Grad genau zu vermessen? Wir sind der Meinung, dass die ursprüngliche und heute unverändert gültige Graf- sche Klassifikation („Sonometer“) mit ihren „Hüfttypen“ und den daraus re- sultierenden einfachen therapeuti- schen Konsequenzen für die klinische Routine weiterhin ein brauchbares und ausreichend „sicheres“ Instrument in der Hand der Mehrheit der Anwen- der ist: Die therapeutischen Empfeh- lungen sind daher primär typenbezo- gen („Gruppen“).
Die „Reifungskurve“, die für jeden Monat einen bestimmten Alpha-Wert mit einfacher („Kontroll“-Bereich) und doppelter („Therapie“-Bereich) Standardabweichung definiert hat, ist eher für wissenschaftliche Argumen- tationen heranzuziehen und sollte aber nicht dazu missbraucht werden, den einfachen Anwender vor Ort zu spitzfindigen Überlegungen zu zwin- gen.
Unter diesen Gesichtspunkten über- fordert unserer Meinung nach die Ta- belle der „Leitlinie“ für die U3 mit ihren acht Spalten und sechs Zeilen unnötigerweise viele Anwender, so- dass es uns eigentlich erstaunt, dass
„nur“ 27 Prozent diese U3-Leitlinie nicht einhalten.
Für die Praxis scheint dies folgende Konsequenzen zu erfordern: Verbes- serte Ausbildung, überarbeitete (ver- einfachte) Leitlinien (leider wurden die von uns typenbezogenen thera- peutischen Empfehlungen bei der Einführung der Leitlinien nicht eins zu eins übernommen).
Die „Reifungskurve“ stimmt in ih- rer generellen Tendenz und Aussage und wurde unter anderem auch von Matthiessen mit histologischen und mathematischen Befunden untermau- ert. (2)
So wichtig und begrüßenswert die
„Evaluation“ des Screening der Säug- lingshüfte aus gesundheitspolitischen und volkswirtschaftlichen Überlegun- gen auch sein mag, sollte man doch da- rauf achten, nicht durch unnötige Ver- komplizierung und Verunsicherung Anwender davon abzuschrecken, die Hüften unserer Kinder sonographisch zu untersuchen und die richtigen Handlungskonsequenzen daraus zu ziehen.
Literatur
1. Graf R: Sonographie der Säuglingshüfte und thera- peutische Konsequenzen – ein Kompendium. 5.
Auflage. Stuttgart: Thieme 2000.
2. Tschauner C: Die Hüfte. Stuttgart: Enke 1997.
Weitere Literatur beim Verfasser
Priv.-Doz. Dr. med. Christian Tschauner LKH-Kinderorthopädische Abteilung 8852 Stolzalpe, Österreich
Schlusswort
Herr Reither stellt die Effizienz des derzeitigen Screening-Programms in- frage, weil der Untersuchuchungszeit- punkt zu spät läge und die Kosten des Screening größer sein dürften als die einer Spätbehandlung der Hüftge- lenkdysplasie.
Dieser Kritikpunkt hat den wissen- schaftlichen Beraterstab als auch die Kostenträger bewogen, von Anfang an eine Evaluation des derzeitigen Screening-Programms durchzuführen.
Aus ärztlicher Sicht wäre ein klini- sches und sonographisches Screening unmittelbar nach der Geburt und im dritten Lebensmonat wünschenswert gewesen. Die jetzige Verfahrensweise war eine Kompromisslösung, um überhaupt ein Screening-Programm zu etablieren.
Die Studie über dieses Programm in der Bundesrepublik Deutschland ist besonders wichtig, weil eine Evaluati- on dieses Prozesses bisher nicht statt- gefunden hat. Andererseits haben Un- tersuchungen in Österreich gezeigt, dass die zweimalige sonographische Untersuchung durch eine große An- zahl unnützer Zweituntersuchungen belastet ist, sodass man nachträglich das in Deutschland etablierte Verfah- ren propagiert (Müller, Grill). Die Be- hauptung des Kollegen Reither, dass das derzeitige Verfahren teurer sei als die Spätbehandlung, ist nicht belegt.
Die Untersuchungen von Moffet zei- gen vielmehr, dass das sonographische Screening erheblich günstiger ist als die aus dem Aufwand der Spätbe- handlung entstehenden Gesamtko- sten. Gegenteilige Untersuchungen liegen bisher nicht vor.
Die Vermutung von Herrn Reither, dass anfänglich normale und später
pathologisch werdende Hüftgelenke nur einer nicht ausreichenden klini- schen beziehungsweise sonographi- schen Untersuchung anzulasten sind, kann ebenfalls nicht unterstützt wer- den. Es ist Basiswissen der Orthopä- die, dass sich Hüftdysplasien infolge externer mechanischer Faktoren ent- wickeln (40 Prozent Hüftgelenklu- xationsrate bei Eskimos, die die Säug- linge unmittelbar postpartal in ge- streckter Stellung der Hüftgelenke wickeln). Fettweis hat belegen kön- nen, dass die erzwungene Streckstel- lung des Hüftgelenks aus einem nor- malen ein pathologisches Sonogramm machen kann.
Dem Statement von Herrn Tschau- ner kann nicht in vollem Umfang ge- folgt werden, wenn es heißt, dass die
„ursprüngliche und heute unverän- dert gültige Grafsche Klassifikation für die klinische Routine weiterhin ein brauchbares und ausreichend sicheres Instrument in der Mehrheit der An- wender ist“. Die Klassifikation muss nämlich nicht nur für die Mehrheit, sondern für alle in einheitlicher Form gelten. Die Klassifikationsschwierig- keiten ergeben sich durch die von Tschauner bestätigte spontane Rei- fungsdynamik, die in den ersten drei Lebensmonaten besonders groß ist.
Wenn die sonographische Untersu- chung in der sechsten Lebenswoche stattfindet, liegt sie also inmitten die- ser dynamischen Entwicklung. Die prognostische Beurteilung von Grenz- fällen wird damit prinzipiell schwierig.
Den von Tschauner geforderten Kon- sequenzen einer verbesserten Ausbil- dung und vereinfachten Leitlinien ist ohne Einschränkung zuzustimmen.
Prof. Dr. med. Fritz U. Niethard Orthopädische Universitätsklinik Klinikum der RWTH Aachen Pauwelstraße 30, 52074 Aachen M E D I Z I N
Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 97½½½½Heft 44½½½½3. November 2000 AA2953