern auch selbst noch im Grund- schulalter missverstanden. (vgl. Axel Hacke:

„Der weiße Neger Wumbaba“)

Es bleibt eine Herausforderung für Erzieherin- nen, Erzieher und Lehrkräfte, sich in die Gedan- kenwelt von Kindern hineinzuversetzen. Wir müssen auf Augenhöhe der Kinder kommuni- zieren. Wie oft passiert es, dass wir Kinder be- schämen, weil wir ihre Absichten nicht verste- hen.

Ein Junge hatte in der dritten Klasse seine erste Note für einen Aufsatz bekommen. Enttäuscht berichtete er der Mutter, dass er eine „fünf“ be- kommen habe. Die Lehrerin hatte den Kindern eine Bildergeschichte mit dem Auftrag vorge- legt, sie weiterzuerzählen. Die Bilder zeigten ein Kind bei den Hausaufgaben, dann Rauch, es schien zu brennen. Der Junge erzählte der Mut- ter, dass er gar nicht verstehe, warum er so schlecht gewesen sei; er war doch der erste, der fertig war. Die Mutter versuchte, bei dem Sohn Verständnis zu wecken, und meinte, es käme

gar nicht darauf an, als erster fertig zu sein, er hätte die Situation vielmehr ausführlicher und länger beschreiben sollen. Da erwiderte der Junge: „Aber dann wäre das Kind doch ver- brannt.“

Um in Sprache auszudrücken, was wir füh- len, brauchen wir emotionale Distanz.Wer beim Witze-Erzählen dauernd selber lachen muss, kann keinen Witz erzählen. Wer von Trauer übermannt ist, kann keine Trauerrede halten. Und wer vor Wut fast platzt, kann nicht ruhig über die Gründe reden. Über unsere Ge- fühle können wir erst dann sprechen, wenn sie uns nicht mehr ganz so heftig bewegen.

An diesem Punkt überfordern wir Kinder oft. Ein Kind, das etwas angestellt hat und sich schämt, kann nicht erklären, warum es das getan hat. Es wird erst mal versuchen, seine Scham auszu- drücken, und dafür ist die Körpersprache viel besser geeignet. Hier auf Worten zu bestehen, ist falsch verstandene Sprachförderung.

Humor ist eine Medizin, er nimmt Situationen die Schwere. Humorvolle Aussagen zu verste- hen, das ist gar nicht so einfach. Man muss die Menschen kennen, die sich humorvoll oder dop- peldeutig äußern, die Beziehung muss stim- men. Kinder lernen in solchen Situationen, dass Worte manchmal ganz andere Bedeutungen bekommen, wenn man die Stimme verändert, mit den Augen oder der Körperhaltung etwas anderes ausdrückt. Sie genießen humorvolle Übertreibungen, wenn sie sich sicher sein kön- nen, dass alles gut ausgeht: Bei „Hoppe, hoppe Reiter“ wird der Reiter nicht wirklich von den Raben gefressen.

(15)

Humor schult das Einfühlungsvermögen, denn man muss auf viele kleine Signale achten, um die Zweideutigkeit zu verstehen. Und: Spaß darf Kinder nicht erschrecken. Erwachsene brau- chen hier viel Feingefühl.

Die Köchin bereitet Lasagne vor. Immer wieder quetscht sie den Nudelteig durch die Presse.

Zwei Kinder (2, 6 Jahre alt) helfen. Sie formen aus dem Nudelteig Rollen, die zu Schlangen werden und die Köchin bedrohen. „Hilfe, eine Schlange, sie will mich fressen“, ruft sie, und die Kinder greifen lachend immer wieder an.

Schließlich steckt ein Kind den „Kopf“ der Nu- delschlange in die Presse, und die Köchin sagt:

„Sollen wir mal schauen, was passiert, wenn sie da reinkriecht?“ So wird aus der Schlange eine flache Teigplatte. Darüber sind die Kinder gar nicht glücklich. Die Köchin spürt sofort, dass sie mit ihrem „Spaß“ zu weit gegangen ist, und sagt:

„Wir machen die Schlange gleich wieder ganz.“

Sie rollt die Platte wieder auf und lässt die Teig- schlage auf ein Kind zu kriechen. Aber die Schlange schnuppert nur an der Hand des Kin- des, denn die Köchin spürt, dass das Kind Zeit braucht, um sich von dem Schreck zu erholen.

Symbole nutzen und verstehen

Eine weitere Grundlage für gelingende Sprachentwicklung ist die Fähigkeit, Symbole zu nutzen und zu verstehen. Um zu verstehen, was Worte sagen, müssen wir wissen, dass Worte für etwas stehen. Lange bevor Kinder den Symbolcharakter von Worten erkennen, begreifen sie den Zeigefinger als ein Symbol.

Etwa mit acht Monaten verstehen Kinder, dass der Zeigefinger auf etwas deutet. Sie blicken also nicht länger wie Säuglinge auf den Finger,

wenn sich der vor ihren Augen auf und ab be- wegt, sondern in die Richtung, in die er deutet, weil sie jetzt wissen, dass der Finger seine Aufmerksamkeit auf etwas lenken soll, das sich in Richtung des Fingerzeigs abspielt: „Ein Flugzeug! So weit oben, ist das Flugzeug….“

Oder: Guck mal, da kommt die Oma…“.

Wenige Monate später wird es selbst aktiv auf Gegenstände zeigen, um immer wieder zu überprüfen, ob die Erwachsenen auch das Gleiche sagen. Wer den Kindern jetzt auf- merksam folgt und ihnen immer wieder Worte anbietet, erweitert nicht nur ihren Wortschatz, sondern zeigt ihnen, wie sie selbst aktiv mit Symbolen operieren können. Erwachsene, die dabei schnell ungeduldig werden, weil „sie es jetzt schon zum hundertsten Male gesagt haben“, nehmen den Kindern wichtige Erfah- rungsmöglichkeiten für symbolisches Han- deln.

Ein weiteres bedeutsames Element der Sprachförderung ist das Symbolspiel. Bringt ein Kind eine leere Tasse, sagt die Erwachse- ne vielleicht: „Oh, so eine schöne Tasse mit heißem Kaffee.“ Sie schnuppert daran, pustet, weil der Kaffee heiß ist, und trinkt vorsichtig aus der Tasse. „War das lecker!“ Immer wie- der wird das Kind nun Tassen oder ähnliche Gefäße bringen und von der Erwachsenen eine Reaktion erwarten. Es gibt Erzieherin- nen, die ein ganzes Bällebad leeren, weil der Ball mal ein Apfel, eine Kugel Eis, ein Stück Torte, ein Wurstbrötchen ist.

Eine Puppe baden oder füttern, kochen, tele- fonieren, schreiben oder lesen – alle Aktivitä-

(16)

ten der Erwachsenen werden im Symbolspiel nachgeahmt. Sind die Bilder in den Büchern wirklich nur Bilder oder vielleicht doch echte Gegenstände? Kleinkinder überprüfen das oft.

Sie lauschen an Gegenständen, die normaler- weise Geräusche machen und blättern immer wieder vor und zurück, um zu sehen, ob auf der Rückseite nicht auch die Rückseite des abgebildeten Gegenstandes zu sehen ist.

Im Laufe der ersten sechs Jahre werden aus den Symbolspielen umfassende Rollenspiele.

Die einzelnen Rollen werden ausgehandelt, ganze Spielszenen entwickelt und oft über Wochen hinweg wiederholt. Wie jedes andere Werkzeug wird die Sprache im Spiel zum Spielzeug, und das ist von unschätzbarem Wert, denn im Spiel kann mit Sprache ex- perimentiert werden, ohne dass Erfolgs- druck herrscht. Ein Kind, das Hunger hat, wird nicht geduldig Löffeln üben, ein Kind, das jetzt unbedingt verstanden werden muss, weil es ein dringendes Bedürfnis hat, wird nicht ge- duldig nach Worten suchen. Im Spiel spre- chen Kinder oft in einer Sprache, die man im Alltag von ihnen nicht hört. Mit der Rolle über- nehmen sie auch das sprachliche Verhalten.

„Was darf ich Ihnen bringen?“ fragt der Kell- ner. „Zeigen Sie mir mal Ihren Führerschein und die Papiere!“ verlangt die Polizistin.

Je weniger Requisiten den Spielverlauf vorge- ben, desto notwendiger wird die Sprache. „Du wärest jetzt eine Braut, und das ist dein Schleier. Und dann tätest du ganz arg wei- nen.“ In einigen Kindertageseinrichtungen ist Heiraten das bestimmende Thema über Mo- nate hinweg. In anderen ist es das Umziehen.

Schachteln werden tagelang gepackt und von einem Zimmer ins nächste getragen. Alles muss sorgfältig eingewickelt und beschriftet werden.

Sprache fördern heißt, das (Rollen-)Spiel in all seinen Facetten zu ermöglichen. Wer Kindern den Spielraum zugunsten eines Sprachtrainings einschränkt, der gleicht einem Fußballtrainer, der einem Kind das Fußballspielen verbietet, so lange es noch nicht dribbeln kann. Natürlich kann man auch einzelne Fertigkeiten isoliert üben, aber das Training darf nicht im Widerspruch zum ei- gentlichen Ziel stehen.

Das Verständnis für Symbole wird bei Kindern auf verschiedene Art und Weise geweckt. Die wichtigste Methode ist im ersten Jahr das sprachliche Begleiten von Handlungen. Für den Säugling ist die Welt um ihn herum noch neu und unbekannt. Alles muss erforscht wer- den.

Der wache Säugling ist neugierig und aktiv.

Aufmerksam lenkt er seine Wahrnehmung auf Dinge und Ereignisse, die ihn interessieren.

Da er nicht alles gleichzeitig verarbeiten kann, was auf ihn einströmt, konzentriert er sich auf einzelne Elemente. Wenn der Säugling einen Gegenstand in den Händen hält, dann scheint er ganz davon eingenommen. Hört er ein Ge- räusch, lässt er den Gegenstand fallen und widmet sich dem neuen Sinneseindruck. Er- blickt er eine Person, beobachtet er sie eben- so intensiv und ausdauernd wie vorher die Gegenstände. Bieten die Erwachsenen in den ersten Monaten einem Kind einen Gegen-

(17)

stand an und sprechen dazu, wird das Kind sich mit dem Gegenstand beschäftigen und die Sprache wird zur Hintergrundmusik. Oder das Kind wendet sich der sprechenden Per- son zu, verfolgt aufmerksam Sprechbewegun- gen und Veränderungen in Mimik und Gestik, während der Gegenstand uninteressant ge- worden ist.

Um den ersten Geburtstag herum verändert sich dieses Verhalten entscheidend. Das Kind versteht jetzt, dass ein Zusammenhang zwi- schen den sprachlichen Äußerungen und den Handlungen der Erwachsenen besteht. Der Schlüssel für diese Entdeckung liegt im soge- nannten triangulären Blick, dem Blickdreieck, das zwischen Kind, Gegenstand und Mutter gebildet wird. Die Mutter reicht ihrem Kind z.B.

einen Bär. Sie blickt dabei auf den Bär, dann auf das Kind und wiederholt dies mehrmals.

Dabei sagt sie vielleicht: „Schau mal, hier hab ich deinen Bär“, und betont das Wort „Bär“ be- sonders. Nimmt das Kind den Bär, blickt es auch zuerst auf das Tier, drückt es vielleicht und schaut dann die Mutter an. Sie könnte das Blickdreieck wiederholen und sagen: “Oh, so lieb hast du deinen Bär.“ Der trianguläre oder referentielle Blick ist eine intuitive Kom- petenz erwachsener Bezugspersonen, er wird uns in der Interaktion mit Kindern nicht be- wusst.

Diese Dreiecksbeziehung begleitet uns Menschen ein Leben lang.Wo immer Men- schen zusammentreffen, werden sie sich auf- einander und auf einen Gesprächsgegen- stand beziehen. Ruth Cohn stellte dies in der themenzentrierten Interaktion mithilfe des

Dreiecks dar, bestehend aus den Eckpunkten Ich, Wir und Es. Lebendiges Lernen beruht demnach auf dem dynamischen Gleichge- wicht dieser Faktoren.

In der Beziehung mit Kleinkindern gelingt dies meist gut. Die Erwachsene achtet darauf, dass sie das Kind nicht mit Worten überschüt- tet, da es sonst den Zusammenhang zwi- schen Handlung und Worten nicht erkennen kann. Bei dem Rat für Erzieherinnen oder El- tern „Sprechen Sie viel mit dem Kind“ liegt die Betonung auf „mit“. Und mit „viel“ sind nicht viele Worte, sondern häufige Gespräche ge- meint.

Damit das Kind sich in den Gesprächen von den materiellen Gegenständen lösen und al- lein mit Worten hantieren kann, muss es in den Interaktionen den Symbolcharakter der Worte begreifen.

Während das Kind den Bär erforscht und dabei Erfahrungen macht, sendet die Mutter eine Botschaft über die Bedeutung der Spra- che. Wenn sie das Tun des Kindes mit Worten begleitet wie: „Da ist dein Bär. So liebt hast du den Bär. Wo ist der Bär?“ und dabei das Wort

„Bär“ betont, teilt sie dem Kind auch mit: Du spielst mit einem Objekt. Das Objekt nenne ich Bär. In dem Wort Bär kannst du alle Erfah- rungen, die du jetzt machst, aufbewahren, denn das Wort ist wie ein Korb in deinem Kopf. Noch ist dieser Wortkorb leer; denn du hast noch nicht verstanden, dass Worte als Körbe benutzt werden können. Bald wirst du das erkennen und viele Körbe erwerben. In diesen Körben wirst du viele Erfahrungen

(18)

sammeln. Solche Situationen werden sich un- zählige Male im Leben des Kindes wiederho- len, und sie weisen immer eine ähnliche Struktur auf:

• Die Handlungsaktivität geht meist vom Kind aus.

• Die Erwachsenen wenden sich dem Kind in der Situation zu und bieten ein Wort an, das ihnen passend erscheint.

• Die Äußerungen der Erwachsenen sind einfach. Einzelne Worte oder kurze Sätze, in denen ein Schlüsselwort betont wird, werden mehrmals wiederholt.

• Die Aussagen sind deutlich auf die Situati- on bezogen.

• Das gegenständliche Handeln des Kindes stimmt weitgehend mit dem sprachlichen Handeln der Erwachsenen überein.

• Zwischen den Aussagen bleiben Pausen, in denen das Kind den Zusammenhang von Gegenstand und Wort beobachten kann.

Erst wenn das Kind den Zusammenhang zwi- schen gegenständlichem und sprachlichem Handeln erkannt hat, kann es Worte als Werkzeuge des Denkens nutzen. Erwachse- ne können Kinder in diesem Lernprozess un- terstützen, aber lernen und begreifen müs- sen die Kinder ganz allein und selbstständig.

Den genauen Zeitpunkt des Begreifens be- merken die Erwachsenen oft nicht. Auch an diesem Punkt verläuft die Entwicklung indivi- duell. Die meisten Kinder schaffen diesen Entwicklungssprung im zweiten Lebensjahr.

Erkennen können wir ihn daran, dass sie eine enorme Begeisterung für Benennungen entwickeln und ihr Wortschatz wächst.

Sachverhalte verstehen – Begriffe bilden Über die Worte entsteht die Verbindung von Sprache und Denken. Das Denken wird sprachlich und die Sprache intellektuell.

Die Fähigkeit, Worte als Werkzeuge des Denkens zu nutzen, entwickeln Kinder meist am Ende des zweiten oder am Anfang des dritten Lebensjahres. Sie können nun Worte nutzen, um ihre individuellen Erfahrungen gedanklich aufzubewahren. Die Erwachse- nen müssen ihnen passende Worte anbieten, damit sie darin ihre Erfahrungen mit dem Ge- genstand oder der Situation sammeln kön- nen. Bieten sie keinen Wortkorb an, bleiben die Erfahrungen ungeordnet. Oft fehlen auch uns Erwachsenen die Worte. Wir sagen dann: „Ich finde für meine Gefühle keine Worte.“ Deshalb ist es wichtig, dass Kinder vielfältige Erfahrungen mit einem Gegen- stand oder einer Situation machen. Haben sie dazu keine Gelegenheit, bleibt der Korb leer oder wird nur einseitig gefüllt. Im Deut- schen gibt es dafür den anschaulichen Be- griff „Worthülsen“. Benutzen Menschen sol- che leeren Wortkörbe, sagen wir: „Das sind alles nur leere Worte. Er weiß nicht, wovon er spricht, drischt hohle Phrasen...“ Die Sprache und das Denken verarmen, wenn alles „geil“

ist. Mit den Worten können wir nicht unsere Erfahrungen weitergeben. Die Kinder müs- sen jedes Wort selbst neu füllen, bis sie mit etwa 18 Jahren über die prall gefüllten Begrif- fe ihrer historischen Epoche verfügen.

Das Wort bleibt gleich, der Begriff ändert sich. Dies macht auch deutlich, warum wir uns oft missverstehen, obwohl wir doch die

(19)

gleiche Sprache sprechen. Unsere „Wort- füllungen“ sind individuell. Was für den einen ein Witz ist, muss für den anderen Menschen nicht lustig sein. Was für die eine bedrohlich ist, ist für die andere vielleicht auf- regend. Was wir als zärtlich oder anmaßend, als lecker oder grauenvoll empfinden, hängt mit unseren Erfahrungen zusammen, die in unseren Worten aufbewahrt sind. Um den Wortschatz bei Kindern zu erweitern, genügt es deshalb nicht, ihnen Bildkarten vorzulegen und die Gegenstände zu benennen. Kinder verstehen die Worte nur, wenn sie die Sach- verhalte kennen, die damit ausgedrückt wer- den sollen. Oft entstehen Missverständnisse zwischen Erwachsenen und Kindern, weil die Erwachsenen von ihren Wortbedeutungen ausgehen, wie folgende Beispiele zeigen:

In einer Arbeitsgruppe sollten 5 Schülerinnen einer 6. Klasse einen Brief an die Leitung eines Schullandheimes schreiben und um In- formationen für ihren Aufenthalt bitten. Die Mädchen schlossen den Brief mit den Wor- ten: „Wir hoffen, unsere Fragen überfordern sie nicht.“ Sie meinten das höflich. Dass die- ser Satz auf Erwachsene ironisch wirken könnte, war ihnen noch nicht klar.

Eine Mutter beschwerte sich bei der Leiterin des Kindergartens über eine Praktikantin.

Ihre fünfjährige Tochter hatte ihr berichtet:

„Die Praktikantin hat mich gezwungen, die Jalousie zuzumachen.“ Am nächsten Tag entschuldigte sich die Mutter mit einem gro- ßen Blumenstrauß bei der Praktikantin. Sie hatte noch einmal mit ihrer Tochter gespro- chen, und die hatte freudestrahlend erzählt:

“Ja, ich durfte das ganz alleine machen.“

Wahrscheinlich hatte das Kind gehört, wie je- mand bedeutungsvoll sagte: „Ich bin ge- zwungen, das zu tun.“ Es schien also etwas Wichtiges für die Person zu sein.

Worte und Gedanken entwickeln sich in enger wechselseitiger Beziehung. Manchmal eilen die Gedanken voraus, dann kommen die Kinder in Ausdrucksnot. Oder die Spra- che schürt neue geistige Konflikte, die es zu lösen gilt. Wer das sprachliche Denken von Kindern fördern will, sollte sich dafür in- teressieren, was die Kinder wirklich den- ken, und sollte den Kindern helfen, ihre Fragen zu bearbeiten.Die effektivsten Me- thoden sind das individuelle Gespräch und die Zusammenarbeit.

In einer Kleingruppe erzählen Kinder von ihren Erlebnissen am Wochenende (Ul- rich2004). Ein Junge berichtet von einem Ausflug und entwickelt eine fantastische Ge- schichte, die von seinem Sitznachbarn zu- nehmend mit Skepsis aufgenommen wird.

Als er sagt, er habe von dem gefundenen Gold echte Schlangen gekauft, wird er von seinem Nachbarn mit den Worten unterbro- chen: „Das gibt’s nicht.“ Eine hitzige Debatte über Schlangen entsteht, in der deutlich wird, dass die Kinder ganz unterschiedliche Vor- stellungen darüber im Kopf und eben in ihrem Wort haben. „Schlangen leben im Wald! Nein, im Tierpark! Die gibt’s bei uns nicht! Doch! Nein! Doch!“

Man kann das beginnende begriffliche Den- ken hören. Der subjektive Begriff „Schlange“

(20)

der einzelnen Kinder hat noch nicht die Reichweite des erwachsenen Alltagsbegriffs.

Es fehlen den Kindern noch viele Erfahrun- gen. Das eine Kind verbindet die Boa im Tier- park mit Schlange, das andere die Schlange aus dem Dschungelbuch, ein drittes die Rin- gelnatter im Gartenteich bei der Oma. Dass all diese unterschiedlichen Vorstellungen mit einem Wort geäußert werden können, ist den Kindern noch nicht klar. Deshalb stoßen un- terschiedliche Sichtweisen aufeinander.

In der Diskussion wird deutlich, dass mit Worten keineswegs nur Gegenstände be- nannt werden, sondern dass in diesen Wor- ten Zusammenhänge, Schlussfolgerungen, Wertungen, Empfindungen, Wissen aufbe- wahrt werden und kommuniziert werden kön- nen. Die Kinder erleben die Funktion von Sammelbegriffen und ihre Grenze. In einem Sammelbegriff kann man unterschiedliche In- dividuen nach einer Eigenschaft zu einer Gruppe zusammenfassen. Das ist praktisch, weil man im Gespräch nicht immer alle Indivi- duen einzeln aufzählen muss. Es kann aber auch zu Missverständnissen führen, wenn man über verschiedene Individuen sprechen möchte.

Schließlich meint ein Kind: „Schlangen kann man nicht essen, die sind giftig.“ Es ist doch eine großartige geistige Leistung, von dem Wissen über giftige Beeren auf eine giftige Schlange zu schließen, auch wenn dies zu einem Irrtum führt. nur wer irren kann, ist intelligent.

Lassen Erwachsene sich im Gespräch wirk- lich auf die Gedanken der Kinder ein, können

sie ihnen bei der Klärung strittiger Punkte helfen. Tun sie das nicht, besteht die Gefahr, dass sie Fragen beantworten, die niemand gestellt hat.

In der Zusammenarbeit oder im Zusammen- spiel können Erwachsene gemeinsam mit Kindern Erfahrungen sammeln, die das Den- ken anregen. Die Reggio-Pädagogik bietet hier eine Fülle von Beispielen. Ein wesentli- ches Element dieser Pädagogik besteht darin, dass die Kinder zu Lernerfahrungen angeregt werden, die sie dann gemeinsam dokumentieren. Vor allem im Dokumentati- onsprozess reflektieren wir unsere Erleb- nisse,gelingt es uns, einzelne Ereignisse im Zusammenhang zu sehen und so das verall- gemeinernde Denken zu schulen. Es kommt dabei nicht darauf an, dass die Kinder zu un- seren Schlussfolgerungen und Bewertungen kommen, sondern dass sie ihre Hypothesen hartnäckig verfolgen.

Erzieherinnen dokumentieren gemeinsam mit den Kindern einen Zooausflug. Fotos werden aufgeklebt und die Aussagen der Kinder festgehalten.

Ein Kind meint, dass sich der Gorilla schäm- te, weil er immer hinter dem Baum saß. Ein anderes Kind empört sich, dass der Affe eine Banane zermatschte. Und ein Kind sah, dass eines der Tiere sich mitten ins Futter entleer- te.

Eine Vorschulgruppe besucht die Grund- schule. Die Kinder haben mehrere Digitalka- meras dabei, weil sie fotografieren wollen,

(21)

was ihnen wichtig ist. Bei der Auswertung der Bilder staunen die Erzieherinnen. Alle Kinder hatten die Fundsachenkiste des Hausmei- sters fotografiert. Die war ihnen bei dem Be- such gar nicht aufgefallen.

Kinder leben heute in einer Welt, die von Me- dien geprägt ist. Vieles erfahren sie nicht mehr wirklich, sondern über die Medien.

Sprachförderung endet aber nicht mit dem Angebot von Worten, sondern muss die Er- fahrung mit allen Sinnen ermöglichen. Leere Worte zerplatzen wie Seifenblasen und sind schnell vergessen. Worte, die mit sinnlichen Erfahrungen gefüllt sind, sind ein Schatz – ein Wortschatz. Kinder, die häufig Fernseh- sendungen konsumieren, bleiben in ihrer Sprachentwicklung eingeschränkt. Auf den ersten Blick vielleicht verwundern, denn in kaum einem anderen Medium wird so viel Sprache angeboten wie im Fernsehen. Doch Fernsehen taugt nicht für Sprachförderung, weil es nur die visuellen und auditiven Sinne anspricht, weil niemand zuhört und antwor- tet, weil keine Eigenaktivität ermöglicht wird.

Sprache entsteht durch Sprechen, Verstehen durch Verstanden werden und Begriffe ent- stehen wirklich nur über das „Be-greifen“.

Grammatik – Wortschatz – Aussprache Und was ist mit korrekter Grammatik, mit ver- ständlicher Aussprache und umfassendem Wortschatz, mit all den Elementen der Spra- che, die uns meist als Erstes einfallen, wenn über Sprachförderung geredet wird?

„Willst du ein Schiff bauen, so rufe nicht die Menschen, um Pläne zu machen, Arbeit zu

verteilen, Werkzeuge zu holen und Holz zu schlagen, sondern lehre sie die Sehnsucht nach dem großen, endlosen Meer.“ Greifen wir den Gedanken von Antoine de Saint-Exu- péry auf, dann bedeutet dies für unser Thema: „Willst du Sprache fördern, dann lehre nicht den Umgang mit Grammatik und Artikulation, sondern lehre die Sehnsucht nach Verständigung.“

Ein Kind lernt hämmern, wenn es etwas bauen möchte, und es lernt Grammatik, wenn es die Sprache im Kindergartenalltag braucht. Reden in erster Linie die Erwachse- nen, dann kommen Kinder nicht zu Wort und können den Umgang mit dem Werkzeug nicht üben. Überprüfen Sie bitte, ob Sprache im Alltag der Kinder überhaupt notwendig und brauchbar für sie ist.

• Wenn die Erwachsenen alles bestimmen, wenn sie alles besser wissen – warum sich dann einmischen?

• Wenn Erwachsene fragen: „Na Kinder, was machen wir heute?“, obwohl vollkom- men klar ist, was heute gemacht wird – warum dann reden?

• Wenn Erwachsene verlangen, dass alle Kinder vom Wochenende erzählen, aber gar nicht zuhören – warum dann erzäh- len?

• Wenn Erwachsene erwarten, dass Kinder über ihre Gefühle sprechen, ein „Nein“

akzeptieren, sich entschuldigen und er- klären, warum sie etwas getan haben, aber selbst nicht über die eigenen Gefüh- le reden, selbst nicht erklären, warum sie etwas getan haben, sich nicht entschuldi- gen oder kein „Nein“ akzeptieren – warum sollen Kinder das tun?

(22)

Kinder ringen um Worte, wenn sie Ge- sprächspartner finden, sie verbessern ihre Ausdrucksweise, wenn sie spüren, dass es darauf ankommt, verstanden zu werden.

Meist haben sie einen viel größeren Wort- schatz als wir Erwachsene glauben. Wir ken- nen diese Kompetenzen oft nicht, weil wir uns nicht für das interessieren, was Kinder beschäftigt. Was für Erwachsene „nur“ Schu- he sind, sind für Schulkinder Ballerinas, Slip- per, Boots, Chucks oder Skechers. Warum nicht darüber reden? Wenn Erwachsene die Sachverhalte nicht kennen, die sich hinter der Sprache der Kinder verbergen – wie wol- len sie die Kinder dann verstehen?

Sprachtraining – Sprachspiele

Viele Kinder tun sich mit Grammatik und Arti- kulation schwer. Kann man denn gar nichts üben? Doch, man kann. Sprache ist ein sehr komplexes Werkzeug, wie eine riesige Ma- schinerie, in der viele verschiedene Rädchen ineinandergreifen und schwer zu durch- schauende Schaltungen die verschiedensten Wirkungen auslösen. Wie beim Fußballspie- len ist es deshalb gut, einzelne Fertigkeiten zu üben, damit man sie im Ernstfall kann.

Auch für die Sprachentwicklung gibt es kleine Trainingseinheiten.Es sind die ural- ten, oft verpönten Sprachspiele, die die Kind- heit begleiten. Im Spiel werden viele Facet- ten von Sprache geübt, völlig unauffällig, denn das Lernen ist ein Nebeneffekt und nicht der Zweck des Spiels. Im Spiel wird die Stimme trainiert, die Koordination von At- mung und Artikulation, der Wechsel im Sprechrhythmus, die Wahrnehmung und das

Gedächtnis, das Symbolisieren, das Imitieren von anderen Sprechweisen, das Lösen von Problemen und Eindenken in andere Perso- nen, Sprechbewegungen, die Herstellung von Wissen und vieles mehr.

Schon die Kindworte wie Mama, Papa, Wau- wau, Pipi, Schnulli sind Sprachspielsachen für Kleinkinder, die genauso für sie erfunden wurden wie die Rassel, die Flasche oder die Windel. Durch ihre doppelsilbige Struktur geben sie der Sprache Rhythmus. Wir könn- ten sagen, sie bahnen phonologische Be- wusstheit an, und durch ihre konkrete Gestalt erleichtern sie die Verbindung von Symbol und Gegenstand. Die „Guck-guck-da“-Spiele ebnen den Weg zu grammatikalischen Struk- turen, die Kniereiter-Spiele trainieren das Ge- dächtnis und erweitern die Aufmerksamkeits- spanne. Klatsch-Spiele, Finger-Spiele, Lie- der und Reime rhythmisieren den Sprech- fluss, koordinieren Atmung und Artikulation.

Häufig werden Bewegung und Sprache oder Berührung und Sprache – „Pizza backen“,

„Wetter raten“ – verknüpft. (vgl. dazu den Beitrag „Ohne Bewegung bewegt sich nichts“

in diesem Ordner) Körpersprache und Bewe- gung sind Ausdrucksmittel, die Kinder sehr früh einsetzen. Säuglinge nehmen zueinan- der Kontakt auf und sprechen miteinander, indem sie einfach die gleiche Bewegung ma- chen, z.B. mit dem Bein.

Viele Erkenntnisse über unsere Umwelt ge- winnen wir nur, indem wir uns bewegen. So erfahren wir die Gesetze der Schwerkraft, wir begreifen die Bedeutung von innen-außen,

(23)

hoch-tief, unter-über, schnell-langsam und die entsprechenden Komparative wie weiter, schneller, höher. Viele Spiele, die Kinder mit anderen Kindern spielen, verbinden Sprache und Bewegung: „Kaiser, Kaiser, welche Fahne weht heute?“, „Hexe, Hexe, was kochst du heute?“, „Kaiser, Kaiser, wie viele Schritte darf ich gehen?“, „Ich bin ein armer Student…“, „Gummitwist“ oder „Kästchen hüpfen“. Kinder sprechen in Situationen, in denen Erwachsene längst außer Atem sind.

Sie sprechen über Hyänen und sind im näch- sten Moment Hyänen. Sie klettern mit Affen- gebrüll auf Gerüste und erzählen beim Tram- polin-Springen Geschichten.

Sprach-Bewegungsspiele besitzen eine lange Tradition. Es gibt sie in allen Kulturen.

Früher wurden sie auf der Straße oder in der Schule weitergegeben. Ihre Herkunft liegt meist im Dunkeln. Die Texte wurden von den Kindern oft aktualisiert, auch wenn der Cha- rakter der Spiele erhalten blieb. Solche Spie- le fördern Sprache, obwohl die sprachlichen Äußerungen weder vernünftig noch beson- ders sinnvoll zu sein scheinen. Meist wirken sie ein bisschen dadaistisch, wie beim Spiel

„Ochs am Berg“. In Italien spielen die Kinder dieses Spiel mit dem Ruf „uno due tre – stel- la“.

Mit Sprach-Berührungsspielen lassen sich auch ruhige Situationen gestalten. Ein Kind legt sich auf den Bauch. Die Erzieherin oder ein anderes Kind „malt“ mit dem Finger Figu- ren auf den Rücken des Kindes, die es erra- ten muss. Es gibt Kindergartengruppen, die ein ganz eigenes Bildrepertoire für dieses

Spiel entwickelt haben. Auch „Wetterraten“

ist bei vielen Kindern sehr beliebt. Dabei kann die flache Hand, die nur einen Millime- ter über der Haut schwebt, Nebel bedeuten, während die aufliegende, „warme“ Hand Sonnenstrahlen symbolisiert.

Im Spiel werden Fertigkeiten und Fähigkeiten geübt, die in Ernst-Situationen genutzt wer- den können. Ernst-Situationen stellen jedoch eine besondere Herausforderung dar. Es ist ein Unterschied, ob man ein Referat vor dem Spiegel übt oder es vor 500 Leuten hält, ob man ein Musikstück zu Hause spielt oder im Konzertsaal, ob man mit Freunden bolzt oder in der Bundesliga spielt. Ebenso müssen sprachliche Fähigkeiten, die im Sprachspiel scheinbar mühelos gelebt werden, auf alltäg- liche Situationen übertragen werden und sich dort bewähren.

Spielsituationen, in denen das Erlebnis wich- tiger ist als das Ergebnis, Kommunikationssi- tuationen, die man erfolgreich meistert, Miss- verständnisse und Konflikte, die es auszuhal- ten und auszutragen gilt, Gedanken, die wir plötzlich bei anderen wieder entdecken, und ein Verstehen ohne Worte – Sprachförde- rung kann nur gelingen, wenn wir es Kin- dern ermöglichen, verschiedene Situatio- nen in einem ausgewogenen Verhältnis zu erleben.

(24)

Literatur:

Brodin, M./Hylander, I.:

Wie Kinder kommunizieren.

Daniel Sterns Entwicklungspsychologie in Krippe und Kindergarten.

Beltz, Weinheim 2002 Tomasello, M.:

Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens.

Suhrkamp, Frankfurt am Main 2002 Ulich, M.:

Lust auf Sprache. Sprachliche Bildung und Deutsch lernen in Kindertageseinrichtungen.

Videokassette mit Arbeitsheft.

Herder, Freiburg 2004 Winner, A.:

Kleinkinder ergreifen das Wort. Sprachförde- rung mit Kindern von 0 bis 4 Jahren. Cornel- sen Scriptor.

Berlin/Düsseldorf/Mannheim 2007

Der Artikel „Sprachförderung von Anfang an“

ist dem Ordner „Elementare Bildung Band 1“

entnommen, der allen Kindertagesstätten des Landes Brandenburg zur Verfügung ge- stellt wurde. Die Autorin Frau Dr. Anna Win- ner ist Lehrbeauftragte an der Hochschule München, Fakultät für angewandte Sozial- wissenschaften.

Kontakt:

E-Mail: annna.winner@t-online.de

(25)

Monika Bekemeier,

SFBB-Fachbereich Kindertagesbetreuung Im Zuge des Ausbaus der Kindertagesbe- treuung für Kinder in den ersten drei Lebens- jahren werden Fragen sowohl zu den Rah- menbedingungen als auch zur Qualität der pädagogischen Arbeit immer drängender.

Auch Fortbildung, Beratung – das System der Praxisunterstützung insgesamt – sind he- rausgefordert zu überprüfen, ob die Qualifi- zierungskonzepte für „Kompetente Erwach- sene für Kinder bis drei“1der komplexen, an- spruchsvollen Aufgabe angemessen sind.

Mit meinem Beitrag möchte ich Ausschnitte aus der aktuellen Fachdiskussion zu Quali- tätsstandards und Fortbildungskonzepten für Erzieherinnen, Leiterinnen von Kitas/Krippen und Trägern von Kindertageseinrichtungen vorstellen. Wir haben im SFBB2-Fachbereich Kindertagesbetreuung bereits im Sommer 2006 mit der kritischen Reflexion „unserer“3 Fortbildungsangebote zum Thema „Krippen- kinder in Kindertagesbetreuung“ begonnen und im Juni d.J. einen Gesprächskreis „kolle- giale Beratung“4 zu Qualifizierungsfragen eingerichtet; eingeladen sind freie Fortbil- dungsdozentinnen, Praxisberaterinnen und Vertreterinnen von Fachschulen und Fach- hochschulen.

In unserer letzten Beratungssitzung zum Thema „Fortbildungskonzept: Pädagogische Qualität für Kinder in den ersten Lebensjah- ren“ forderte eine Fachhochschulprofessorin:

„Während der Eingewöhnung keine Fortbil- dung.“ Obwohl diese Forderung für uns alle unbestritten ist, eröffnete sie einen Diskurs mit einer Menge an offengebliebenen Fragen wie z.B.:

Müssten nicht alle Fortbildungsangebote für Erzieherinnen in Krippen diesen Hinweis ent- halten? Oder aber ist der Grundsatz der pro- fessionellen Eingewöhnung in guten Krippen mittlerweile so stark verankert, dass dieser Hinweis bevormundend und entmündigend wirken würde, da keine Erzieherin auf die Idee käme, Eingewöhnungsprozesse durch Teilnahme an Fortbildung zu unterbrechen?

Kann die Fortbildung für Krippenerzieherin- nen gar nicht oder nur an Samstagen stattfin- den? Ist die Teilnahme an der Fortbildung ein weiteres Risiko, das durch die Abwesenheit der Erzieherin die Bindungssicherheit der Kinder gefährdet? Welche Spuren hinterlas- sen häufig zugemutete Erzieherwechsel bei den jüngsten Kindern?

Brauchen nicht gerade Krippenerzieherinnen aufgrund der Anforderungen an kontinuierli- che, verlässliche Präsenz, an feinfühligem Umgang mit jedem einzelnen Kind, fachli-

1 vgl. „Wach, neugierig, klug – Kompetente Erwachsene für Kinder unter drei“, Fortbildungshandbuch, Bertelsmann Stiftung 2008 2 Sozialpädagogisches Fortbildungsinstitut Berlin-Brandenburg

3 damals noch SPFW (Sozialpädagogisches Fortbildungswerk Brandenburg) 4 Sie wird zukünftig dreimal jährlich stattfinden.

Ohne Bindung keine Bildung & Während der

Eingewöhnung keine Fortbildung

(26)

chem Wissen über die Entwicklungsthemen der Kinder gute Begleitung, Fortbildung und Supervision?

Und braucht es nicht zu allererst einen besseren Personalschlüssel als 1:7, um weitere Qualitäts- anforderungen erfüllen zu können?5 Um die Qualität der Krippenerziehung weiter zu entwi- ckeln und zu stärken?

Wir wissen, nie ist die Qualität der Pädagogik so abhängig von den beteiligten Menschen, wie in den ersten Lebensjahren. Wir wissen, ideal wäre eine altersgemischte Kindergruppe mit einer Er- zieherin und fünf Kindern, z.B. ein Baby, zwei Einjährige, zwei Zweijährige…6. Wir wissen, dass Krippen die erste Institution sind, die Eltern eine Rückmeldung geben können:

Sie stellen der Familie gleichsam einen „dritten Raum“ zur Verfügung, in dem Eltern und Erzie- herinnen über das Kind, die Bilder, die sie von ihm und die Beziehung, die sie zu ihm haben, über Erziehung, über Ängste und Hoffnungen sprechen können. Wir wissen, dass „die Gestal- tung von Bindungen und die Bewältigung von Trennungen lebenslang die schwierigsten seeli- schen Aufgaben des Menschen“ sind und dass diese Aufgabe „gerade am Lebensbeginn von allen verantwortlich Beteiligten hohe Sensibilität und ein Wissen um die Verletzlichkeit der frühen Entwicklung“ erfordern.7Den Erzieherinnen wird hier eine große Aufgabe anvertraut und zugemu- tet: Sie müssen vertrauensvoll mit den Eltern zu-

sammenarbeiten, den „circle of security“ auf- rechterhalten, die emotionale Entwicklung und Bindungsfähigkeit durch ihre eigene physische und psychische Präsenz stärken. Das tun sie, indem sie halten, aushalten und Affekten wie Ärger, Angst, Wut und Trauer Worte geben. Ge- rade diese Affekte brauchen Sprache, um eine Verständigung zu ermöglichen, denn erst auf der Grundlage dieser externen Affektregulation mit- hilfe der Bindungsperson bildet das Kind interne Regulationsmechanismen. Findet all das nicht oder nur unzureichend statt, dann steigt der Cor- tisol-Spiegel, d.h., der Stress überflutet das Kind, und es verliert Halt und Orientierung.

Wir wissen, dass Kinder von Geburt an sozial- und bindungsfähig sind und schon Neugeborene die Fähigkeit haben, zu kommunizieren, zu inter - agieren und Bindungen aufzubauen. Was sie von uns Erwachsenen brauchen, das sind warme und kontinuierliche Beziehungen, die die psychische Gesundheit, das Lernen und die Bil- dung fördern, von Anfang an.

Alle hier genannten Hinweise sind bekannt. Je differenzierter dieses Wissen in der Praxis ange- kommen ist, umso mehr geraten Erzieherinnen in ein Dilemma, so meine Hypothese. Sie wis- sen, worauf es ankommt, können ihr Wissen aber aufgrund schlechter Rahmenbedingungen nicht immer in die Praxis umsetzen. Zunehmend werden Erzieherinnen dann von Versagens- ängsten und/oder von Überforderung gequält, da

5 vgl. Das Positionspapier der LIGA DER SPITZENVERBÄNDE der Freien Wohlfahrtspflege in Brandenburg von April 2008 zu den „Neue(n) Heraus- forderungen in Kindertageseinrichtungen – Standortbestimmung...“: „Die Fachöffentlichkeit und auch die Landesregierung sind sich dessen be- wusst, dass die Fachkraft-Kind-Relation in Brandenburg im bundesdeutschen Vergleich zu den schlechtesten gehört und unzureichend ist.“, S.2 6 vgl. Karin Grossmann: Frühes Lernen auf der Grundlage guter Beziehungen. Vortrag im Rahmen der Tagung „Kinder in Krippen, Chancen und Ri-

siken aus psychoanalytischer Sicht“, 10.-11.Okt.08 FHPotsdam

7 Aus: Krippenausbau in Deutschland – Psychoanalytiker nehmen Stellung. Memorandum der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung, S.5, 12.12.2007

(27)

sie bei einem Personalschlüssel von 1:7 und der damit verbundenen Personalfluktuation der An- forderung, Bindungssicherheit für jedes einzelne Kind zu ermöglichen, bei noch so großer An- strengung nicht durchgängig nachkommen kön- nen. Von „unsicher gebundenen Kindern“ wissen wir, dass sie eher in ein Vermeidungsverhalten flüchten, dann als „pflegeleicht“ nämlich zurück- gezogen und nicht anspruchsvoll wahrgenom- men werden. Sie haben aufgehört, ihre berech- tigten Bedürfnisse nach gesehen und geachtet werden, nach gehalten und getröstet werden of- fensiv mitzuteilen. Ein ähnliches Phänomen nehme ich auch bei Erzieherinnen wahr: Immer öfter geraten sie in die Rolle der „unzulänglichen“

Pädagoginnen. Versagensängste und Selbst- zweifel werden mit „pädagogischen“ Rationali- sierungen zugedeckt und die darin zum Aus- druck kommenden Überforderungen finden keine/zuwenig konstruktive Unterstützung. Im Rahmen der Tagung „Kinder in der Krippe.

Chancen und Risiken aus psychoanalytischer Sicht“ wurden diese Phänomene sehr deutlich angesprochen. Absolventinnen des ersten Ba- chelor-Studiengangs an der FH-Potsdam gaben Einblicke in ihre Praxiserfahrungen im Rahmen des studienbegleitenden Praktikums. Sie berich- teten von Situationen, in denen einzelne Kinder von der verantwortlichen Erzieherin weder gese- hen noch ausreichend geschützt worden waren.

Selbst die Praktikantinnen fühlten sich mit ihren kritischen Fragen allein gelassen bzw. abge- lehnt. „Pädagogische Rationalisierungen“ ohne Feinfühligkeit für das einzelne Kind wurden durchgesetzt und mussten als Erklärungen her- halten; wie z.B. „alle Kinder gehen mit in die Turnhalle und der jüngste muss in ein Laufgitter,

da kann er den anderen zuschauen, ist selbst geschützt und kann das Spiel der anderen nicht stören....“, „alle essen zur gleichen Zeit, trödeln, d.h., nicht essen geht nicht, „zur Not“ wird dem Kind mit dem Löffel Essen in den Mund ge- steckt...gegen seinen Willen“. Das Aufbegehren, das Weinen der Kinder wurden ignoriert, die Würde des Kindes wurde nicht geschützt. Ein re- flexives Gespräch zwischen Erzieherin und Praktikanten, um notwendige Verhaltenskorrek- turen der Pädagogin einzuleiten, fand nicht statt.

Zu Recht wurde im Kontext dieser Tagung be- rufsbegleitende Supervision gefordert, um Ver- haltens- und Denkmuster von Pädagoginnen auch auf dem Hintergrund eigener Kindheitser- fahrungen reflektieren und verändern zu lernen.

Es braucht schon grundlegende Interventionen zur Verhaltensveränderung, um den Raum des interaktiven Verhaltens mit dem Baby und den Raum der selbsterfahrenen Kindheit und Bemut- terung reflektieren zu lernen. Nur durch eigene Affekt- und Selbstregulation kann pädagogi- sches Vermeidungsverhalten oder pädagogi- sche Rationalisierung überwunden werden.

In diesem Zusammenhang muss auch Fortbil- dung kritisch unter die Lupe genommen werden.

Aufgrund der Personalknappheit in den Einrich- tungen ist der Ruf nach immer kürzeren, „schnel- leren“ Seminaren sehr laut. Wissensvermittlung im eintägigen „Frontalunterreicht“ und Teamfort- bildung an Samstagen – ist das wirklich die allei- nige Lösung? Um mit den eingangs gestellten Fragen weiterzukommen, brauchen wir die Rück- meldung aus und die Diskussion mit der Praxis.

Viel zu wenig wissen wir, die wir Fortbildung im Sinne von Praxisunterstützung konzipieren und

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Um die verschiedenen Ebenen und Möglichkei- ten vom geben, nehmen, teilen, tauschen immer wieder ins alltägliche familiäre Miteinander und gemeinsame Bewusstsein zu bringen, bekamen

 sich darüber bewusst werden, dass es in unserer Kultur typische sprachliche („Bitte“ …) und körpersprachliche (lächeln …) Ausdrucksweisen für Höflichkeit gibt als

Die Schüler sollen  sich darüber bewusst werden, dass unser soziales Leben voller Situationen des Gebens und Nehmens ist, die – wenn es sich um informelle Kontakte handelt –

land möchten wir dazu beitragen, dass auch hier weitaus mehr Menschen eine Bibel erhalten – Menschen, die die Bibel noch nicht kennen oder sich keine leisten können..

Erhöhung der Anforderungen für die Lagerung von poliowildvirus-infiziertem und potentiell poliowildvirus-infektiösem Material von BSL-3/Polio (entspricht Schutzstufe 3

Sie finden einen guten Rechtsanwalt und können sich die Gebühren leisten, da Ihnen Mitglieder eines Asylhelfer-Kreises Geld ausleihen.. Der Rechtsanwalt klagt für Sie

Dies ist besonders gefährlich, weil eine Eröffnung dort sehr risikoreich bis unmöglich sein kann und sich untergegangenes Nervengewebe nicht mehr regeneriert.. Typische Zeichen

Und des Profits wegen können wir auch nicht frei bestimmen, was und wie wir arbeiten: Weil wir den für Güter und Dienste notwendigen Lohn nur da verdienen, wo ein Un- ternehmen