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Archiv "Gesundheitsreformen in den USA: Land der Gegensätze" (02.10.2009)

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A 1958 Deutsches Ärzteblatt

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Heft 40

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2. Oktober 2009

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edizinische Versorgung wird in Europa als ein Grundrecht betrachtet, in den USA jedoch als Privileg.“ Mit diesen Worten ver- deutlicht Leah Vriesman, Assistant Professor an der School of Public Health der University of California Los Angeles (UCLA), einen bedeu- tenden Unterschied im Verständnis von medizinischer Versorgung in Europa und den USA. Im Gegensatz zu Deutschland mit einem nahezu kompletten Versicherungsschutz in der Bevölkerung, sind in den USA fast 50 Millionen Menschen nicht krankenversichert – mit steigender Tendenz. Diese Situation betrifft rund 20 Prozent aller Menschen unter 65 Jahren sowie zehn Prozent der Kin- der. Weitere 25 Millionen Menschen waren im Jahr 2007 unterversichert.

In den USA existieren weder flä- chendeckende staatliche Gesund- heitsversicherungsprogramme noch eine gesetzliche Versicherungspflicht.

Die Verantwortung für die Kranken- versicherung liegt primär bei jedem selbst. Nur sozial schwache und älte- re Mitbürger dürfen auf staatliche Unterstützung hoffen. Arbeitnehmer können sich in vielen Fällen auf die Unterstützung ihrer Arbeitgeber ver- lassen. Allerdings belasten die hohen Zuwendungen der Arbeitgeber zu den Gesundheitskosten deren wirt- schaftliches Ergebnis und damit ihre Konkurrenzfähigkeit. Aus diesem Grund haben viele Arbeitgeber ihre freiwilligen Sozialleistungen in den letzten Jahren deutlich reduziert oder sogar gestrichen. Dies führt zu einer immer stärkeren Belastung des Ein- zelnen und erklärt den hohen Anteil unterversicherter oder nicht versi- cherter US-Bürger.

Da die Organisation der Kranken- versicherung nicht auf einer ein - heitlichen Gesetzesgrundlage erfolgt, ist sie für Außenstehende zunächst

schwer verständlich. Aber auch US- Bürger tun sich schwer, alle Details ihres Krankenversicherungssystems zu verstehen. So erklärt sich der gro- ße Markt für Agenturen, die Bürger bei der Wahl ihrer Krankenversiche- rung beraten und sie auch bei der Abwicklung von Leistungserstattun- gen unterstützen.

Ähnlich wie in Deutschland las- sen sich grob private Krankenversi-

cherungen und staatliche Kranken- versicherungsprogramme unterschei- den: Die private Krankenversiche- rung in den USA basiert auf einer freiwilligen Versicherung der Bürger bei einer der vielen Versicherungsge- sellschaften. Viele Arbeitnehmer ha- ben den großen Vorteil, dass sie sich über eine Gruppenversicherung ihres Arbeitgebers krankenversi- chern können. Dabei zahlt der Ar- Der Emergency

Room ist für Nicht- krankenversicherte die einzige Anlauf- stelle.

GESUNDHEITSREFORMEN IN DEN USA

Land der Gegensätze

Die USA leisten sich eines der teuersten Gesundheitssysteme der Welt. Doch noch immer sind fast 50 Millionen Menschen nicht krankenversichert – mit zum Teil dramatischen Folgen.

Foto: Fotolia

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2. Oktober 2009 A 1959 beitgeber einen unterschiedlich ho-

hen Anteil der Versicherungsprämie.

Die Gruppenkrankenversicherung durch den Arbeitgeber ist ein „Extra“

oder „Benefit“. Allerdings bieten nur etwa 50 Prozent der kleinen und 80 Prozent der mittleren und großen Betriebe diesen Benefit an.

In den meisten Fällen handelt es sich zudem nicht um eine Vollversiche- rung. Die Arbeitnehmer müssen ei- nen Teil der Prämie selbst bezahlen (Tendenz steigend) und/oder haben eine zum Teil erhebliche Selbstbe- teiligung für Arztbesuche, Kranken- hausaufenthalte und Medikamente.

Der Anreiz für die Arbeitgeber be- steht in der Steuerfreiheit der auf- gewendeten Kosten. Die angebote- nen Gruppentarife für Arbeitnehmer und deren Familienangehörige ha- ben die Arbeitgeber mit unterschied-

lichen Krankenversicherungen und Managed-Care-Einrichtungen abge- schlossen. Dort können dann indi- viduelle Versicherungspakete mit unterschiedlichen Leistungskatalo- gen, Selbstbeteiligungen und ent- sprechend unterschiedlichen Prämi- en abgeschlossen werden – die Va- riationsbreite ist groß und zum Teil ver wirrend.

Wenn der Arbeitgeber keine Grup- penversicherung anbietet, steht es jedem Arbeitnehmer ebenso wie al- len Selbstständigen frei, bei einem Versicherungsunternehmen eine in-

dividuelle Police abzuschließen. Die- se individuellen Versicherungspoli- cen sind in aller Regel weniger um- fassend im Leistungsangebot als die Gruppenversicherungen, berücksich- tigen die individuellen Risiken des Einzelnen stärker und führen so zum Teil zu sehr hohen Versicherungs- prämien, die von einem Großteil der Bevölkerung nicht mehr finanziert werden können. Häufig führen ei- gentlich harmlose Vorerkrankungen, wie zum Beispiel Akne, zu einem Ausschluss von der Versicherung.

Bei den staatlichen Krankenversi- cherungsprogrammen unterscheidet man „Medicare“ (Rentner und chro- nisch Behinderte) und „Medicaid“

(bedürftige Mitbürger). Bei Medi - care sind Rentner versichert, die über einen Zeitraum von zehn Jahren als Arbeitnehmer in die Sozialversiche-

rung eingezahlt haben. Die Versiche- rung kommt für die Aufenthalte im Krankenhaus auf. Zusätzlich kann gegen Zahlung einer Prämie eine freiwillige Versicherung für ambu- lante Arztbesuche abgeschlossen werden. Bei der Teilnahme an einem Vorzugsprogramm verpflichtet man sich, alle medizinischen Leistungen bei Kooperationspartnern des Versi- cherers in Anspruch zu nehmen. Dies hat den Vorteil geringerer Zuzahlun- gen und weiterer Extraleistungen, al- lerdings ist die freie Arztwahl einge- schränkt. Seit 2006 besteht außerdem

die Möglichkeit, eine Arzneimittel- versicherung abzuschließen, die die Medikamentenkosten in der ambu- lanten Versorgung übernimmt. Selbst- beteiligungen sind für alle Teilberei- che von Medicare üblich. Es ist also keinesfalls so, dass man als Rentner im staatlichen Krankenversiche- rungsprogramm einen Vollversiche- rungsschutz genießt oder das System an Komplexität verliert. Auch die Rentner müssen häufig Berater in Anspruch nehmen, um ihre Rechte geltend zu machen und die persönli- chen Kosten einzudämmen.

Medicaid, das staatliche Versiche- rungsprogramm für bedürftige Mit- bürger, ist weitgehend steuerfinan- ziert. Die Mittel stammen aus den Haushalten des Bundes und der Bun- desstaaten. Letztere genießen gewis- se Freiheiten bei der Ausgestaltung des Versorgungsangebots und bei der Festlegung der Kriterien, die zur Aufnahme ins Medicaid-Programm berechtigen. Somit gibt es zwischen den Bundesstaaten zum Teil deutli- che Unterschiede. Um ins Medicaid- Programm aufgenommen zu wer- den, reicht es häufig nicht, „nur“ arm zu sein, sondern es müssen zusätzli- che Kriterien erfüllt sein: zum Bei- spiel Vorliegen einer Schwanger- schaft, einer Blindheit oder einer körperlichen Behinderung, im Haus- halt lebende Kinder. Auch Krankhei- ten, die innerhalb eines Jahres zum Tod oder für mehr als ein Jahr zur Arbeitsunfähigkeit führen, berechti- gen bei gleichzeitiger Armut zur Aufnahme ins Medicaid-Programm.

Die Vergütungspauschalen im Medicaid-Programm sind verglichen mit dem privaten Versicherungs- markt (100 Prozent), aber auch ver- glichen mit Medicare (90 Prozent) sehr niedrig (60 Prozent), während der administrative Aufwand für die Leistungserbringer sehr hoch ist.

Dies hält viele Leistungserbringer davon ab, Medicaid-Patienten zu be- handeln.

Jedem US-Bürger steht es frei, keine Krankenversicherung abzu- schließen und alle krankheitsbeding- ten Kosten aus der eigenen Tasche zu bezahlen. Da sich viele Bürger eine Versicherung nicht leisten können, ihre Arbeitgeber kaum noch Anteile der Versicherungsprämie zahlen, sie Medizin auf

höchstem techni- schem Niveau bietet das Ronald Reagan Medical Center.

Fotos: ap

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A 1960 Deutsches Ärzteblatt

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2. Oktober 2009 arbeitslos sind und sich aus diesem

Grund schon in einer schwierigen wirtschaftlichen Lage befinden, ge- hen zunehmend vor allem auch jun- ge Menschen das Risiko ein, ohne Krankenversicherung ihr Leben zu bestreiten. Aber auch Menschen, die sich eine Versicherung leisten könn- ten, entscheiden sich häufig dage- gen. Sie sehen für sich nur ein gerin- ges gesundheitliches Risiko und wollen in jungen Jahren Geld sparen.

Diesen Menschen steht dann ledig- lich die Notfallversorgung in einem

„Emergency Room“ kostenfrei zur Verfügung, die Kosten für elektive Eingriffe müssen sie selbst tragen.

So erklärt sich die betrübliche Tatsa- che, dass der Hauptgrund für private Insolvenzen in den USA unbezahlte medizinische Rechnungen sind.

Eine weiteres Problem stellen die ungebremsten Kostensteigerungen im US-Gesundheitswesen dar. Im Jahr 2007 lagen die Gesundheitsausgaben bei 2,2 Billionen US-Dollar. Dies entspricht rund 7 500 Dollar je Ein- wohner im Jahr oder bezogen auf das Bruttosozialprodukt 16,2 Pro- zent. 1980 lag dieser Anteil noch bei 9,1 Prozent. Im Vergleich dazu geben Deutschland und Frankreich nur rund zehn Prozent ihres Bruttosozialpro- dukts für Gesundheitsleitungen aus.

Die enorme Kostensteigerung in den USA führt unter anderem dazu, dass die Arbeitgeber finanzielle Be- lastungen an ihre Angestellten wei- tergeben. Die Ausgaben der Arbeit- nehmer für die Krankenversicherung haben sich seit 2001 mehr als ver-

doppelt. Im vergangenen Jahr in die Krise geratene Unternehmen wie General Motors (GM) weisen darauf hin, dass die Kosten für die Kran- kenversicherung mitverantwortlich sind für ihre aktuellen Schwierigkei- ten. So gibt GM inzwischen mehr Geld für die Krankenversicherung seiner Mitarbeiter aus als für Stahl.

Auch staatliche Stellen leiden un- ter einer zunehmenden finanziellen Belastung. Auf Bundesebene betru- gen die Ausgaben für Medicaid und Medicare im Jahr 2008 bereits 23

Prozent der Gesamtausgaben. Die Bundesstaaten benötigen 20 Prozent ihrer Gesamtausgaben für Medicaid.

In einem gewissen Kontrast zu diesen ernüchternden Zahlen steht ein Besuch im UCLA Ronald Rea- gan Medical Center. Es hat innerhalb des letzten Jahres einen Neubau auf höchstem medizinischem und tech- nischem Standard bezogen. Dort

sind sämtliche Patientenzimmer Ein- zelzimmer mit Bad und ausgestattet mit einer Liegemöglichkeit für An- gehörige sowie einem Laptop für die elektronische Patientenakte. Die Zimmer verfügen alle über sämtliche Anschlüsse, die es ermöglichen, das Bett innerhalb kürzester Zeit zu ei-

nem Intensivbett hochzurüsten. Auf den Intensivstationen beträgt der Pflegeschlüssel 1 : 1, auf den Nor- malstationen 1 : 4. Dieser hohe Per- sonalaufwand führt allerdings auch zu sehr hohen Personalkosten. So sind am UCLA Ronald Reagan Me- dical Center bei rund 500 Betten knapp 6 000 Angestellte beschäftigt.

Große Hoffnungen auf eine tief greifende Gesundheitsreform ruhen derzeit auf Präsident Barack Obama.

Seine Ziele formulierte er bereits im Wahlkampf:

Die Krankenversicherung soll bezahlbar und für alle erreichbar sein.

Die Kosten sollen durch Quali- tätsverbesserungen und eine Ände- rung der Finanzierung von Gesund- heitsleistungen gesenkt werden.

Die medizinischen Ergebnisse sollen verbessert und die ungleiche Verteilung von Leistungen beseitigt werden. Dazu gehören beispielswei- se die Stärkung der Infrastruktur im Bereich Public Health, eine bessere Prävention sowie die Abschaffung von Benachteiligungen aufgrund der Herkunft oder der Hautfarbe.

Erste Schritte zur Umsetzung der Gesundheitsreform wurden bereits im Februar dieses Jahres mit der Unterzeichnung des „Childrens’

Health Insurance Reauthorization Act“ und des „American Recovery and Reinvestment Act“ vollzogen.

Das Gesetz über die Krankenversi- cherung für Kinder ermöglicht bis zum Jahr 2013 rund 4,5 Millionen bisher nicht oder nur unzureichend versicherten Kindern eine Kranken- versicherung, während das US-Kon- junkturprogramm „American Reco- very and Reinvestment Act“ eine Gesamtinvestition von circa 112 Mil- liarden US-Dollar in das Gesund- heitswesen vorsieht. Davon fließen große Teile in das Medicaid-Pro- gramm, den Aufbau eines medizi- nischen Informationssystems, die Einführung einer elektronischen Gesundheitskarte sowie in die Prä- vention.

Allerdings gibt es auch erhebliche Widerstände gegen Obamas Re- formpläne. Da ist zum einen die Ver- sicherungsindustrie, die zwar Markt- reformen begrüßt, die ihnen mehr Kunden bringt, andererseits aber auch um die teilweise erheblichen Gewinne fürchtet. Die Pharma- und Medizinprodukteindustrie lehnt ins- besondere das geplante „Compara - tive Effectiveness Research“-Pro- gramm ab, da sie Entscheidungen gegen die eigenen Produkte befürch- ten. Auch die Republikaner im Kon- gress, die zwar ihre prinzipielle Zu- stimmung zu einer Gesundheitsre- form betonen, lehnen nahezu sämtli- che Pläne des Präsidenten ab. ■ Priv.-Doz. Dr. med. André Gottschalk,

Dr. med. Maike Höltje

Der Hauptgrund für private Insolvenzen in den USA sind unbezahlte medizinische Rechnungen.

Foto: dpa

Eine Krankenversicherung für alle ist das Ziel von US-Präsident Barack Obama.

Doch der Widerstand im Land ist groß.

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