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Archiv "Grenzfragen zwischen Wissenschaft und Ethik: Die Bedrohung der Gattung „Mensch“" (10.05.2002)

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E

rinnerungen sind keine Geschichts- quellen, auch wenn sich die so ge- nannte oral history auf das Ge- dächtnis und die Aussagen von Zeitge- nossen stützt. Das Problem der Quel- lenkritik aber, das Basisproblem histo- risch arbeitender Disziplinen, stellt sich bei dieser Art von Geschichtsschrei- bung besonders dringlich und kompli- ziert. Die individuelle Erinnerung, von der Horst Bienek meinte, sie laufe im Bewusstsein wie ein falsch belichteter Film ab, bei dem nur ab und zu ein Bild scharf gestellt ist, überliefert andere Er- eignisse als das kollektive oder gar das kulturelle Gedächtnis.

Nach spätestens 80 Jahren verblasst die Erinnerung, mischen sich Gelesenes und Erlebtes ununterscheidbar. Nach 40 Jahren schon bedarf die Erinnerung der Mitlebenden der kulturellen Stütze, der schriftlichen Aufzeichnung, des Denkmals, des Museums oder gar des Gedenktages, des Sonntags in der gleichförmigen Reihe aller Tage. So ha- ben Jahreszahlen (und damit Jubiläen) eine eigene Magie, der man sich nur schwer zu entziehen vermag.

Für mich war das Jahr 1952 ein weg- weisendes Jahr in meinem Leben, weil ich damals, mit 17 Jahren, erstmals mei- ner Frau begegnet bin. Das mag für ei- nen umgrenzten Kreis von Menschen durchaus bedeutsam geworden sein, für unsere Kinder, vielleicht auch für unse- re Enkelkinder. Für die Gesellschaft, in der wir leben, ist dies ein nebensächli- ches Datum. Für Staat und Gesell- schaft, ja für den europäischen Konti- nent und den europäischen Kulturkreis, war es sicher bedeutsamer, dass in die- sem Jahr 1952 die Hilfslieferungen des Marshall-Planes endeten, dass Europa begann, wieder auf eigenen Füßen zu stehen, dass die Pläne zu einer europäi-

schen Agrar-Union zwar stagnierten, das Gesetz über die Montan-Union aber vom Deutschen Bundestag verab- schiedet wurde. Die Verfassungsklage der damaligen parlamentarischen Op- position gegen die EVG wurde abge- wiesen. Auch wenn die Europäische Verteidigungsgemeinschaft dann am Widerstand des französischen Parla- ments scheiterte – Europa machte sich doch auf den schweren und langsamen Weg seiner Einigung.

1952 war das Jahr, in dem Christian Dior die „fließende Linie“ mit der

„wandernden Taille“ in einer eleganten und dem Auge (zumindest dem Män- ner-Auge) schmeichelnden Damenmo- de kreierte. Wichtiger für die allgemei- ne Geschichte aber war wohl das Fak- tum, dass sich damals eine das Ausse- hen von Frauen und Männern gleicher- maßen verändernde, amerikanische Mode in Europa fast seuchenartig aus- breitete: die aus blauem Baumwollstoff gefertigten Hosen, mit aufgenieteten Taschen, nach der Genueser Herkunft des Stoffes genannt Blue Jeans. Ihre ra- sche Ausbreitung verweist nicht nur auf eine Mode, sondern auf eine Zeitstim- mung, auf die verbreitete Mentalität junger Menschen, die (ähnlich wie das Werther-Fieber im 18. Jahrhundert) aus dem Gefühl der Einsamkeit und der Verlorenheit, aber auch aus Zukunfts- hoffnung, stiller Rebellion, aus Sehn- sucht nach Jugendsolidarität und Selbstironie gespeist wurde. Das Kult-

buch der Jeans-Literatur, Jerome David Salingers Roman „The Catcher in the Rye“ (Der Fänger im Roggen), er- schien in den USA 1951, in deutscher Übersetzung zuerst 1954.

Damals, mitten im Kalten Krieg, gehörte ein existenziell, aber auch ein sozial gedachtes Christentum zur Basis der antibolschewistischen Stimmung des Westens. François Mauriac, der Dichter verzweifelter Einsamkeit des Menschen, seiner Verfallenheit an das Böse und seiner Erlösung aus Gnade, erhielt in diesem Jahr den Nobelpreis für Literatur; Romano Guardini, der in München eine spezielle Spielart der Existenzphilosophie lehrende Religi- onsphilosoph, wurde mit dem Friedens- preis des Deutschen Buchhandels aus- gezeichnet. Albert Schweitzer war der Friedens-Nobelpreisträger dieses Jah- res. Das Preisgeld hat er in sein Urwald- Hospital in Lambarene investiert.

Thomas Mann ist 1952 aus den unter der Kommunistenjagd McCarthys sich verdüsternden USA nach Europa zurückgekehrt. Er hat zu Beginn des Folgejahres die Erzählung „Die Betro- gene“ geschrieben, in der eine deutsche Baronin im Klimakterium unter der Berührung durch die Liebe zu einem jungen Amerikaner wieder fruchtbar zu werden meint. Rosalie von Tümmler, die im Zeitpunkt der erzählten Hand- lung der Novelle etwa so alt ist wie das Jahrhundert im Jahr der Publikation dieses Textes (also 53 Jahre alt), muss schließlich erkennen, dass ihre Blutun- gen Symptome eines Unterleibs-Karzi- noms sind. Thomas Mann hat seiner Rosalie von Tümmler nicht zufällig die Züge der deutschen Schriftstellerin Gertrud von Le Fort (1876–1971) gege- ben, das alternde Europa, das sich der Liebe zu dem jugendfrischen Amerika

Grenzfragen zwischen Wissenschaft und Ethik

Die Bedrohung der Gattung „Mensch“

Dem „Imperativ des Fortschritts“ in Naturwissenschaft und Technik begegnet der Imperativ der moralischen Vernunft.

Wolfgang Frühwald

Dieser Aufsatz ist die leicht gekürzte und bearbeitete Fas- sung eines Vortrages, den Prof. Dr. phil. Wolfgang Früh- wald anlässlich des Festaktes zum 50-jährigen Bestehen des Wissenschaftlichen Beirates der Bundesärztekammer am 8. März in Berlin gehalten hat (dazu DÄ, Heft 11/

2002). Frühwald ist der Präsident der Alexander von Humboldt-Stiftung und war von 1992 bis 1997 Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

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hingibt, meint diese Erzählung, trägt in sich die Krankheit zum Tode.

Man hat später diese hier flüchtig skizzierte Zeitstimmung aus Verzweif- lung und Nostalgie, aus noch kaum arti- kulierter Sehnsucht nach Überwindung der „Welt der alten Männer“ und Selbstironie als „restaurativ“ bezeich- net und dabei übersehen, wie sich im Untergrund die Zukunft vorbereitete, wie sich ein starker demokratischer Kern bildete, der auch die Krisen der 60er- und der 70er-Jahre zu überstehen vermochte. Dabei gab es genügend Si- gnale, die auf die Zukunft verwiesen, doch haben wir als Zeitgenossen diese Signale nur unzureichend gedeutet.

1952, als in Ost und West die ersten Wasserstoffbomben explodierten, als sich die Welt in zwei Machtblöcken ver- härtete, gab es bereits Anzeichen jener Mobilität, die das Blocksystem der Welt gleichsam von innen her zerstört hat.

Im Jahr 1952 nämlich purzelten die Geschwindigkeitsrekorde nicht nur in der Schiffspassage über den Atlantik, sondern vor allem bei den Lang- streckenflügen. In neun Stunden und 50 Minuten flog erstmals ein amerikani- scher Düsenbomber non stop über den Pazifik von Alaska nach Japan. Die Gravitationsfelder der Welt begannen sich unmerklich aus dem Westen der Welt in den Osten zu verschieben.

Der stärkste Motor der Veränderung aber war (und ist) die Wissenschaft, deren technische Anwendungen jetzt von basalen Veränderungen sprachen.

Mit dem Jahr 1952 begann das halbe Jahrhundert jener nachmodernen Er- fahrungsexplosion, welche die Welt von Grund auf ver- ändert hat, bis wir in unseren Tagen –

um mit Jürgen Habermas zu sprechen – nicht mehr neue Antworten auf alte Fragen suchen, sondern vor Fragen einer anderen Art stehen.

Im Jahr 1952 wurde der Nobelpreis für Medizin an Selman Abraham Waks- man für die Mitentdeckung des Strep- tomycins vergeben, und im gleichen Jahr wurden Bakterien gezüchtet, die gegen dieses Antibiotikum 250 000-mal wi- derstandsfähiger sind als die Ausgangs-

form. Im Folgejahr schon (1953) haben Crick und Watson in der Zeitschrift

„Nature“ jene klassische Beschreibung der DNA-Doppelhelix publiziert, die das biologische Zeitalter einleitete und die Mikrobiologie als Leitwissenschaft an die Stelle der Atomphysik setzte.

Dass sich die Bundesärztekammer im Jahr 1952 einen Wissenschaftlichen Beirat geschaffen hat, war somit eine weitreichende und eine vorausschauen- de Entscheidung. Von nun an nämlich wurde der Zusam-

menhang von Bio- logie oder besser von Biochemie und Medizin so eng, dass der Ab-

stand zwischen Grundlagenforschung und Entwicklung rasch zu schrumpfen begann, wissenschaftliche Entdeckun- gen und Entwicklungen das soziale Le- ben revolutionierten und die Entwick- lungen bereits der Grundlagenfor- schung in wirtschaftliche und ethisch re- levante Bereiche eindrangen. Die Auf- gabe der Ärztekammern, für einen wis- senschaftlich und ethisch hoch stehen- den Ärztestand Sorge zu tragen, war ohne fachkundige Beratung in beiden Bereichen nicht mehr zu erfüllen.

Dass sich Ethik, insbesondere ärztli- ches Ethos, und Wissenschaft wider- sprechen können und solche Wider- sprüche in neuerer Zeit auch unter de- mokratischen Verhältnissen häufiger werden, liegt vermutlich an der beson- deren Art, in der sich Naturwissen- schaft und Technik weiterentwickeln.

Der Begriff des

„Fortschritts“, der seit wenigstens 1795 im heutigen Wort- gebrauch überlie- fert ist, als „Ver- mehrung der Ein- sichten, der Erfahrung, des Muts, der Fertigkeit im Guten oder auch im Bösen“, gehört zu den Naturwissen- schaften und zur Technik in einem ganz anderen Maße als zu Kunst, Literatur und Geisteswissenschaften.

Naturwissenschaft und Technik sind geradezu durch ihren Fortschritt defi- niert, „Die Kernphysik überwindet die Alchimie; durch die Molekularbiologie wird die Physiologie der Körpersäfte

überholt. Dasselbe gilt für die Anwen- dungen: E-Mail stellt eine Verbesse- rung gegenüber dem Semaphor dar, ein Überschallflugzeug überflügelt eine Galeone, das Chloroform veranschau- licht das Heraustreten des Menschen aus unvorstellbaren Schmerzen. Keine Winde der Mode werden Naturwissen- schaft oder Technologie in die Vergan- genheit zurückwehen“ (G. Steiner).

Durch die Beschleunigung des Erfah- rungswandels, welche das grundlegen- de Kennzeichen der Moderne und der Nachmoderne ist, sind wir alle in der Lage, solche Fortschritte am ei- genen Leibe zu prüfen: Wer in seiner Kindheit die Gefahren der Poliomyeli- tis gesehen hat, weiß, welch kluge Ent- scheidung es war, die wenigen zur Ver- fügung stehenden Mittel in den 50er- Jahren des letzten Jahrhunderts nicht in die Perfektionierung der Eisernen Lun- gen, sondern in die virologische Grund- lagenforschung und damit in die Ent- wicklung eines Impfstoffes zu investie- ren.

Der Fortschritt in den Naturwissen- schaften aber hat es an sich, dass er von Einzelnen kaum zu beeinflussen ist, dass er sich prozesshaft, gleichsam aus sich selbst heraus fortschreibt, dass da- mit auch alle Grenzen, welche die For- schung sich selbst setzt und sich selbst setzen will, nicht haltbar sind. Die Sum- me der naturwissenschaftlichen Fort- schritte, sagt George Steiner, übersteige

„exponentiell ihre einzelnen Teile, und seien sie auch noch so sehr von persön- lichem Genie inspiriert“. In einem ge- wissen und starken Sinne sei der natur- wissenschaftlich-technische Fortschritt demnach „träge und ozeanisch“, ließen sich „naturwissenschaftliche Theorien und Entdeckungen [nur]. . . als anonym denken. Die große Flut kommt herein“.

Der ganze Unterschied aber zu der „an- deren“ Kultur, der ganze Unterschied zwischen „science“ und „literature“, ist dann in Steiners Frage enthalten, die da lautet: „Was stellt im Gegensatz hierzu einen Fortschritt gegenüber Homer oder Sophokles, gegenüber Platon oder Dante dar?“ So fügt er an diese – absur- de – Frage die lapidare Antwort an:

„Ernsthafte Werke werden weder über-

Mit dem Jahr 1952 begann das halbe Jahrhundert jener nachmodernen Erfahrungs- explosion, welche die Welt von Grund auf verändert hat.

Naturwissenschaft und

Technik sind geradezu durch

ihren Fortschritt definiert.

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holt noch verdrängt; große Kunst wird nicht antiquarischem Status überant- wortet; [die Kathedrale von] Chartres altert nicht.“ Dies bedeutet, dass „in den bildenden Künsten, in der Literatur und der Musik . . . Dauer nicht Zeit“ ist, dass auch die ethischen Fragen der Menschheit nicht altern, weil es tatsäch- lich so etwas gibt wie „den“ Menschen und seine Verfasstheit in der Welt.

Das ist keine neue Erkenntnis, aber eine immer wieder vergessene Einsicht, die schon Goethe unter dem Eindruck der auf naturwissenschaftlicher Grund- lage entstehenden Technik seiner Zeit so formuliert hat: „Neue Erfindungen können und werden geschehen, allein es kann nichts Neues ausgedacht wer- den, was auf den sittlichen Menschen Bezug hat.“ Der Humanitäts-Diskurs ist von anderer Art als der moderne Wissenschafts-Diskurs. Dort, wo sich beide Diskurse nicht durchdringen und widerständig aufeinander beziehen, gerät die Welt aus dem Gleichgewicht.

So steht die Geschichte der Einsamkeit (und die ethische

Entscheidung gehört zu ihr) ge- gen die Geschichte des Fortschritts, die Geschichte zeitlo-

ser Dauer gegen die der Geschwindig- keit wirtschaftlicher und wissenschaft- licher Entwicklungen, die Geschichte der prozesshaft und „ozeanisch“ sich ausbreitenden naturwissenschaftlichen Einsicht in die Welt gegen die dem Zufall, der Gewalt und dem Irrtum ausgesetzte Geschichte des Individu- ums und – da die Geschichte der Naturwissenschaft zugleich eine Ge- schichte des Rückzugs der Sprache ist – die Geschichte der sprachlichen Er- klärung gegen die der Formel und die erst kurze Geschichte der Visualisie- rung hochkomplexer Zustände. Auf diesem völlig unübersichtlichen Gelän- de ist der Wissenschaftliche Beirat (nicht nur der Bundesärztekammer) positioniert, auf einem Feld, auf dem sich unterschiedliche Denkkulturen mit jeweils starken Eigentraditionen begeg- nen und herrisch ihr Recht fordern.

Dem „Imperativ des Fortschritts“ in Naturwissenschaft und Technik begeg- net der Imperativ der moralischen Ver- nunft. Dieser Imperativ aber fordert,

Grenzen und Dämme dort zu ziehen, wo der Erkenntnisstrom längst über die Ufer getreten ist, damit ein Stück be- wohnbares Land für die Menschen ver- bleibt. Pragmatismus, in den viele vor der komplexen Problemlage heute zu flüchten versuchen, hilft in einer sol- chen Situation nur dem, der sich bereits mit Haut und Haaren dem „magischen Turnus der Investitionen und Auslö- schungen“ (D. Grünbein) verschrieben hat. Ein solcher Turnus zerstört unser Gedächtnis ebenso wie die Grundlagen unseres Zusammenlebens.

Kein historischer Vergleich hat der- zeit so Konjunktur wie der des „Rubi- kon“. Seit der Streit um die Forschung an embryonalen Stammzellen des Men- schen in Europa und den USA begon- nen hat, ist der kleine Fluss, der südlich von Ravenna in die Adria mündet, zu ei- ner Leitmetapher in der Frage nach der ethischen Grenzziehung in Biologie und Medizin geworden. Es sei noch viel Raum diesseits des Rubikon, hat der Bundespräsident am 18. Mai 2001 in sei- ner berühmt ge- wordenen Berliner Rede über einen Fortschritt nach menschlichem Maß gesagt und damit heftigen Widerspruch geerntet. Das Grenzbild nämlich bezieht sich auf die Forschung an embryonalen Stammzel- len des Menschen, für deren Gewin- nung menschliche Embryonen in vitro hergestellt und innerhalb der ersten 14 Entwicklungstage getötet werden müs- sen. Es bezieht sich auf die weitgehend unbeantwortete Frage, weshalb die ethisch unproblematische Forschung an adulten Stammzellen nicht priorisiert wird, weshalb nicht wenigstens die Tier- versuchsreihen abgeschlossen werden, ehe auf „menschliches Material“ über- gegriffen wird? Es bezieht sich schließ- lich darauf, dass die Debatte in Deutsch- land nur eine Variante im weltweiten Embryonenstreit ist, die hier einer gege- benen Gesetzeslage gerecht zu werden versucht, aber keine grundsätzlich ande- re Debatte als die internationale Dis- kussion ist. Die Maximalforderungen der Forschung in Deutschland stimmen mit den Forderungen der Forschung überein, die weltweit auf verbrauchende Embryonenforschung zielen.

Johannes Rau, Hubert Markl, die Deutsche Forschungsgemeinschaft, Jür- gen Habermas, Konrad Beyreuther und viele andere bemühen den Rubi- kon, um eine endlich erreichte Grenze des Wissens und die Gefahr oder die Chance der Grenzüberschreitung an- schaulich zu machen. Der Rubikon ist jener Grenzfluss zwischen der Provinz Gallia Cisalpina und dem römischen Stammland, den Caesar im Jahr 49 v.

Chr. mit seinen Legionen in Richtung auf Rom überschritten und damit die Lex Cornelia Majestatis gebrochen hat, die es einem Feldherrn untersagte, sei- ne Armee aus der von ihm befehligten Provinz herauszuführen. Caesar hat mit dieser Entscheidung einen drei Jahre dauernden Bürgerkrieg eröffnet. Der Rubikon ist im Streit um Embryonen- verbrauch und Stammzellenimport, um Präimplantationsdiagnostik (PID) und Keimbahnintervention, um therapeuti- sches und reproduktives Klonieren, um das Designer-Baby, den künstlichen Uterus und letztlich jenes body net, in welcher der Mensch „in einer Molekül- kette, die theoretisch ununterbrochen sein könnte, zu einer Episode seiner oder ihrer früheren Inkarnationen wer- den könnte“ (G. Steiner), zum Bild der Grenze geworden, welche die Gesell- schaft der Wissenschaft zu setzen ver- sucht. Schließlich vergeht kein Tag, an dem nicht neue Sensationsmeldungen aus Pränatal- und Perinatalmedizin durch die Weltmedien geistern, an de- nen der „Imperativ des Fortschritts“

nicht nachdrücklich und durchaus stau- nenswert bewusst gemacht wird.

Es scheint, als stehe nach den schon von Sigmund Freud konstatierten Kränkungen des Menschen, die nach dem Befund von Jürgen Habermas alle- samt „Dezentrierungen“ gewesen sind, nun eine dritte Kränkung bevor. Sie wird jedem von uns auf den Leib rücken und nicht nur das kollektive Bewusst- sein beeinflussen. Nach der kopernika- nischen Wende, welche die Erde aus dem Mittelpunkt des Kosmos genom- men hat, war die Darwinsche Krän- kung, die den Menschen – Krone der Schöpfung! – an die Kette seiner natür- lichen Abstammung gelegt hat, die zweite Dezentrierungs-Erfahrung der Menschheit. Jetzt aber hat es den An- schein, als könne der Mensch eine nicht

Der Humanitäts-Diskurs ist

von anderer Art als der mo-

derne Wissenschafts-Diskurs.

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nur vorgestellte, sondern seine leibhaf- te Mitte verlieren, seinen nur ihm zu- gehörigen Leib, der gezeugt, nicht er- zeugt ist, den er frei verschenken und sogar zerstören kann, der aber (noch) nicht zu manipulieren und nach dem Willen anderer irreversibel zu program- mieren und zu verändern ist. Es hat den Anschein, als könne schon in absehba- rer Zukunft der Mensch nicht mehr

„Leib sein“, sondern nur noch „Körper haben“ (H. Plessner). Dies nämlich wä- re die notwendige Konsequenz einer nicht nur im Einzelfall, sondern seriell durchgeführten Präimplantationsdia- gnostik. Die Konjunktur der Körper- moden, der Körper-Erforschung, der Leichen-Plastinierung, der ästhetischen Präsentation plastinierter Körper in anatomischen Ausstellungen, der Para- digma-Bildung um Körper und Körper- lichkeit in historischen und philologi- schen Wissenschafts-Disziplinen, aber auch der Körperverachtung in terrori- stischen Attacken und neuen Waffen, verweist in ihrer Massierung vermutlich doch eher auf eine Verlusterfahrung als auf die triumphale Entdeckung neuer Körperlichkeit.

„Leibhaftig“ heißt die (2002 erschie- nene) Erzählung von Christa Wolf, in der eine schwer

kranke Frau die Entfremdung von ihrem eigenen Kör- per zu überwinden sucht, versucht, wie- der Leib zu sein, statt nur noch ei-

nen Körper zu haben, der nach dem Zusammenbruch des Immunsystems sich selbst aufzufressen beginnt: „Das Martyrium und der Untergang der Leiber“, heißt es in diesem Text in schlagzeilenartiger Erinnerung an das blutige 20. Jahrhundert, „mein Leib mitten unter ihnen.“

Im kollektiven Bewusstsein entsteht heute allmählich die Vorstellung, dass der Mensch seine leibhafte Mitte verlie- ren könnte, dass sich die letzte ihm ver- bliebene biologische Gewissheit auflö- sen könnte in die Beliebigkeit aus- tauschbarer, zu züchtender Einzelorga- ne. Im gleichen Maße, in dem „immer rudimentärere Lebensformen [ent- deckt oder im Modell entworfen wer- den], die der Schwelle zum Anorgani-

schen immer näher stehen“, im gleichen Maße, in dem in den Tiefen des Weltin- nenraums und des Kosmos das ge- schichtliche Bild des Menschen in die Kälte der Äonen entschwindet, ver- blasst auch die Vorstellung von der Würde, der Unverwechselbarkeit, der Nichtaustauschbarkeit der einen und einzelnen, in ihrer Einzelheit kostba- ren, unwiederholbar konkreten Person.

Das nicht-personale Zeitalter, in das wir, nüchtern gesehen, vor etwa 50 Jahren eingetreten sind, ist ein natur- wissenschaftlich-technisch dominiertes Zeitalter, in diesem Zeitalter verändert sich nicht nur das Verhältnis des Men- schen zur Natur (auch des eigenen Lei- bes), verliert dieses Verhältnis nicht nur die Anschaulichkeit, in dieser Ära wird die Realisierung einer bisher nur in den Mythen und Sagen der Menschheit exi- stierenden Vorstellung wahrscheinlich, dass in nicht allzu ferner Zeit „geneti- sches Material, das zur Selbstreproduk- tion fähig ist, im Laboratorium geschaf- fen werden wird. Der adamische Akt und die Erschaffung des Golems sind rational denkbar“. (G. Steiner)

So gewinnt die Medizin, die es trotz, vermutlich sogar wegen ihrer naturwis- senschaftlichen Grundlegung mit der verblassenden leib- haften Mitte des Menschen, mit dem konkreten, ganzen und komplexen Men- schen zu tun hat, auf dem Konflikt- feld von naturwis- senschaftlicher und sozialer Bestim- mung des Menschen eine Position, die ihr die Rolle des Vermittlers in einem Wertekonflikt zuschreibt, wie er zuge- spitzter kaum denkbar ist. Denn um einen Wertekonflikt geht es bei der Embryonendebatte in den Wissen- schaftsländern der Welt, nicht so sehr um eine naturwissenschaftlich mit dem Sachverstand der Molekularbiologie zu entscheidende Frage. Es geht um die Frage, was schützenswertes menschli- ches Leben ist, welche Erbgutmani- pulationen wir uns erlauben dürfen, welche Mittel der therapeutische Zweck fordert.

Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesärztekammer wird in Zukunft immer stärker von solchen Grenzfragen

zwischen Wissenschaft und Ethik gefor- dert sein, weil dies die Fragen sind, in denen Gesellschaft und Politik nun ver- mehrt Beratung brauchen, in denen der einseitig (naturwissenschaftlich oder so- zial) gepolte Sachverstand nicht aus- reicht, um urteilsfähig zu sein. Ein soli- des naturwissenschaftliches Fundament des Wissens, die Fähigkeit zur sozialen Einbettung der zu entscheidenden Fra- gen in die Gemeinschaft von Werten und Kulturen und der Mut zur öffentli- chen Aussprache der gefundenen Ent- scheidung sind die drei Säulen, auf de- nen die Stellungnahmen des Wissen- schaftlichen Beirates beruhen. Es lohnt sich deshalb, die Rede des Bundespräsi- denten von Mai 2001 nachzulesen, in der Fortschritt und Maß miteinander korreliert sind, eben jene beiden Begrif- fe, die den genannten Entscheidungen zugrunde liegen. „Auch wenn wir über die neuen Möglichkeiten der Lebens- wissenschaften sprechen“, sagte Johan- nes Rau, „geht es nicht in erster Linie um wissenschaftliche oder um techni- sche Fragen. Zuerst und zuletzt geht es um Wertentscheidungen. Wir müssen wissen, welches Bild vom Menschen wir haben und wie wir leben wollen.“

Wie weit heute schon die naturwis- senschaftliche Beurteilung von mögli- chen medizinischen Methoden in das soziale Leben eingreift, ist vermutlich am Beispiel der Präimplantationsdia- gnostik am einleuchtendsten zu be- schreiben. Es steht dort nämlich inzwi- schen nicht mehr Zulassung oder Ver- bot eines diagnostischen Verfahrens zur Debatte, sondern die Begriffe von Ge- sundheit und Krankheit in einem relati- ven oder normativen Verständnis über- haupt. Eine der großen Überraschun- gen des Humangenomprojekts, sagt Konrad Beyreuther, sei das Faktum, dass sich „die Entstehung des Human- genoms auf ein unglaubliches Gemisch von Bruchstücken unterschiedlichster Herkunft zurückführen“ lasse. „Im Ge- nom finden sich zahlreiche Kopien ehe- maliger Viren. Virusinfektionen, die unsere Vorfahren erlitten, haben sich als ‚Immigranten‘ im Genom niederge- lassen.“ Das bedeutet doch nichts ande- res, als dass wir durch Krankheit gesund sind, dass Gesundheit und Krankheit nicht normativ, sondern nur entwick- lungsgeschichtlich zu bestimmen sind,

So gewinnt die Medizin eine

Position, die ihr die Rolle des

Vermittlers in einem Werte-

konflikt zuschreibt, wie er

zugespitzter kaum denkbar ist.

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weil die Genkombinationen scheinbare Krankheitsdispositionen in Vorteile für die Genträger verwandeln können?

„Warum konnten sich krankheits- disponierende Varianten bestimmter Gene durchsetzen?“ fragt Konrad Bey- reuther. „Was ist ihr Vorteil?“ Und er antwortet: „Bei der Sichelzellanämie, die bei 40 Prozent der Nordafrikaner vorkommt, kennt man den Grund. Die Veranlagung schützt vor Malaria. Sie hat aber den Nachteil, dass bei schwerer körperlicher Arbeit die sichelförmige Veränderung der roten Blutzellen zu Verstopfung der Blutgefäße führt und damit tödlich sein kann.“ Eine Men- schenzüchtung also, die abstrakt und rationalistisch seriell nach Design und Programm fragt und die unvorstellbare, überkomplexe Fülle des Lebens ver- nachlässigt, wird Monstren, nicht Men- schen, jedenfalls nicht Menschen nach dem heute noch gültigen und anschauli- chen Bild dieser Spezies, herstellen.

Der Eingriff in die Erbanlagen des Menschen unterliegt gesellschaftlichen und naturwissenschaftlichen Wertent- scheidungen. „Was heute als nutzlose oder schädliche Genvariante erschei- nen mag, kann sich morgen als Schlüs- sel zum Fortbestand der Spezies Mensch erweisen. Klar scheint jeden- falls zu sein, was genetisch sinnvoll ist, kann sich binnen kurzem verändern, und das Abnorme kann sich über Nacht zur Norm entwickeln. Die Normalität des genetisch Abnormen macht offen- sichtlich Sinn. PID ohne strengste Indi- kationen und Keimbahnmanipulatio- nen beim Klonen von Menschen wären gefährliche Eingriffe in dieses Reser- voir.“ (K. Beyreuther)

In die gesellschaftliche und wissen- schaftliche Debatte um die Konkurrenz verblassender, sich spaltender und viel- leicht sogar auflösender Menschenbil- der hat Jürgen Habermas mit der Frage nach der Gattungsethik des Menschen ein Argument eingeführt, das in der ka- suistischen deutschen Diskussion um Gesetzeslücken und Stammzellenim- port unterzugehen droht. Habermas meint, dass der heutige Umgang mit vorpersonalem menschlichen Leben Fragen eines Kalibers aufwerfe, die normale Differenzen der Denkkulturen oder auch der Kulturkreise weit über- schreiten. „Sie berühren nicht diese

oder jene Differenz in der Vielfalt kul- tureller Lebensformen, sondern intuiti- ve Selbstbeschreibungen, unter denen wir uns als Menschen identifizieren und von anderen Lebewesen unterscheiden – also das Selbstverständnis von uns als Gattungswesen.“ Die emotionalen Re- aktionen auf die verbrauchende Em- bryonenforschung, auf die „Zeugung von Embryonen unter Vorbehalt“ und die „Vernutzung“ von menschlichen Embryonen, die ja bis zum Vorwurf „ar- chaisch-kannibalistischer Praktiken“

reichen, drückten den „Abscheu vor etwas Obszönem“

aus. Er sei zu ver- gleichen dem „Ekel beim Anblick der chimärischen Ver- letzung der Art- grenzen, die wir naiverweise für un- verrückbar gehal-

ten hatten“. Das „ethische Neuland“, das wir beträten, bestehe „in der Ver- unsicherung der Gattungsidentität“.

Wenn dieser Befund richtig ist, und ich habe keinen Grund, daran zu zweifeln, dann müssen wir vermutlich lernen einzusehen, dass es zu dem von uns (von uns Menschen) erzeugten und ent- wickelten, umstrittenen und geglaubten Bild des Menschen, das seit den ersten Manifestationen menschlichen Bewusst- seins in der leibhaften Identität des Gattungswesens Mensch wurzelt, eine Alternative zu geben scheint: die Auf- lösung dieser leibhaften Identität durch die genetische Vor- und Umprogram- mierung gezüchteter Menschen. Ein von seinen Eltern oder seinen Erzeu- gern irreversibel und programmgemäß geschaffener Mensch wird ein anderes Verhältnis zu seiner und seiner Mitle- benden Existenz haben als ein aus der Zufallsentscheidung der Natur entstan- dener Mensch. „Die Vergegenwärti- gung der vorvergangenen Program- mierung eigener Erbanlagen mutet uns gewissermaßen existenziell zu, das Leibsein dem Körperhaben nach- und unterzuordnen.“

Das sind weitreichende Fragen und sie stellen sich jetzt. Auch wenn die Apologeten der umstandslosen For- schung an embryonalen Stammzellen des Menschen nur ganz kleine Brötchen zu backen meinen, hat ihre „Ethik des

Heilens“ gegenüber diesen Grundfra- gen des Menschseins etwas rührend Naives an sich. Zeugung und Erzeu- gung von menschlichem Leben sind un- terschiedliche Ursprungsweisen. Der genetische Zufall des bunten Men- schengewimmels ist etwas grundsätz- lich anderes als die technisierte Planung eines optimierten, eines gezüchteten Menschen.

Menschenzucht liegt sicher (noch) nicht in der aktuellen Absicht der seriö- sen Forschung an menschlichen Em- bryonalzellen und gehört derzeit noch zum Propaganda- Arsenal der „Spin- ner“, aber, und das wird allzu oft über- sehen, sie liegt in der Entwicklungs- tendenz dieser For- schung. „Embryo- nenzucht und PID“, konstatiert Habermas, „erregen die Gemüter vor allem deshalb, weil sie eine Gefahr exemplifizieren, die sich mit der Perspektive der ‚Menschen- züchtung‘ verbindet. Zusammen mit der Kontingenz der Verschmelzung von jeweils zwei Chromosomensätzen verliert der Generationenzusammen- hang die Naturwüchsigkeit, die bisher zum trivialen Hintergrund unseres gattungsethischen Selbstverständnisses gehörte.“

Es könnte also sein, dass durch die Fortschritte der Genetik und ihrer An- wendungsform, der Gentechnologie, die überlieferte Weise der vom Men- schen ausgeübten Herrschaft über die Natur verändert wird. „Mit den human- genetischen Eingriffen schlägt Natur- beherrschung in einen Akt der Selbst- bemächtigung um, der unser gattungs- ethisches Selbstverständnis verändert – und notwendige Bedingungen für auto- nome Lebensführung und ein univer- salistisches Verständnis von Moral berühren könnte.“ Wer von den ihm Vorangehenden (seinen Eltern, seinen Erzeugern, seinen Ei- und Samenspen- dern) nicht durch natürliche Zufallsent- scheidung, sondern durch technische Intervention irreversibel genetisch pro- grammiert ist, verliert nichts weniger als die Freiheit gegenüber dem vorher- bestimmenden, auch gegenüber dem erzieherischen Willen der Eltern. Zwar

Der genetische Zufall des

bunten Menschengewimmels

ist etwas grundsätzlich

anderes als die technisierte

Planung eines optimierten,

eines gezüchteten Menschen.

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ist dies eine Frage, die stärker das Be- wusstsein als den Organismus betrifft, doch ist es die Kernfrage nach dem Selbstverständnis des Menschen. „. . . warum sollen wir moralisch sein wol- len“, heißt es bei Habermas, „wenn die Biotechnik stillschweigend unsere Identität als Gattungswesen unter- läuft?“ Anders gefragt: Warum sollten wir moralisch sein wollen, wenn wir durch Programm und Design vorbe- stimmt, optimiert und in eine Entwick- lungsbahn gezwungen sind, der wir nicht entkommen können?

Mit der durch Programm und Design zerstörten Freiheit der Entscheidung könnte der „Impuls des moralischen Wollens“ aus der Welt entschwinden.

„Aber das Leben im moralischen Vaku- um [so nochmals Habermas], in einer Lebensform, die nicht einmal mehr mo- ralischen Zynismus kennen würde, wä- re nicht lebenswert. Dieses Urteil drückt einfach den ‚Impuls‘ aus, ein menschenwürdiges Dasein der Kälte ei- ner Lebensform vorzuziehen, die von moralischen Rücksichten unberührt ist.“ Dem ist kaum noch etwas hinzuzu- fügen. Die Perspektive, unter der wir diskutieren, ist die aktuelle Bedrohung nicht mehr nur des Individuums oder der Gesellschaft, sondern die Bedro- hung der Gattung „Mensch“. Wir strei- ten nicht um neue oder veraltete wis- senschaftliche Methoden, nicht um Ge- setzeslücken und Gesetzesnovellie- rung, nicht einmal um Forschungsfrei- heit und Menschenwürde, wir streiten um die bisher naturwüchsige, scheinbar alternativenlose leibhafte Basis unserer Urteile und Entscheidungen, um den Begriff des Menschen und seines Lei- bes, um den Begriff menschlicher Frei- heit und die physischen Möglichkeiten humanen, ethischen Wollens. Einen solchen Streit hat es in der Geschichte der Menschheit noch nicht gegeben.

Hier stellen sich tatsächlich „Fragen an- derer Art“, und darum lohnt sich der Streit. Die Stimme des Wissenschaftli- chen Beirates der Bundesärztekammer hat in diesem Streit Gewicht.

Zitierweise dieses Beitrags:

Dtsch Ärztebl 2002; 99: A 1281–1286 [Heft 19]

Anschrift des Verfassers:

Prof. Dr. phil. Wolfgang Frühwald Römerstädter Straße 4 k, 86199 Augsburg

Palliativmedizin

Defizite in der studentischen Ausbildung

Durch die Einrichtung von weiteren Palliativstationen an den Universitätskliniken und Lehrkrankenhäusern sollte Studie- renden die Möglichkeit gegeben werden, neben theoretischen Kenntnissen auch praktische Erfahrungen zu sammeln.

Eberhard Klaschik, Christoph Ostgathe, Friedemann Nauck*

N

ach einem zögerlichen Beginn zeigt die Palliativmedizin in Deutschland mittlerweile eine sehr dynamische Entwicklung (3). Seit der Einrichtung der ersten Palliativsta- tion im Jahre 1983 an der Universitäts- klinik in Köln wurden inzwischen 70

Palliativstationen in Deutschland mit 580 Betten eröffnet (6). Dieses Ange- bot deckt aber bei weitem nicht den ge- schätzten Bedarf an spezialisierten pal- liativmedizinischen Betten, der bei et- wa 2 400 bis 2 800 liegen dürfte.

Im September 2001 wurde an alle medizinischen Dekanate Deutschlands ein Fragebogen mit neun Fragen ver- schickt. Die Befragung sollte Auf- schluss über das Vorhandensein von Lehrstühlen/Lehrbeauftragten, über das Angebot an unterschiedlichen Un- terrichtsformen (unter anderem Semi- nare, Vorlesungen, computergestütztes Lernen, Fallbeispiele) und zur klini-

schen Ausbildung im Bereich Palliativ- medizin geben.

Die Rücklaufquote war mit 94,3 Pro- zent sehr hoch, 33 der 35 angeschriebe- nen Dekanate haben den Bogen ausge- füllt zurückgeschickt. Nur neun Prozent der Dekanate gaben an, einen oder meh- rere Lehrbeauftragte für Palliativmedi- zin beschäftigt zu haben; nur an einer der Universitäten wurde bisher ein Lehr- stuhl eingerichtet. An keiner Universität wird ein Pflichtpraktikum verlangt. Der Grund hierfür ist, dass Palliativmedizin bisher in dem Fächerkatalog (Anlage 1–3) der ärztlichen Approbationsord- nung nicht vorgesehen ist. Somit enthal- ten die von den Fachbereichsräten der jeweiligen medizinischen Fakultät erlas- senen Studienordnungen keine Pflicht- veranstaltung im Fach Palliativmedizin.

Ein freiwilliges Praktikum wird von 27 Prozent der Universitäten angebo- ten. Dieses Angebot wird aber leider nur von sehr wenigen Studenten ge- nutzt (< 1 Prozent). Ein Seminar findet an 45 Prozent der Universitäten statt.

Die Mehrheit der medizinischen Fakul- täten (54,5 Prozent) bietet Vorlesungen mit palliativmedizinischen Inhalten an.

Eine Vorlesung explizit unter dem Na- men Palliativmedizin wird nur bei ei- nem Drittel der befragten Universitä- ten angeboten.

Nur in sehr wenigen Fakultäten ha- ben die Studenten die Möglichkeit, über PC-gestütztes Lernen (Internet, Fallsimulation) Zugang zu palliativme- dizinischen Informationen zu bekom- men (Grafik 1).An etwa 20 Prozent der Universitäten können Studierende ei- nen Teil der klinischen Ausbildung im

* Zentrum für Palliativmedizin, Malteser Krankenhaus Bonn, Universität Bonn, Leiter: Prof. Dr. med. Klaschik

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