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Teilhabe ernst nehmen!

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Teilhabe

ernst nehmen!

Konturen einer Politik der öffentlichen Räume und Netze

PETER SILLER

böll.brief

ÖFFENTLICHE RÄUME #1

2019

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Inhaltsverzeichnis

Zusammenfassung 3

Einleitung: Zur Orientierung 4

1 Stärkung und Erneuerung: Warum öffentliche Infrastrukturen? 8 1.1 Die infrastrukturelle Bedingung öffentlicher Güter 8

1.2 Infrastrukturen als Räume und Netze 11

1.3 Die «Öffentlichkeit» von Räumen und Netzen 18

1.4 Inklusive Qualität! Die «Big Four» guter Infrastrukturen 27 2 Investitionen und Handlungsfelder:

Welchen Einsatz brauchen öffentliche Infrastrukturen? 32 2.1 Einsatz an der richtigen Stelle: Ein tragfähiger Investitionsbegriff

und seine routinierten Verkürzungen 35

2.2 Infrastrukturen einer zukunftsgewappneten und inklusiven Produktivität 42 2.3 Ausgabenklarheit, Einnahmensolidarität und Priorisierung 46 2.4 Öffentliche Räume und Netze, auf die es ankommt 48 3 Zumutung und Zuversicht: Wie kann der Strategiewechsel gelingen? 61 3.1 Die Zumutung des Öffentlichen: Integration durch Auseinandersetzung 62

3.2 Blockaden: Die Widerstände 63

3.3 Zuwächse: Die Teilhabegewinne 67

3.4 Woher? Wohin? Eine neue Erzählung unserer öffentlichen Räume & Netze 70 Literatur 73 Das böll.brief – Öffentliche Räume bietet Analysen, Hintergründe und Impulse zur Stärkung und Erneuerung öffentlicher Räume als Schlüssel für das demokratische und soziale Zusammenleben. Neben Vorschlägen zu einer allgemeinen Strategie der öffentlichen Räume liegen die Schwerpunkte auf öffentlichen Bildungsräumen, Medienräumen, ästhetischen Räumen sowie Räumen in Stadt und Land.

Das böll.brief der Abteilung Politische Bildung Inland der Heinrich-Böll-Stiftung erscheint als E-Paper im Wechsel zu den Themen «Teilhabegesellschaft»,

«Grüne Ordnungspolitik», «Demokratie & Gesellschaft» und «Öffentliche Räume».

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Zusammenfassung

Das vorliegende Papier befasst sich mit der Stärkung und Erneuerung der öffentlichen Räume und Netze als Schlüssel für gesellschaftliche Teilhabe und gelebte Selbstbe- stimmung. Intakte öffentliche Räume werden zudem als entscheidend für einen demo- kratischen Austausch vorgestellt, der durch die soziale Segregation und die digital befeuerte Fragmentierung in unverbundene Milieublasen zunehmend erschwert wird.

In einer Politik der öffentlichen Räume und Netze entfaltet sich eine politische Erzählung der Zukunft, die demokratische und soziale, ökologische und ökonomische Handlungsbedarfe an einem entscheidenden Punkt zusammenbringt.

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Einleitung: Zur Orientierung

In der Gestaltung unserer öffentlichen Infrastrukturen, namentlich: unserer öffentlichen Räume und Netze, liegt ein Schlüssel für die Zukunft unseres gesellschaftlichen Zu- sammenlebens. Selbstbestimmt, solidarisch, demokratisch, ökologisch wie auch öko- no-misch. Es ist an der Zeit, den Schlüssel in die Hand zu nehmen. An vielen Türen, an vielen Orten. Warum das bislang nur so verzagt passiert? Politik und Gesellschaft müssen die Bedeutung ihrer öffentlichen Infrastrukturen nochmals neu entdecken. Gefragt ist im Anschluss eine konkrete politische Agenda – und eine politische Erzählung als gemein- samer gesellschaftlicher Bezugspunkt.

Die Zukunft der sozialen Integration wie der demokratischen Stabilität unserer Gesellschaft entscheidet sich im Zustand ihrer öffentlichen Räume und Netze. Die Stärkung und Er- neuerung der öffentlichen Infrastrukturen ist der Schlüssel, um für alle Bürgerinnen und Bürger zu einem Maß an gesellschaftlicher Teilhabe und gelebter Selbstbestimmung zu kommen, auf das auch die demokratische Stabilität gründet. Intakte öffentliche Räume sind der Schlüssel für einen demokratischen Austausch, der durch die soziale Fragmen- tierung wie auch die digital befeuerte Fragmentierung in unverbundene Milieublasen unmöglich wird. In der Gestaltung unserer öffentlichen Netze – vorneweg der Mobilitäts- und Energienetze – liegt ein entscheidender Faktor für das Gelingen der ökologischen Wende. Eine zukunftstaugliche Ökonomie beruht ebenfalls auf infrastrukturellen

Voraussetzungen, die sie selbst nicht garantieren kann. Kurzum: In einer Politik der öffentli- chen Räume und Netze entfaltet sich – gerade aus grüner Perspektive – ein ganzes Pro- gramm, das die demokratischen und sozialen, ökologischen und ökonomischen

Handlungsbedarfe an einem entscheidenden Punkt zusammenbringt.

In den öffentlichen Infrastrukturen liegt der Stoff für eine entscheidende politische Erzäh- lung in die Zukunft. Hier konkretisiert sich eine Grundorientierung der allgemeinen

Teilhabe, der gleichen Freiheit wie auch der gleichen politischen Freiheit in konkreten politi- schen Projekten, die überhaupt wieder Aussicht auf eine gesellschaftliche Verhandlung haben. Hier finden sich eine Reihe von politischen Projekten, die zur gesellschaftlichen Orien- tierung im Angesicht einer tiefgreifenden Transformation in der Lage sind. Eine gesell- schaftliche Erzählung der Bildungsteilhabe und der gestärkten Demokratie durch öffentli- ches Zusammen-Leben. Eine gesellschaftliche Erzählung grüner Mobilitäts-, Energie-, und Digitalnetze, die klimaverträglich Anschlüsse für alle herstellen und nachhaltige Produk- tivität sichern. In den Ballungszentren – und in den Peripherien. In diesen Bereichen liegt ein entscheidender Stoff für eine politische Erzählung, die die gesellschaftlichen Möglich- keiten der Gegenwart für die Zukunft ergreift. Und hier liegt die Notwendigkeit ganz konkreter Etappen auf unterschiedlichen Feldern, um zu einer effektiven Eröffnung von allgemeiner Teilhabe und allgemeiner Begegnung zu kommen.

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Die aktuellen Auseinandersetzungen um die öffentlichen Räume und Netze, vom Wohnen in Stadt und Land bis zu den Mobilitäts- und Energienetzen, von der Gestaltung der digitalen Räume bis zu den neuen «Klassenkämpfen» an den Schulen zeigen, dass diese gesell- schaftliche Verhandlung längst eingefordert wird. Dies zeigt sich auch an der wieder auf- geflammten Debatte über die Rolle sozialer Herkunft und sozialer Lagen – verstärkt nicht nur durch wissenschaftliche Impulse, sondern auch durch eine Vielzahl künstlerischer Annäherungen (Despentes 2017–2018, Dröscher 2018, Ernaux 2019, Eribon 2016, Louis 2016, Rietzschel 2018, Vance 2018 u.v.m.). Dabei steht eine Beschreibung auf der Höhe der Zeit immer vor der Herausforderung, zum einen die Mechanismen der sozialen Exklusion ins Zentrum zu stellen, zum anderen kulturelle und ethnische Stigmatisierung als wichtigen Teil dieser Mechanismen des sozialen Ausschlusses in einer nicht-identitären Form mitzudenken. All das zeigt die Größe der Aufgabe, die politisch vor uns liegt. Aber es zeigt auch ihre Lösbarkeit. Denn Anpacken lassen sich Dinge dann, wenn sie auf dem Tisch liegen.

Es wird höchste Zeit, den politischen Streit für mehr gesellschaftliche Teilhabe ebenso wie für die Qualität dieser Teilhabe mit einer anderen «Philosophie», einer anderen Strate- gie und anderen Schlüsselprojekten zu versehen, als wir sie in den letzten Jahrzehnten vorgeführt bekommen haben. Quer durch die bundespolitischen Akteure erleben wir eine ritualisierte Engführung auf das bloße Bruttoinlandsprodukt, aber auch auf Steuersätze und Sozialtransferleistungen, die zu der entscheidenden Frage gar nicht mehr vordringt, wie sich gesellschaftliche Teilhabe überhaupt herstellt: nämlich wesentlich durch qualitativ hochwertige und inklusive Infrastrukturen im Sinne öffentlicher Räume und Netze. Die steuerpolitische Frage auf der Einnahmeseite ist dadurch alles andere als obsolet, aber sie ist nicht Selbstzweck, sondern hat auf der Ausgabenseite einen triftigen und transpa- renten Grund. Auch die Frage der Sozialtransfers wird dadurch nicht falsch, auch in diesem Bereich besteht immer wieder Änderungs- und Anpassungsbedarf. Doch der strategische wie der kommunikative Fokus verschiebt sich entlang dieses Ansatzes deutlich.

Diejenige politische Kraft, die sich eine solche Strategie der Teilhabe durch öffentliche Infrastrukturen aneignet, sichtbar und konkret, kann nicht nur einen «radikalen» – nämlich wirksamen – Ansatz vorweisen, sie hat auch ein echtes Alleinstellungsmerkmal in einem Diskurs über gesellschaftliche Teilhabe vorzuweisen, der nach wie vor zu oft im Symbolischen bleibt.

Die gesellschaftliche Bedeutung öffentlicher Infrastrukturen entspricht der lebenswelt- lichen Erfahrung vieler Menschen, denn hier liegen die Zugänge und Ausschlüsse, hier entscheidet sich die Qualität der Güter des Lebens. Eine politische Strategie beruht gleich- zeitig auf Annahmen normativer und empirischer, grundsätzlicher und operativer Art.

Fangen wir also nochmals von vorne an und gehen die wichtigsten Elemente einer solchen Strategie durch.

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Auf der Suche nach einer effektiven Strategie der Stärkung tatsächlicher Teilhabe, also eines realen Zugewinns an allgemeinen Selbstbestimmungsmöglichkeiten, führt der Weg rasch von der bloßen Definition «öffentlicher Güter» (im Sinne grundlegender Güter eines selbstbestimmten Lebens) zu der Frage nach deren Produktions- und Verteilungs- bedingungen (1.1 ). Das setzt nicht nur voraus, den Begriff der «Infrastruktur» genauer zu bestimmen, sondern auch die Begriffe der «öffentlichen Räume» und der «öffentlichen Netze» (1.2 ). Ebenso notwendig ist eine neue Befassung mit dem Begriff «Öffentlichkeit», der gleich drei entscheidende Dimensionen für das Gelingen der vorgeschlagenen Strate- gie aufruft: Zugänglichkeit, Begegnung und Gewährleistung (1.3 ). Auf der Grundlage dieser Überlegungen lässt sich klarer sagen, was die vier entscheidenden Kriterien für das Ge- lingen öffentlicher Infrastrukturen sind: die Qualität der jeweiligen öffentlichen Güter, Zu- gänglichkeit, Begegnung sowie eine Organisation, die Mitgestaltung ermöglicht, nach innen effektiv ist sowie nach außen gut vernetzt (1.4 ). Inklusive Qualität! Es ist die Ver- bindung von Qualität und Inklusivität, auf die es bei der Gestaltung öffentlicher Räume und Netze entscheidend ankommt. Jeder Ansatz alleine ist zum Scheitern verurteilt.

Die hier vorgeschlagene Strategie öffentlicher Teilhabe braucht Erneuerung und finanzielle Stärkung. Sie lässt sich nicht auf eine Strategie der monetären Stärkung öffentlicher Infrastrukturen reduzieren, aber auch nicht auf eine Erneuerung ohne finanzielle Stärkung.

Hinsichtlich der Ausgabenfinanzierung und -priorisierung ist es notwendig, sich noch- mals mit dem Begriff der öffentlichen Investitionen zu befassen, der mit Blick auf den Teil- habezweck nicht nur zu unscharf gebraucht wird, sondern sowohl in einer Hinsicht zu verkürzt als auch in anderer Hinsicht zu dominant (2.1 ). Spätestens an dieser Stelle gilt es, sich mit der Frage der ökonomischen Wertschöpfung zu befassen. Eine Strategie öffent- licher Teilhabe ohne das Gelingen der ökonomischen Transformation, ohne eine kompetente Politik der Ordnung und Anreizsetzung im Angesicht von Machtkonzentration, Digitalisie- rung und Klimazerstörung kann nicht gelingen (2.2 ). Auf dieser Grundlage lässt sich dann genauer beschreiben, wie die finanzpolitischen Konturen der vorgeschlagenen Strategie auf Einnahmen- und Ausgabenseite aussehen könnten (2.3 ). Im Folgenden wird anhand von sieben zentralen Feldern exemplarisch gezeigt, worin die zentrale Bedeutung öffentli- cher Räume und Netze für eine glaubhafte Strategie der gesellschaftlichen Teilhabe liegt.

Mit Bildungsräumen, Räumen in Stadt und Land, Medienräumen sowie ästhetischen Räumen werden vier zentrale öffentliche Räume aufgerufen. Mit den Mobilitäts-, Energie- und Digitalinfrastrukturen kommen drei entscheidende öffentliche Netze zur Sprache.

Gerade in der praktischen Anschauung zeigt sich, wie eng beide Sphären strukturell miteinander verbunden sind. Zugleich wird deutlich, dass eine Strategie der öffentlichen Räume und Netze nicht auf den bundesrepublikanischen Raum beschränkt bleiben kann.

Gefragt ist eine Strategie, die von vornherein insbesondere den europäischen Raum in Blick nimmt (2.4 ).

Eine Strategie der öffentlichen Räume und Netze bietet große gesellschaftliche Möglich- keiten, demokratisch und sozial, ökologisch und ökonomisch. Sie muss sich aber auch mit der Zumutung befassen, die in ihr liegt, um die richtigen Ansätze zu finden (3.1 ).

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Dahinter stehen unterschiedliche Blockaden, die es zu verstehen gilt (3.2 ). Umso mehr kommt es auf der Grundlage dieser Analyse darauf an, die Teilhabegewinne deutlich zu machen, die mit der Stärkung und Erneuerung der öffentlichen Infrastrukturen ver- bunden sind (3.3 ). Erst eine bewusste Betrachtung der Blockaden und Gewinne er- möglicht es, eine Strategie zu beschreiben, die schrittweise Vertrauen in den einzuschla- genden Weg schafft. Am Ende ist nicht weniger gefragt als eine neue politische

Erzählung der gesellschaftlichen Teilhabe, des gesellschaftlichen Zusammenlebens in Räumen und Netzen, durch die sich ein Leben in Freiheit überhaupt erst eröffnet.

Gefragt ist nicht weniger als die Rückgewinnung einer gesellschaftlichen Fortschritts- erzählung auf der Höhe der Zeit. Eine Erzählung, die von der begründeten Hoffnung und der tatsächlichen Erfahrung getragen ist, dass wir es als Gesellschaft besser machen können (3.4 ).

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1 Stärkung und Erneuerung:

Warum öffentliche Infrastrukturen?

Auf der Suche nach einer wirksamen und glaubhaften Strategie der Stärkung der allge- meinen gesellschaftlichen Teilhabe führt der Weg rasch von der bloßen Definition

«öffentlicher Güter» (im Sinne grundlegender Güter eines selbstbestimmten Lebens) zur Frage nach deren Produktions- und Verteilungsbedingungen. Hier liegt die eigentliche strategische Herausforderung: Wie kommen wir eigentlich zu einer Herstellung und Zu- gänglichmachung öffentlicher Güter, die tatsächlich alle in den Blick nimmt, für eine ausreichende Güterqualität sorgt und allgemeinen Zugang verschafft? An dieser Stelle gehört unsere Aufmerksamkeit fast automatisch den Infrastrukturen, durch die sich die Qualität und der Zugang zu öffentlichen Gütern entscheiden.

Doch was ist eigentlich eine öffentliche Infrastruktur? Und wie kommen wir innerhalb der öffentlichen Infrastrukturen auf die wichtige Unterscheidung zwischen «öffentlichen Räumen» und «öffentlichen Netzen» – zwei zentralen Kategorien, an denen man sich viel klarmachen kann und die zur strategischen Orientierung beitragen.

Weiterhin: Was genau ist das «Öffentliche» am «öffentlichen Raum», am «öffentlichen Netz»? Mit dieser Frage bewegen wir uns «ins Innere» der Frage nach einer Strategie der gesellschaftlichen Teilhabe, denn es öffnen sich über den Begriff der Öffentlichkeit gleich drei entscheidende Dimensionen für das Gelingen einer Teilhabestrategie: Zugänglichkeit, Begegnung und Gewährleistung. Auf der Grundlage dieser Überlegungen lässt sich klarer sagen, was die vier entscheidenden Kriterien für das Gelingen öffentlicher Räume und Netze sind: Qualität, Zugänglichkeit, Begegnung sowie eine Organisation, die Mit- gestaltung ermöglicht, nach innen effektiv und effizient ist und nach außen gut vernetzt.

Eine exemplarische Betrachtung von sieben zentralen Feldern zeigt, worin die unge- heure Bedeutung öffentlicher Räume und Netze für eine glaubhafte Strategie der gesell- schaftlichen Teilhabe liegt: Bildungsräume, mediale Räume, Räume in Stadt und Land, ästhetische Räume sowie die Mobilitäts-, Energie- und Digitalnetze.

1.1 Die infrastrukturelle Bedingung öffentlicher Güter

Für die Herausbildung einer Strategie der gleichberechtigten Teilhabe an den entschei- denden Gütern eines selbstbestimmten Lebens liegt der springende Punkt weniger in dem Hinweis auf die Bedeutung öffentlicher Güter. Dazu ist viel Richtiges gesagt und ge- schrieben worden – weitgehend politisch folgenlos. Vielmehr sollte sich die politische wie auch intellektuelle Aufmerksamkeit darauf richten, unter welchen Produktions- und Zugangsbedingungen eigentlich öffentliche Güter tatsächlich in einer entsprechenden Quali- tät entstehen bzw. verhindert werden. Gefragt ist nicht weniger als eine neue Zündstufe,

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in der aus der abstrakten Beschwörung öffentlicher Güter eine konkrete Strategie folgt, die durch die Stärkung und Erneuerung der öffentlichen Infrastrukturen, der öffentlichen Räume und Netze, einen tatsächlichen Fortschritt der allgemeinen Teilhabe bewirkt.

Welche Formen der Herstellung und der Zugänglichmachung müssen wir forcieren, um das Versprechen öffentlicher Güter auch tatsächlich einzulösen? Grundsätzlich lassen sich – in der Theorie wie in der konkreten Politik – zwei «Philosophien», zwei grundlegende Ansätze der Herstellung und Zugänglichmachung unterscheiden: eine individualistische und eine kooperative.

Individualistischer Ansatz: Individualistische Perspektiven fokussieren die Frage der Teil- habe auf die Suche nach den monetären Spielräumen von Individuen, die sich dann mit ihrem Geld schon von allein Grundfähigkeiten und Grundgüter organisieren. Tägliche Praxis dieser Fokussierung ist die Fokussierung der Gerechtigkeitsforderung auf die Höhe und Länge von individuellen Sozialtransfers (Grundsicherung, Arbeitslosengeld, Rente).

Sie ist weit verbreitet und durchaus populär, da sie zum einen das konservative Vertrauen in das bedient, was man «im eigenen Geldbeutel hat», und zum anderen auf klar definierte Interessengruppen zielt, die mit starken Wähler/innengruppen korrelieren. Seine symbo- lische Zuspitzung findet der individualistische Ansatz im Ruf nach einem bedingungslosen Grundeinkommen für alle, der sich mit dem starken Glauben verbindet, dass sich im Zuge dessen dann auch die anderen Teilhabeprobleme lösen werden. Zugrunde liegt dem wiederum in aller Regel die anthropologische Annahme, der Mensch sei «von Natur aus»

gut, solidarisch und kooperativ – was bei genauerer Betrachtung keinem sinnvollen Frei- heitsverständnis standhält, da es ja gerade um die Möglichkeit geht, sich so oder so zu entscheiden.

Kooperativer Ansatz: Kooperative Perspektiven verweisen hingegen darauf, dass die allgemeine Herstellung und Zugänglichmachung öffentlicher Güter in vielen Fällen von vornherein auf eine öffentlich-gesellschaftliche Koproduktion angewiesen ist, deren Bedingungen daher auch in gemeinsamer öffentlicher Verantwortung liegen. Die öffent- lichen Infrastrukturen, die öffentlichen Räume und Netze müssen dabei nicht notwen- digerweise in staatlicher Hand liegen, sondern können entlang definierter Kriterien etwa auch an gemeinnützige private Hände übertragen werden oder in bestimmten Fällen ganz auf das marktförmige Geschehen privater Akteure. In jedem Fall obliegt aber die Gewährleistung dieser öffentlichen Infrastrukturen der Demokratie und damit neben der Legislative auch den staatlichen Institutionen in ihrer Durchführung und Aufsicht. Der demokratische Staat ist aus Perspektive einer Politik der allgemeinen Teilhabe «unser Staat», weil die Demokratie «unsere Demokratie» ist, in der wir auf verschiedenen Ebenen Entscheidungen nicht nur treffen, sondern auch umsetzen.

Nach dem kooperativen Grundansatz liegt der entscheidende strategische Punkt darin, dass die allgemeine Zugänglichmachung öffentlicher Güter einen politischen Fokus erfordert, der an den öffentlichen Infrastrukturen ansetzt. Hier entscheiden sich in vielfacher Hinsicht die grundlegenden Bedingungen von Selbstbestimmung und gesellschaftlicher Teilhabe –

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angefangen bei den öffentlichen Grundanforderungen der Zugänglichkeit und Qualität über ihre Trägerschaft und Aufsicht bis hin zu ihrer öffentlichen Finanzierung. Gute und in- klusive öffentliche Infrastrukturen sind in modernen Gesellschaften die Voraussetzung für allgemeine Selbstbestimmung.

Die Vorstellung, dass sich die allgemeine Zugänglichkeit öffentlicher Güter in guter Qualität alleine durch den individualistischen monetären Einsatz der Bürger/innen als Marktteilnehmer/innen herstellt, ist nicht haltbar. Reale Freiheit stellt sich in vielen Fällen durch allgemeine, gesellschaftliche und politische Kooperation her – und geht ihr nicht voraus. Die gesellschaftliche Praxis zeigt, dass eine Politik des monetären Indivi- dualismus dazu führt, dass gerade diejenigen, die am dringendsten auf bestimmte öffent- liche Güter angewiesen sind, am wenigsten für sich allein in Teilhabe-Infrastrukturen investieren können – während die besser ausgestatteten, selbstbewussten und gut vernetzten Bürger/innen im Zweifel ihren Vorsprung an guten Infrastrukturen noch weiter ausbauen.

Der kooperative Kerngedanke öffentlicher Infrastrukturen umfasst dabei durchaus auch einen Gedanken von Wettbewerb als Anreiz Dinge besser zu machen, voneinander zu lernen und die richtigen Anreize zu setzen. Der Wettbewerbsgedanke ist deshalb auch innerhalb öffentlicher Räume und Netze nicht erledigt, begründet sich aber aus dem Gedanken der Ko- operation.

Mit dem Ansatz der kooperativen Ermöglichung von Selbstbestimmung verbindet sich zudem auch die Erwartung, dass sich die allgemeinen Voraussetzungen verbessern, über selbstbewusste Arbeitsmarktteilnehmer/innen zu einer gerechteren Primärverteilung von Einkommen und Vermögen zu kommen, die dann durchaus individualistisch für weitere auch öffentliche Kooperationen eingesetzt werden können. Der kooperative Ansatz be- ruht also nicht auf einem Entweder-oder, sondern auf einer klaren Fokussierung und Prio- risierung öffentlicher Infrastrukturen mit dem Ziel, allgemeine Teilhabe wirksam zu ge- währleisten.

Verlust und Wiederentdeckung kooperativer Teilhabe-Infrastrukturen: Die Einsicht, dass individuelle Freiheit mit Blick auf ihre Konstitutions- und Verwirklichungsmöglichkeiten auf kooperativen Voraussetzungen beruht, findet einen wichtigen Anknüpfungspunkt in der Geschichte, den auch die Linke der letzten Jahrzehnte vergessen zu haben scheint: Es war die Arbeiterbewegung, die in ihren Ursprüngen über Vereine und Genossenschaften an jener Herausbildung von Institutionen und Infrastrukturen arbeitete, in denen Befähigung, Ermöglichung und Ermächtigung stattfand: von den Bildungsvereinen, Sport-, Wander- und Gesangsvereinen, Arbeiterwohlfahrt und Arbeiter-Samariter-Bund bis zu Wohnungs- oder Nahrungsmittelgenossenschaften. Was hier zunächst als Selbstorganisation mangels staatlicher Gewährleistung in Angriff genommen wurde, bildete im Folgenden den Er- fahrungsschatz für eine staatliche oder staatlich finanzierte und beaufsichtigte sukzessive Herausbildung öffentlicher Infrastrukturen. (Auch heute sollten wir bürgerschaftlich organisierte Ansätze, etwa mit Blick auf eine integrative Einwanderungsgesellschaft, als

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Anstoß und Erfahrungsschatz für die Entwicklung veränderter oder neuer staatlich ge- währleisteter Institutionen und Infrastrukturen im nächsten Schritt begreifen).

Die erste Phase der Herausbildung von Institutionen und Infrastrukturen der Teilhabe war entsprechend noch selbstorganisiert und schon allein deshalb auf das eigene Milieu be- schränkt – verbunden mit der Entwicklung von Selbstbewusstsein und Stolz auf die eigene soziale Herkunft. In einer zweiten Phase wurde die Institutionenbildung sodann selbst- bewusst mit einer Idee von Öffentlichkeit verbunden – und damit auch von Aufstieg und vom Durchbrechen der Milieu-, Schichten- und Klassenschranken. Infrastrukturen der Teil- habe wurden jetzt als «öffentlich» gedacht, also als Räume und Netze, die allen offenstehen, unabhängig von der sozialen Herkunft. Vom öffentlichen Bildungswesen bis zu öffent- lichen Mobilitätsinfrastrukturen, von einem öffentlichen Gesundheitswesen bis zu öffentli- chen Kultureinrichtungen. Hinzu kam die Entwicklung eines Sozialversicherungs- und Grundsicherungssystems, das die finanziellen Risiken in den verschiedenen Lebensphasen abfederte und so für eine gewisse monetäre Sicherheit als Voraussetzung eines Lebens in Freiheit sorgte.

Die Tatsache, dass sich die politische Fantasie in Gerechtigkeitsfragen nur noch auf den Punkt einer monetären Mindestsicherung reduziert, zeigt die ganze Misere eines politi- schen Gerechtigkeitsdiskurses, der die wirksamen Mittel und Wege für mehr gesellschaft- liche Teilhabe aus den Augen verloren hat.

1.2 Infrastrukturen als Räume und Netze

Wenn also im Folgenden die Begriffe der öffentlichen Infrastrukturen und der öffentlichen Institutionen als Zentralbegriffe teilhabeorientierter Produktions- und Verteilungs-

bedingungen öffentlicher Güter eingesetzt werden, ist es zunächst notwendig, die Begriffe

«Infrastruktur» und «Institution» näher zu betrachten. Beide werden nicht nur politisch, sondern auch je nach Fachdisziplin sehr unterschiedlich gebraucht – philosophisch, soziolo- gisch, rechts- oder wirtschaftswissenschaftlich – und auch innerhalb dieser Disziplinen finden die Begriffe sehr unterschiedliche Verwendung. Was aber ist die politisch-strategisch geeignete Begrifflichkeit, um den kooperativen Orten und Strukturen einen Namen zu geben, an denen die entscheidenden öffentlichen Güter hergestellt und zugänglich gemacht werden?

Es ist nach wie vor ein kommunikationsstrategisches Problem, dass alle in Betracht zu ziehenden Oberbegriffe einer solchen Strategie im politischen Alltagsgebrauch etwas sperrig und abstrakt klingen, vielleicht auch einfach noch zu ungewohnt sind und zu- dem aufgrund ihrer Bedeutungsbreite erklärungsbedürftig. Deshalb werden im weiteren Verlauf die Unterfälle der «öffentlichen Räume» und der «öffentlichen Netze» eine entscheidende begriffsstrategische Rolle spielen. Und deshalb ist es zur Verdeutlichung

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der Strategie wichtig, die konkreten Gestalten der Infrastrukturen bzw. Institutionen zu benennen und zu beschreiben: von der Schule bis zum Verkehrsnetz.

Gleichzeitig kommt eine politische Strategie in dem vorgeschlagenen Sinn aber nicht umhin, Oberbegriffe zu etablieren, die deutlich machen, was all diese Orte und Strukturen verbindet, was die strategische Klammer bildet. «Infrastructure Matters! Institution Matters!» – im Singular, um die gemeinsame Idee zu betonen. «Infrastructures Matter!

Institutions Matter!» – im Plural, um die vielfältigen Konkretionen der Idee zu betonen.

Der Begriff der «Infrastruktur»: Im Begriff «Infrastruktur» ist der Gedanke der Bedin- gung bzw. der Voraussetzung (hier: von Teilhabe) bereits enthalten (lateinisch infra : unter- halb), ebenso der Gedanke der Vernetzung bzw. Verbindung (hier: als Zugänglichmachung) (lateinisch structura : Zusammenfügung). Als Unterbau in diesem Sinn beschreibt

«Infrastruktur» nach allgemeiner Auffassung alle langlebigen Einrichtungen materieller oder institutioneller Art, die das Funktionieren einer Gesellschaft begünstigen. Das wird in den Wirtschaftswissenschaften oft enggeführt auf das «Funktionieren einer arbeitsteiligen Volkswirtschaft», aber in einem weiteren Sinn umfasst der Begriff auch all diejenigen Einrichtungen, die etwa den Zielen eines demokratischen Gemeinwesens dienen. Unterschie- den wird weiterhin zwischen staatlichen und privaten Infrastrukturen und Mischformen aus beiden.

Vor diesem Hintergrund ist der Begriff der Infrastruktur gut geeignet, um ihn für die kooperativen Voraussetzungen allgemeiner Teilhabe einzusetzen. Gleichzeitig liegt in ihm sowohl semantisch als auch im allgemeinen Gebrauch eine Betonung des Vernetzungs- aspekts, weniger der kooperativen Orte. Der Begriff «Infrastruktur» wurde im militärischen Bereich schon früh für die im Boden befindlichen Leitungen, wie Pipelines, Rohrleitungen und Kabel, verwendet. Inzwischen hat sich sein Gebrauch deutlich verändert: einerseits auf allgemeine Transport- und Versorgungsnetze (Energienetze, Kommunikationsnetze, Netze der stofflichen Ver- und Entsorgung, Mobilitätsnetze), andererseits auf allgemeine Zugangsräume (Bildungseinrichtungen, Betreuungseinrichtungen, Medien, Gesund- heitseinrichtungen, kulturelle Einrichtungen, Einrichtungen für Sport und Freizeit, Ein- richtungen der öffentlichen Sicherheit etc.).

Soweit im Bereich technischer Infrastrukturen der Akzent bei den Leitungen liegt, sind damit immer auch die Orte zwischen den Leitungen gemeint, an denen Energie, Infor- mation etc. überhaupt erst produziert wird. Umgekehrt ist im Bereich sozialer Infrastruk- turen, bei denen eher die Orte aufgerufen werden, auch klar, dass es hier ebenfalls um die Vernetzung dieser Orte geht, um das Zusammenspiel etwa unterschiedlicher Einrich- tungen. Entsprechend dieser Vielfalt an Netzen und Orten handelt es sich beim Infra- strukturrecht um ein Querschnittsrecht, das in zahlreichen Gesetzen und Verordnungen geregelt ist.

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Der Begriff der «Institution»: Der Begriff «Institution» (lateinisch institutio : Einrichtung) ist hingegen noch weiter angelegt und entsprechend noch uneinheitlicher im Gebrauch.

In einem weiten Sinne wird darunter ein Regelsystem verstanden, das soziales Verhalten und Handeln so formt, dass es im Ergebnis für andere Interaktionsteilnehmende erwart- bar wird. In einem engen Sinne werden unter Institutionen die festen gesellschaftlichen Einrichtungen wie etwa demokratische Institutionen der Legislative, Exekutive und Judi- kative oder auch soziale Institutionen wie Schulen oder Krankenhäuser verstanden, also bestimmte räumliche Einrichtungen. Die Ideengeschichte des Institutionenbegriffs lässt sich an dieser Stelle nicht ausführlich darstellen. In jedem Fall lässt sich zwischen staat- lichen Institutionen, privaten und Mischformen unterscheiden, ebenso zwischen formal und informell geregelten Institutionen. Während der Begriff «Institution» die allgemeine Ordnung mit Blick auf eine bestimmte Funktion bezeichnet (z.B. Schule als Bildungs- institution), würde man eine bestimmte Erfüllungsgestalt dieser Institution eher als Ein- richtung (oder auch Organisation) bezeichnen (z.B. die konkrete Schule).

Infrastrukturen und Institutionen: In ihren gängigen Definitionen und Beschreibungen stehen die beiden Oberbegriffe der öffentlichen Infrastrukturen und der öffentlichen Insti- tutionen durchaus in einem großen Näheverhältnis. Der Oberbegriff «Institution» bietet die Möglichkeit, die demokratischen wie sozialen Räume öffentlicher Teilhabe stärker zu akzentuieren. Der Oberbegriff «Infrastruktur» bietet hingegen die Möglichkeit, die Netze öffentlicher Teilhabe stärker zu akzentuieren und zugleich dichter am politischen Sprachgebrauch zu sein, der sich eher an konkreten materiellen und personellen Struk- turen orientiert als an der jeweils allgemeinen Zwecksetzung. Insgesamt ist der Begriff der Infrastrukturen in der politischen Praxis für die hier verhandelten Fragen anschlussfähiger – und wird deshalb im Folgenden als Oberbegriff bevorzugt. Nicht nur systematisches Denken, sondern auch politische Strategie braucht allgemeine Begriffe – auch wenn eine kom- munikative Anforderung immer darin besteht, die unterschiedlichen Räume und Netze möglichst konkret und anschaulich zu benennen.

Infrastrukturen und strukturelle Politik: Eine Politik, die nicht an besondere Lebensstile und Lebensformen appelliert, sondern ihren gesellschaftlichen Auftrag in der Gestaltung der allgemeinen Regeln und Strukturen begreift, findet in der Infrastruktur einen Be- griff für ihren strukturellen Ansatz der Gestaltung öffentlicher Räume und Netze.

«Räume» und «Netze»: Eine grundlegende Differenzierung innerhalb des Begriffs der öffentlichen Infrastrukturen liegt nun in der Unterscheidung zwischen öffentlichen

«Räumen» und öffentlichen «Netzen»: Räume als geografisch (oder auch virtuell) ein- gegrenzte Orte, Netze als Verbindungen zwischen zwei Orten. Diese grundlegende Unterscheidung liegt nach den bisherigen Ausführungen nahe. Zugleich macht sie vieles konkreter und damit anschaulicher.

Zum einen werden öffentliche Güter in bestimmten Räumen zugänglich gemacht, produziert oder beides zugleich. Als Orte der Zugänglichmachung und Produktion sind sie in vielerlei

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Hinsicht darüber hinaus potentielle Orte der gesellschaftlichen Begegnung, sei es als Produktionsbedingung, sei es als wichtiges Nebenprodukt. Der Unterbegriff «öffentliche Räume» ist in der politischen Debatte bereits etabliert und positiv besetzt, wenn auch oft zu enggeführt auf die uneingeschränkte Zugänglichkeit von öffentlichen Plätzen oder Grünflächen in Auseinandersetzung mit privatisierungsgetriebenen Schließungen von Zugänglichkeit. Die Kategorie des öffentlichen Raums ist aber auch überall dort gefragt, wo Zugänge aufgrund einer bestimmten Funktion durchaus eingeschränkt sind, aber gleichwohl ein allgemeiner, also nicht sozial bzw. kulturell selektiver Zugang notwendig ist.

Auf eine Grundschule kommen nur Kinder – als öffentlichen Raum sollten wir sie dennoch begreifen, denn für diese Zielgruppe sollte sowohl das Gut «Bildung» allgemein zugänglich sein als auch der gemeinsame Bildungsraum. In einen Sportverein kommen nur diejenigen, die sich für einen bestimmten Sport interessieren – gleichwohl handelt es sich dabei um einen wichtigen öffentlichen Raum, soweit er einen allgemeinen, nicht selektiven Zugang bietet und, insbesondere bei Teamsportarten, soziale Begegnung ermöglicht. Im Zuge der Digitalisierung kommt es zudem darauf an, die digitalen Räume einzubeziehen und auf ihren «öffentlichen» Charakter zu befragen.

Öffentliche Güter brauchen zum anderen vielfache Netze, um öffentliche Güter zu trans- portieren und dadurch zugänglich zu machen. Auch der Unterbegriff der «öffentlichen Netze» ermöglicht nicht nur bereits ein höheres Maß an Anschaulichkeit. Er ist darüber hinaus in der politischen Auseinandersetzung auch bereits in Betrieb – sei es in der Auseinandersetzung um die Energieversorgung, den öffentlichen Nahverkehr oder die digitalen Anschlüsse. Nicht zuletzt können auch Sozialversicherungssysteme als öffentliche Netze begriffen werden, in denen die Koordination leistungsbezogener Ein- und Auszahlungen im Kontext sozialer Sicherung stattfindet.

Teilhabe, nicht nur Dasein: Die Frage, welcher Funktion öffentliche Infrastrukturen zu dienen haben, wurde in der Geschichte des institutionellen Denkens und Handelns ebenso unterschiedlich beantwortet wie zwischen und in den unterschiedlichen Fachdisziplinen.

Betont wurden bei der Funktionsbestimmung etwa die Sicherheits- und Entlastungs- aspekte für das individuelle Handeln (Gehlen 1986: 79), aber auch die Regelung elemen- tarer gesellschaftlicher Bereiche wie Bildung und Ausbildung, Energie und Mobilität, Warenproduktion und Verteilung oder auch die Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Ordnung als Ganze.

Eine weit verbreitete, inhaltlich fragwürdige und zudem historisch belastete Funktions- beschreibung aus den Verwaltungswissenschaften findet sich im Begriff «Daseins-

vorsorge», der die Aufgabe einer staatlichen «Vorsorge» aus der Schwäche des modernen Lebens begründet und sich auf die für das menschliche «Dasein» als notwendig erach- teten Güter und Leistungen bezieht (Forsthoff 1971: 75 f.). Genannt werden hier

klassischerweise die Energieversorgung, das Beförderungswesen, die Wasserversorgung, die Müll- und Abwasserbeseitigung, aber auch Institutionen der öffentlichen Sicherheit.

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In der Sache liegt «Daseinsvorsorge» nach diesem Verständnis ein paternalistischer Güter- begriff zu Grunde, der fernab der Idee eines selbstbestimmten Lebens platziert ist.

Die Bestimmung des Menschen ist aus dieser Perspektive das bloße «Dasein», in jedem Fall kein «Wiesein». Es ist deshalb äußerst treffend, in dieser Position einen «Infrastruktur- existenzialismus» (Kersten 2009: 24) zu sehen. Hinzu kommt die Beschreibung von öffent- lichen Infrastrukturen als die «Vorsorge» eines autoritären Staates. Auf der Strecke bleibt hier also sowohl ein Verständnis öffentlicher Infrastrukturen als Ergebnis demokra- tischer Auseinandersetzung wie auch ein Verständnis für das Zusammenspiel von demo- kratischer Staatlichkeit, bürgerschaftlichem Zusammenleben und auch produktivem Wett- bewerb.

Das alles schwingt in der Rezeption des Begriffs der «Daseinsvorsorge» – bewusst oder unbewusst – vielfach noch mit. Und selbst da, wo er ganz anders gemeint ist, sind mit den Zentralbegriffen des «Daseins» und der «Vorsorge» zwei semantische Spuren ausgelegt, die einer Politik der infrastrukturellen Teilhabe keinen Gefallen tun. Hinzu kommen seine hölzerne Aura wie die grundlegende semantische Schwäche, dass der unmittelbare Wortlaut nicht ansatzweise auf den entscheidenden Punkt der öffentlichen Netze, Räume und Institutionen führt. Umso fahrlässiger ist es, dass auch grüne Kommunikation nach wie vor in hohem Maße auf einem äußerst fragwürdigen Begriff aufbaut, der vielleicht als etablierter Fachterminus noch eine gewisse Notwendigkeit hat, mit dem sich aber weder konzeptionell noch kommunikativ ein Blumentopf gewinnen lässt.

Vor dem Hintergrund der Deutungsoffenheit des Begriffs der öffentlichen Infrastrukturen kommt es im Folgenden darauf an, die allgemeine Teilhabe an den öffentlichen Gütern eines selbstbestimmten Lebens als entscheidende Funktion deutlich zu machen. Es geht darum, die Ausrichtung öffentlicher Infrastrukturen an dieser Funktion zu messen.

Das erfordert vor allem eine intensivere Befassung mit dem öffentlichen Charakter von Infrastrukturen und anschließend mit der Qualität ihrer Güter, ihrer Zugänglichkeit, ihrer Begegnungsoffenheit sowie ihrer inneren und äußeren Organisation.

Das verbietet Interpretationen, die öffentliche Infrastrukturen und Institutionen auf die Sorge um das Dasein reduzieren, wie auch Verwendungen, nach denen Einrichtungen eher auf sozialen Ausschluss denn auf sozialen Einschluss angelegt sind. Und auch wenn öffentliche Infrastrukturen und Institutionen ohne Zweifel eine Sicherheitsfunktion in komplexen Gesellschaften haben, folgt ein sinnvoll verstandener Infrastrukturbegriff wie auch ein sinnvoll verstandener Institutionenbegriff doch einem anderen Zweck, nämlich der allgemeinen Freiheitsermöglichung, dem sich auch der Sicherheitsaspekt unter- zuordnen hat.

Produktion, Vorhaltung und Vertrieb: Liegt ein Unterschied zwischen öffentlichen Räumen und öffentlichen Netzen entsprechend darin, dass in den Räumen ein öffentliches Gut produziert bzw. vorgehalten wird, während es in den Netzen verteilt und damit zugänglich gemacht wird? Das wäre in beide Richtungen zu kurz gedacht. Zum einen finden in

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öffentlichen Räumen mitunter die Produktion bzw. Vorhaltung und die Distribution öffent- licher Güter zusammen. Zum anderen stellen sich bestimmte Güter erst durch ein Netz her.

Das Gut «Energie» wird durch Netze verteilt, nicht aber erzeugt. Auch das Gut «Informa- tion» wird durch Netze verteilt und nicht hergestellt. Das Gut «Kommunikation» entsteht aber erst durch die Netze selbst, da es sich hier um ein Gut handelt, dass sich intersubjektiv konstituiert. Ebenso wird zwar das Gut «An einem bestimmten Ort sein» nicht durch das Netz erzeugt, sondern nur durch den Transport (hier nicht des Guts, sondern des Subjekts) ermöglicht – das Gut «Mobilität» konstituiert sich jedoch ebenfalls im Netz selbst und nicht in einem vorgängigen Raum.

Netze und Räume im Konflikt: Dabei geraten die Strukturen öffentlicher Räume und öffentlicher Netze, die hier beide unter dem Dach des Infrastruktur-Begriffs firmieren, durchaus immer wieder in Konflikt. Begreift man öffentliche Räume in erster Linie als Orte einer gemeinsamen gesellschaftlichen Praxis und öffentliche Netze als Leitungen der gemeinsamen gesellschaftlichen Versorgung, so wissen wir natürlich auch um die Konkurrenzen dieser beiden Systeme. Wir wissen um die tiefen Eingriffe und auch die brach- iale technokratische Gewalt, mit der etwa die Schneisen von Verkehrs- oder Energie- netzen in die Praxis lokaler Lebensräume gehauen wurden (van Laak 2018; Richter 2018).

Viele Städte und Regionen tragen die Wunden und Narben – etwa eines automobilitäts- fixierten Beton-Modernismus – bis heute, und weitere kommen hinzu. Umgekehrt kennen wir auch die Widerstände aus dem lokalen Raum gegen allgemeine Infrastrukturen von höchster Bedeutung, etwa mit Blick auf die Trassenführung von Zugstrecken oder von Stromleitungen für Erneuerbare Energien. Am Ende kommt es in vernetzten Gesellschaf- ten darauf an, gemeinsam über die Infrastrukturen zu entscheiden, durch die die all- gemeinen Zugänge gesichert werden – auch entgegen den lokalen Einsprüchen. Gleich- zeitig kommt es aber für eine kontextsensible Demokratie der allgemeinen Entschei- dungen darauf an, genau zuzuhören, worin die konkreten Betroffenheiten bestehen, und dialogisch zu besprechen, worin Alternativen bestehen könnten.

Mehr als Beton und Metall! Gehäuse und Innenleben, Leitung und Inhalt: Eine weitere, entscheidende Differenzierung ist innerhalb der beiden Bereiche von Räumen und Netzen zu treffen. Weder handelt es sich bei öffentlichen Räumen nur um die materiellen Ge- häuse (wie Gebäude, Plätze etc.) noch bei öffentlichen Netzen nur um materielle Leitungen (wie Straßen, Kabel etc.). Für die Zugänglichkeit und Qualität öffentlicher Räume kommt es entscheidend auf das Zusammenspiel von äußeren Gegebenheiten und den «Leben» inner- halb dieses Gehäuses an. Entscheidend ist die Qualität der Interaktion und damit auch der Dienstleistungen, die in dem Gehäuse erfolgen – und deren Möglichkeiten gleichzeitig mit der äußeren Form in Zusammenhang stehen. Ebenso kommt es für die Zugänglich- keit und Qualität öffentlicher Netze ebenso auf das Zusammenspiel von Leitungen und trans- portiertem Inhalt an wie auch auf die Anleitung und Begleitung zum Umgang mit diesen Netzen. Auch hier lässt sich von der Dienstleistungsqualität des Netzes mit Blick auf die zur Verfügung gestellten Güter sprechen – und auch diese hängt unter anderem von den

materiellen Gegebenheiten der Leitung selbst ab. Auf diese wichtige Unterscheidung zwischen

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Gehäuse und Innenleben bzw. zwischen Leitung und Inhalt ist noch vertieft einzugehen, denn hier liegt der politische Schlüssel für ein angemessenes Verständnis des Mittel- einsatzes und der Investitionen in öffentliche Infrastrukturen.

Abbildung 1: Grundlegende materielle und qualitative Dimensionen öffentlicher Institutionen/Infrastrukturen

Quelle: Eigene Darstellung.

Öffentliche Infrastrukturen

Öffentliche Räume Öffentliche Netze

«Gehäuse»

(Materiell: Gebäude, Plätze etc.)

«Innenleben»

(Interaktionsqualität)

«Leitungen»

(Materiell: Straßen, Kabel etc.)

«Inhalt»

(Leitungsguts- und Begleitungsqualität)

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1.3 Die «Öffentlichkeit» von Räumen und Netzen

Eine politische Strategie der allgemeinen Teilhabe durch öffentliche Infrastrukturen macht es notwendig, sich bewusst und differenziert mit dem Anspruch der Öffentlichkeit

auseinanderzusetzen. «Öffentlichkeit» ist im politischen Alltagsgebrauch ein Allerwelts- wort, hat es aber bei genauerer Betrachtung in sich. Unter dem Gesichtspunkt der sozialen und demokratischen Einbeziehung, neudeutsch: Inklusion, kann die Pointe einer Minimal- definition des Öffentlichkeitsbegriffs nur darin liegen, dass Öffentlichkeit auf Räume und Netze abzielt, zu denen innerhalb des jeweiligen Funktionsbereichs alle jenseits sozialer bzw. kultureller Merkmale Zugang haben. Daraus ergeben sich mit Blick auf die Strate- gie der allgemeinen Teilhabe durch öffentliche Infrastrukturen drei Schnittstellen, an denen der Begriff des Öffentlichen Wirkungsmacht entfaltet:

1 ) Öffentliche Zugänglichkeit

«Öffentlichkeit» weist zunächst einmal darauf hin, dass die Güter, die wir in gemeinsamen Infrastrukturen herstellen, auch allen zugänglich sein müssen. Infrastrukturen, zu deren Gütern bestimmte soziale Gruppen keinen oder einen erheblich erschwerten Zugang haben, werden wir zu Recht nicht als «öffentlich» adeln – auch wenn sie sich vielleicht das Etikett gern ankleben würden. Dabei meint Zugänglichkeit zunächst einmal, dass die Menschen über- haupt an das jeweilige öffentliche Gut kommen. Zugangsregeln, die nach sozialer Lage, nach sozialer Herkunft oder nach anderen gegebenen Eigenschaften wie Geschlecht oder Ethnie auf- oder ausschließen, verhindern «Öffentlichkeit».

Faktoren der Zugänglichkeit: Jenseits dieser grundlegenden Frage von Drinnen und Draußen gibt es jedoch entscheidende weitere Faktoren, an denen sich der Grad der Zu- gänglichkeit entscheidet: die Gestaltung von Gebühren und Preisen, von der viel für die Nutzung öffentlicher Infrastrukturen durch Menschen aus unterschiedlichen Lagen abhängt; die Unterstützung für diejenigen, die sich auf Grund der sozialen Herkunft oder aus anderen Gründen mit der Erlangung des Guts schwerer tun; die Offenheit für alle Lebenserfahrungen und Lebensstile – auch jenseits der etablierten Normierungen.

Öffentliche Zugänglichkeit ist mehr als die Abwesenheit unüberwindlicher Grenzen, sie ist die reale und gute Möglichkeit ein öffentliches Gut zu erlangen und erfordert des- halb eine deutliche Absenkung von Barrieren.

Ansprüche aus Gleichheit, nicht aus «Identität»: Eine (inklusive) Politik der Teilhabe ver- sucht, Hindernisse zu identifizieren, die die Teilhabe sozialer bzw. kultureller Gruppen an öffentlichen Räumen und Netzen behindern. Gruppenorientierte Unterstützung in die- sem Sinn agiert deshalb nie identitär, vermeidet insbesondere kulturalistische Begrün- dungen der Differenz, sondern zielt – ganz im Gegenteil – auf das Ideal der Gleichheit in Freiheit. Ihr geht es also darum, die Differenz ungleich verteilter Zugänge im Namen der Gleichheit abzumildern oder gar abzuschaffen – anstatt Differenz «identitär» zum ausschlaggebenden Kriterium sozialer Ansprüche (freiwillig oder unfreiwillig) auszubauen.

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Der gleichberechtige Zugang zu öffentlichen Räumen und Netzen setzt voraus, die sozialen Barrieren und ungleichen Artikulationschancen klar zu benennen und zu über- winden. Eine Politik der Überwindung dieser Barrieren erfordert ein Bewusstsein für die Mechanismen von gruppenbezogenen Ausschlüssen. Hier sind insbesondere zu nennen:

Ein Bewusstsein für die Ausschlüsse auf Grund von sozialer Lage, auf Grund von Ge- schlecht, sexueller Orientierung, migrantischer Herkunft, Hautfarbe oder eben auch von sozialer Herkunft. Auch kommt es darauf an, die Kopplung verschiedener Merkmale im Blick zu behalten.

2 ) Öffentliche Begegnung

In dem Kriterium der Zugänglichkeit ist jedoch noch keine Aussage darüber enthalten, ob es in den Räumen der Zugänglichmachung auch zu einer öffentlichen Begegnung jenseits der sozialen Gruppen und Schichten kommt. «Öffentlichkeit» in diesem Sinn meint gerade nicht die Verstärkung des von vornherein Geteilten, meint nicht die

«Blase», sondern erweist sich in der Möglichkeit des Aufeinandertreffens von Unter- schieden, in der Möglichkeit des Nichtgeteilten, Nichterwarteten und Nichtgewollten.

Wo sollten wir entgegen der Tendenz des gesellschaftlichen Sich-Auseinanderlebens das öffentliche Zusammenleben bestärken, wenn nicht dort, wo wir die Gewährleistung und Zugänglichmachung öffentlicher Güter als eine allgemeine und damit gemeinsame Aufgabe betrachten. Nicht generell, aber als grundsätzliche Stoßrichtung – mit be- gründeten Ausnahmen des besonderen separaten Empowerments. Diese Funktion der

«öffentlichen Begegnung» ist für eine Gerechtigkeitsstrategie der allgemeinen Teil- habe durch öffentliche Infrastrukturen ein entscheidender Punkt und zugleich eine große Herausforderung – und bedarf deshalb einer genaueren Betrachtung.

Begegnungslose Zugänge: Öffentliche Güter lassen sich nicht nur theoretisch allgemein finanzieren und allgemein zugänglich machen, ohne dass sich die unterschiedlichen Schich- ten und Milieus jemals über den Weg laufen – dies ist tatsächlich nach wie vor die eher vorherrschende Praxis unserer Gesellschaft. Man kann in einem Schulsystem die Haupt- schulen stärken – ohne dass es dort zu einer neuen sozialen Mischung kommt. Man kann an sozialen Brennpunkten Einrichtungen für die «Problemjugendlichen», für die Ausgegrenzten und Prekären stärken – ohne dass jemals eine Person aus einer anderen Schicht den Fuß in die Tür setzt. Man kann Sonderschulen für Menschen mit Handicaps stärken – ohne dass es zu einer Verstärkung der geteilten Praxis mit Schülerinnen und Schülern ohne Handicaps kommt. Das Gleiche gilt für Stadtviertel, Räume des öffentlichen Nahverkehrs, Kultureinrichtungen, Arztpraxen und Kranken- häuser etc.

Der anspruchsvolle Anspruch der Inklusion: Nun wissen wir etwa aus der Debatte um schu- lische Inklusion im engeren Sinn, also um das gemeinsame schulische Lernen von Menschen mit und ohne Handicaps, dass es durchaus Argumente dafür gibt, Menschen gezielt auch als Gruppe für sich zu unterstützen – auch im Sinne eines vorgängigen Empowerments für

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ein Vordringen in die öffentliche Sphäre eines gemeinsamen Zusammenlebens und Zu- sammenarbeitens. Es wäre deshalb falsch, solchen Fällen der gezielten separaten

Unterstützung per se das Attribut der öffentlichen Infrastruktur bzw. Institutionen abzu- sprechen. Die Möglichkeit zur Teilhabe braucht auch Orte der besonderen Bestärkung und Befähigung in getrennten Räumen. Gleichzeitig bleibt aber das Kriterium der öffent- lichen Begegnung grundsätzlich aus Perspektive der allgemeinen Teilhabe ganz entschei- dend. Die wachsende und hartnäckige Segregation (nicht nur) unserer Gesellschaft in stark isolierte soziale Schichten und soziokulturelle Milieus ist unter dem Gesichtspunkt all- gemeiner sozialer Teilhabe eine alarmierende Entwicklung mit weitreichenden sozialen Grenz- ziehungen. Warum?

Die soziale Kraft gesellschaftlicher Begegnung: Die Zugänglichmachung von zentralen öffentlichen Gütern eines selbstbestimmten Lebens braucht aus starken Gründen wechsel- seitige Sichtbarkeit und wechselseitigen Austausch – und kann sich nicht auf die ab-

strakte Solidarität der Transferzahlungen und der isolierten Zugänglichmachung begrenzen.

Erst wenn die sozialen Unterschiede im öffentlichen Raum auch sichtbar werden, be- steht die Aussicht auf einen empathischen sozialen Ausgleich. a ) Die ausreichende Bereit- schaft zu wechselseitiger Solidarität und Unterstützung ist auf eine wechselseitige Anschauung und alltäglichen Dialog angewiesen – nur so öffnen sich Wissens- und Erfahrungshorizonte, stellt sich Empathie her. b ) Erst wenn die Menschen mit ihren unterschiedlichen Ausgangslagen öffentlich sichtbar werden, treten die Fähigkeiten und Potenziale aller zutage, verlieren Stereotype und Stigmatisierungen ihre perfide Kraft, und setzt wechselseitiges Dazu-Lernen ein. c ) Die abstrakte Unterstellung einer einseitigen Inanspruchnahme der Bessergestellten zugunsten der Unterschicht relativiert sich erst dann, wenn diese Sichtbarmachung aller Fähigkeiten und Potenziale erfolgt. d ) Und noch grundsätzlicher: Erst dort, wo wir als Menschen jenseits der Milieugrenzen aufeinander- treffen, bekommen wir ein Gespür dafür, was uns im Kern verbindet, was den tieferen Grund sozialer Anerkennung darstellt: das bloße Menschsein, die bloße Subjekthaftigkeit.

Die demokratische Kraft gesellschaftlicher Begegnung: Was hier als «Politik der Begeg- nung» mit dem Schwerpunkt auf soziale Teilhabe ausbuchstabiert wird, lässt sich auch auf die Frage der demokratischen Teilhabe weiterdenken (Siller 2016) – die wiederum ein entscheidender Faktor für die Gestaltung der sozialen Verhältnisse ist. a ) Der demo- kratische Streit um die richtige allgemeine Antwort – also um die Antwort, die versucht, allen gerecht zu werden – ist eben auch auf die wechselseitige Kenntnis und Sichtbar- keit der unterschiedlichen Lagen als Vorbedingung angewiesen. b ) Die Überzeugung, dass die allgemein bessere Entscheidung durch den demokratischen Diskurs entsteht, durch das Wechselspiel der Argumente, verlangt die Einbeziehung derer, deren Hörbarkeit aus sozialen Gründen infrage steht – damit die entsprechenden Interessen überhaupt im demokratischen Diskurs Berücksichtigung finden können; aber auch, weil nur so Positionen der Allgemeinwohlinterpretation in den Diskurs finden, die anders kontextualisiert,

anders geprägt sind als die aus anderen Schichten oder Milieus. c ) Und noch grundsätz- licher: Erst dort, wo wir als Menschen jenseits der Milieugrenzen aufeinandertreffen,

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bekommen wir ein Gespür dafür, was uns in der liberalen Demokratie – wenn man so will

«republikanisch» – verbindet, was den tieferen Grund demokratischer Anerkennung dar- stellt: die Freiheit und Gleichheit als Bürgerinnen und Bürger. So enthält eine Strategie der Teilhabe durch öffentliche Infrastrukturen auch eine fundamentale Antwort auf die Krise des demokratischen Diskurses in Zeiten des Rückzugs in die eigenen digitalen und analogen Blasen und Echoräume, in denen sich Wut und Selbstgewissheit in einem selbstreferenz- iellen Modus hochschaukeln. Und sie führt auf die grundlegende Bedeutung demokratischer Repräsentation, die sicherstellt, dass alle bei limitierten Zeitressourcen diskursiv gut vertreten sind.

Viele «eine Orte»: Wenn hier vom öffentlichen Raum als Raum der allgemeinen, der inklusiven Begegnung und damit als Raum der nicht sozial oder kulturell vorbestimmten Heterogenität die Rede ist, so ist damit nicht der eine, große öffentliche Raum gemeint.

Gemeint sind viele «eine Orte»: Bildungseinrichtungen und Arbeitsorte, öffentliche Ver- kehrsmittel und Krankenhäuser, Wohnhäuser und Straßenzüge, Stadtviertel und Parks, Kultureinrichtungen und Jugendzentren. Öffentlichkeit meint sinnvoll verstanden das Zusammenspiel dieser Vielzahl von «einen Orten».

Welche Regeln braucht öffentliche Teilhabe? Es gehört zu den Irrtümern eines Teils der gebildeten, Mittelschicht, dass sich Teilhabe im öffentlichen Raum am besten dann ereignet, wenn dieser Raum möglichst informell und ungeregelt bleibt. Nichts muss, alles kann. Dabei sind die informellen Gesetze dieser Räume in ihren Auslesemechanismen oft unerbittlich. Und umgekehrt wissen wir, wie stark bestimmte Verfahrensregeln dazu beitragen können, Menschen ins Spiel zu bringen, sie auch die Spielregeln mitbestim- men zu lassen. Am Beispiel des öffentlichen Bildungsraums Schule: Es macht einen großen Unterschied, ob der Unterricht von denen bestimmt wird, die stets selbstbewusst den Finger heben, oder auch von denen, die dieses Selbstbewusstsein – etwa aufgrund ihrer sozi- alen Herkunft – nicht aufbringen, aber keineswegs weniger begabt sind. Ausschlaggebend dafür sind Regeln, etwa der Sitzordnung, der Stoffauswahl, des Aufrufverfahrens oder der Teamkooperation – und an diesen Regeln entscheidet sich die inklusive Qualität des Bildungsraums Schule. Je höher die Teilhabekraft eines Raums von hoher Bildungsqualität ist, umso mehr sind dann auch kompetitive Elemente möglich, die zuvor oftmals nur die Privilegierten weiter bevorzugen.

Das allgemeine Dritte: Dabei kann ein Ansatz der Stärkung der allgemeinen Teilhabe darin bestehen, in bestimmten Zusammenhängen auf die Einführung der Unterschiedlichen über ihre besonderen Merkmale bewusst zu verzichten und ein allgemeines «Drittes» ins Zentrum der Interaktion zu stellen. Dieses Dritte kann ein Gespräch sein über Politik oder Film, kann der gemeinsame Sport sein oder das gemeinsame Singen. Natürlich werden auch so Unterschiede mit der Zeit deutlich, und manchmal müssen sie auch deutlich werden, um Barrieren zu überwinden. Unterschätzen sollte man aber die egalitäre Kraft einer Praxis des gemeinsamen Dritten nicht, die gezielt von den Unterscheidungen (und den damit einhergehenden Zuschreibungen) absieht, weil sie für das geteilte Dritte irrelevant sind.

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Ein entscheidendes «Nebenprodukt»: Öffentliche Begegnung ist überall dort unmittelbar notwendig, wo die Produktion eines öffentlichen Guts – etwa beim gemeinsamen

Lernen oder beim gemeinsamen Sport – von vornherein auf einer allgemeinen Kooperation im gemeinsamen Raum beruht. Öffentliche Begegnung ist jedoch oft auch dort ein ent- scheidendes «Nebenprodukt», wo es um die allgemeine Zugänglichmachung eines öffentli- chen Gutes geht, das an und für sich nicht notwendigerweise auf kollektiver Intersubjek- tivität beruht: Menschen gehen ins Grüne – und treffen sich im Park. Menschen gehen zum Arzt – und treffen sich im Wartezimmer. Menschen wollen Kunst sehen – und treffen sich in der Ausstellung. Menschen wollen etwas essen – und treffen sich im Restaurant.

Präziser formuliert ist es bei öffentlichen Infrastrukturen oft so, dass zu der Produktion und Zugänglichmachung eines bestimmten öffentlichen Gutes ein zweites öffentliches Gut hinzukommt, das aus diesem Anlass in der öffentlichen Begegnung selbst besteht. Gehen Menschen ins Café, um einen Kaffee zu trinken, oder trinken sie einen Kaffee, um sich zu sehen oder auszutauschen? Diese zusätzliche Dimension gilt es bei einer Strategie der Stärkung und Erneuerung öffentlicher Infrastrukturen im Auge zu behalten.

Die Wechselbeziehung Begegnungsräumen und Netzen: Die Form der öffentlichen Be- gegnung hängt dabei auch massiv von der Gestaltung der öffentlichen Netze ab. Oft wird übersehen, dass etwa mit der Gestaltung von Mobilitätsnetzen nicht nur alte durch

neue Mobilitätsnetze ersetzt werden, sondern auch über die Gestaltung öffentlicher Räume als Begegnungsorte massiv mitentschieden wird. Begreift man eine Bahnverbindung lediglich als Transportnetz von A nach B, verkennt man, dass sich in diesem Netz gleich- zeitig zentrale Räume der gesellschaftlichen Begegnung bewegen – deren Zugangs- bedingungen entscheidend von der Netzgestaltung abhängen. Begreift man eine Auto- straße lediglich als Transportnetz von A nach B, verkennt man, dass sich mit diesem Netz gleichzeitig der Charakter der gesamten städtischen Umgebung mitentscheidet – das öffentliche Geschehen auf den Bordsteinen und Plätzen, vor und in den Häusern und Läden. Den öffentlichen Raum unter dem Gesichtspunkt der Begegnung zu gestalten, betrifft also häufig auch die Gestaltung unserer öffentlichen Netze.

3 ) Öffentliche Gewährleistung

Schließlich verweist «Öffentlichkeit» auch auf die Gewährleistung von Infrastrukturen der Teilhabe durch die Allgemeinheit.

Gewährleistung und Trägerschaft: «Öffentliche Gewährleistung» meint nicht notwendiger Weise eine staatliche Trägerschaft, sie meint jedoch in jedem Fall eine staatliche Ver- antwortung dafür, dass die Infrastrukturen nachhaltig zur Verfügung stehen und mit einer entsprechenden Qualität zugänglich und offen sind. «Öffentliche Gewährleistung» meint auch nicht notwendiger Weise rein staatliche Finanzierung, sie meint jedoch wohl, dass das Bestehen guter öffentlicher Räume und Netze nicht vom Gutdünken privater Geldgeber abhängt. Die Tatsache, dass wir in diesen allgemeinen Angelegenheiten die Lasten als Gesellschaft gemeinsam tragen, ist ein wichtiger Aspekt des Begriffs der Öffentlichkeit.

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Unteilbare Grundinfrastrukturen: Unteilbare Netz- oder Raum-Infrastrukturen, auf die alle angewiesen sind, gehören in die öffentliche Hand. Und auch bei teilbaren

Infrastrukturen und den dazugehörigen Dienstleistungen kann es gute Gründe geben, das Eigentum in öffentlicher Hand zu halten und so dauerhafte Perspektiven zu gewährleisten.

Gleichzeitig gibt es – je nach Ort oder Netz – wichtige und erfolgreiche Trägerschaften etwa in der Hand von gemeinnützigen Vereinen, Genossenschaften oder auch privat- wirtschaftlichen Akteuren mit klar bestimmten öffentlichen Aufträgen. Unter dem Ge- sichtspunkt der öffentlichen Gewährleistung entlang der definierten Kriterien ist die Übertragung an private Träger wie auch die Wahl von Mischformen in öffentlich-privater Trägerschaft mit Blick auf die öffentlichen Zwecksetzungen differenziert zu bedenken.

Anforderungen an nichtstaatliche Akteure: Die öffentliche Gewährleistungspflicht hat allerdings weitreichende Konsequenzen für die Anforderungen an gemeinnützige oder privatwirtschaftliche Betreiber: Eine entscheidende Konsequenz der hier vorge- schlagenen Strategie liegt in einer deutlichen Verbesserung der Vergabe wie auch der Beaufsichtigung der privaten Träger unter dem Gesichtspunkt der Zwecksetzung der öffentlichen Förderung. Nur so kann sich auch hier ein Wettbewerb um inklusive Qualität in dem oben beschriebenen Sinn entfalten.

Öffentliche Infrastrukturen und ihr Preis

Die Öffentlichkeit eines «Raums»: Eine sinnvolle gesellschaftliche und am Ende auch politische Definition des «Öffentlichen Raums» geht – zusammenfassend – deutlich über die stadtsoziologische Engführung auf öffentliche Flächen wie Plätze, Verkehrs- oder Grün- flächen hinaus. «Öffentlicher Raum» steht sinnvoll verstanden vielmehr für all jene Räume, in denen ein öffentliches Gut allgemein zugänglich gemacht wird, von den allgemeinen Bildungs- und Kultureinrichtungen über die allgemeinen Gesundheitseinrichtungen bis hin zu den Räumen allgemeiner Mobilität. Nur so lässt sich die Tragweite der Teilhabe- funktion von Räumen der Allgemeinheit angemessen erfassen.

Allgemeine Zugänglichkeit heißt entsprechend auch nicht notwendigerweise freie Zugäng- lichkeit für alle, wie sie etwa bei einem Stadtpark gegeben ist. Sie meint vielmehr eine nicht-selektive Zugänglichkeit für all jene, an die das öffentliche Gut adressiert ist: Schulen für Schüler/innen, Arztpraxen für Kranke usw.

Da allgemeine Zugänglichkeit wie beschrieben noch nicht notwendigerweise zu allgemeiner Begegnung führt, ist zu fragen, inwieweit das Moment der allgemeinen Begegnung

konstitutiv für den Begriff des öffentlichen Raums sein sollte. Hier ist eine Differenzierung sinnvoll: Dort wo die allgemeine Begegnung entscheidend ist für die Produktion des je- weiligen Guts oder wo sie als wichtiges Nebenprodukt hinzukommt, sollten wir sie in die Anforderungen an den öffentlichen Raum aufnehmen. Dort wo es gute Gründe gibt,

auf die allgemeine Begegnung im Interesse der Produktion und Zugänglichmachung zu ver- zichten, kann auch die Anforderung allgemeiner Begegnung entfallen. In jedem Fall ist

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der Aspekt der «Shared Spaces», der gemeinsamen Räume, ein «Stachel», der bei der Befassung mit dem öffentlichen Raum eine wichtige Rolle spielt.

Schließlich gehört ein «öffentlicher Raum» nicht zwingend dem Staat, einer Gemeinde oder einer Körperschaft des öffentlichen Rechts. Ein solches Eigentumsverhältnis ist zwar zur staatlichen Gewährleistung der Teilhabefunktion öffentlichen Raums in vielen Fällen ratsam, jedoch würde eine solche Engführung all die gemeinnützigen und auch privaten Initiativen übersehen, die ebenfalls für Räume sorgen, in denen öffentliche Güter allgemein zugänglich gemacht werden. Aus dieser Perspektive kann auch ein Sportverein ein entschei- dender öffentlicher Raum sein. Eine Eckkneipe, ein Laden oder ein Café. Die Tatsache, dass dieser Raum privat organisiert ist, heißt auch nicht, dass der Staat mit Blick auf seine Gewährleistungspflichten in diesen Bereichen die Hände in den Schoß legen kann, viel- mehr hat er von der Stadtplanung bis zur Mietpolitik viele Möglichkeiten, das Gelingen zu befördern.

Die Öffentlichkeit eines «digitalen Raums»: Eine sinnvolle gesellschaftliche und am Ende auch politische Definition des «Öffentlichen Raums» geht – zusammenfassend – deutlich über die stadtsoziologische Engführung auf öffentliche Flächen wie Plätze, Verkehrs- oder Grünflächen hinaus. «Öffentlicher Raum» steht sinnvoll verstanden vielmehr für all jene Räume, in denen ein öffentliches Gut allgemein zugänglich gemacht wird, von den allgemeinen Bildungs- und Kultureinrichtungen über die allgemeinen Gesundheitseinrichtungen bis hin zu den Räumen allgemeiner Mobilität. Nur so lässt sich die Tragweite der Teilhabefunktion von Räumen der Allgemeinheit angemessen erfassen.

In der digitalen Welt muss man sprichwörtlich gar nicht mehr vor die Tür. Dieser gravieren- de Mangel an öffentlichem digitalen Raum hat seine Ursache unter anderem darin, dass das Netz – anders als etwa der Rundfunk oder das Fernsehen – von vornherein als ein Netz privater Räume entstand und entsprechend zügig von den bekannten Großplayern und ihren unternehmensbezogenen Algorithmen dominiert wurde. Eine Strategie der Teilhabe durch die Stärkung und Erneuerung öffentlicher Infrastrukturen muss sich also der digitalen Frage annehmen – nicht nur unter dem Aspekt der Datenzugänglichkeit durch entsprechende Netze, sondern auch unter dem Aspekt der sozialen Begegnung im digitalen öffentlichen Raum. Es ist höchste Zeit, dass der öffentlich-rechtliche Auftrag auch im Netz wahrgenommen wird.

Die Öffentlichkeit eines «Netzes»: Öffentliche Netze sind – zusammenfassend – all die- jenigen Leitungen und Verbindungen, in denen öffentliche Güter bewegt und dadurch allgemein zugänglich gemacht werden, von Strom, Wärme oder Wasser über Mobilität bis hin zu digitalen Daten. Allgemeine Zugänglichkeit heißt auch hier nicht notwendiger- weise freie Zugänglichkeit für alle, allerdings ist ein freier Zugang oftmals auf Grund der Unteilbarkeit vieler grundlegender Netz-Infrastrukturen geboten. Der Aspekt der all- gemeinen Begegnung greift in Bezug auf Netze als Leitungen nicht, kann aber wohl eine Rolle spielen in Räumen (etwa Zügen), die in den Netzen bewegt werden oder auch mit

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Blick auf Fragen der gemeinsamen Netzgestaltung. Auch öffentliche Netze stehen nicht zwingend in staatlichem Eigentum, allerdings ist eine staatliche Hand in jedem Fall dort geboten, wo es sich um unteilbare Infrastrukturen handelt, auf die alle angewiesen sind.

Der Preis des Zugangs: Mit Blick auf die soziale Inklusivität öffentlicher Infrastrukturen ist die Gestaltung der Gebühren und Preise ein politisch hoch relevanter und zugleich kontroverser Punkt. In aller Regel ist der Eintritt in öffentliche Räume und Netze jenseits grundlegender Dienstleistungen etwa im Gesundheits- oder Bildungsbereich grundsätzlich mit spürbaren Gebühren und Preisen belegt, Sozialhilfe- und Hartz IV-Empfänger/innen erhalten oft deutlich reduzierte Tarife. Diese Gebühren können – wie bei Kita- oder Hort-Gebühren – einkommensabhängig gestaffelt sein, sie können aber auch wie bei ÖPNV oder Bahn, Rundfunk, Theatern oder Schwimmbädern einen Einheitspreis haben. Gerade Letzteres führt dazu, dass die Barriere für eine allgemeine Nutzung relativ hoch ist. Gleich- zeitig nutzt die vergleichsweise kleine Gruppe der Sozialermäßigten trotz der niedrigen Tarife die Angebote oftmals nur zu einem sehr geringen Prozentsatz.

Populär geworden ist der Ruf nach «kostenlosem Zugang». Der Koalitionsvertrag 2018 etwa reklamiert eine Entlastung von Eltern bei den (Kita-)Gebühren «bis hin zur Gebühren- freiheit», bei bundesgeförderten Kultureinrichtungen soll es regelmäßig «freien Eintritt»

geben, hinzu kommt ein Vorstoß der alten Bundesregierung in Brüssel zur Verbesserung der städtischen Luftqualität, der einen «kostenlosen Nahverkehr» zunächst in den fünf Modellstädten Bonn, Essen, Herrenberg, Reutlingen und Mannheim vorschlägt. Weitere Vorschläge – etwa der EU-Kommission für ein kostenloses Interrail-Ticket für Europas Jugend – kommen hinzu. Ist der Ruf also unter dem Gesichtspunkt der Erhöhung von Teil- habe auch sinnvoll?

Ein entscheidendes Argument gegen die «For-Free-Philosophie» öffentlicher Infrastruk- turen ist von jeher, dass es gar nicht einzusehen sei, warum sich liquide Bürger/innen nicht bei Nutzung entsprechend ihrer finanziellen Möglichkeiten beteiligen sollten. Eine Zugänglichmachung von Infrastrukturen für die Armen durch Gebührenverzicht oder Minimalsatz heiße ja nicht, dass der Rest keinen Beitrag pauschal oder relativ zum Ein- kommen leistet. Ein Impuls aus diesem Argument wäre in jedem Fall, die Preispolitik öffentlicher Einrichtungen mit Pauschalsätzen nochmals darauf zu befragen, ob sich nicht auch jenseits des unteren Rands eine stärkere Relation zu den finanziellen Möglichkeiten herstellen lässt. Andererseits ist das oftmals nur schwer umsetzbar und schwer zu kontrollieren – man kann ja nicht an jedem Schalter mit Einkommens- und Vermögens- nachweis bezahlen.

Ein grundlegender Einwand gegen das Argument der Kostenbeteiligung durch Gebühren und Preise kann allerdings darin liegen, dass sich eine gerechte Tragung der Kosten öffentlicher Infrastrukturen ja schon über die Lasten eines fairen, progressiven Steuer- systems herstellen lasse und dort auch hingehört. In einer Gesellschaft, in der die Finanzierung öffentlicher Räume und Netze einkommens- und vermögensabhängig über

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Steuern getragen werde, werfe die allgemeine Kostenfreiheit kein weiteres Gerechtig- keitsproblem mehr auf.

Dieses Gegenargument darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass ein kostenloser Zugang zu öffentlichen Infrastrukturen – in Folge einer deutlich erhöhten Nutzung – gleichzeitig erhebliche öffentliche Mehrkosten erzeugt und damit eine deutliche Erhöhung des Steueraufkommens notwendig macht, es sei denn die Qualität sinkt und der Ver- schleiß wächst. Das dürfte die Euphorie bei vielen für das Argument der Steuergerechtig- keit wieder drosseln.

An dieser Stelle zeigt sich ein allgemeines Problem der Proklamation von allgemeinen Zu- gangsrechten, gar kostenlosen: Mit dieser Proklamation ist noch überhaupt nicht sicher- gestellt, dass es auch eine entsprechende Infrastruktur in guter Qualität gibt bzw. zeitnah geben kann. Schon alleine deshalb kann eine solche Politik nur dann seriös sein, wenn sie sich zuvor um die Entwicklung und die Finanzierung dieser allgemeinen Infrastrukturen in guter Qualität gekümmert hat.

Neben der Finanzierung stellen sich noch weitere grundlegende Fragen: Gebühren und Preise für öffentliche Infrastrukturen sind auch bewusst gesetzte Hürden, um eine ungeprüfte oder gar dysfunktionale Nutzung zu verhindern: Die Nutzerin bzw. der Nutzer soll sich über die Gebühr bzw. den Preis vor der Nutzung bewusstmachen, dass die

Nutzung öffentliche Kosten verursacht, übrigens oft auch ökologische Kosten. Sozialpsycho- logische Untersuchungen zeigen zudem, dass Menschen gegenüber Leistungen, für die sie nichts zahlen, oftmals auch keine besonders hohe Wertschätzung erbringen. Demgegen- über verhilft bereits ein kleiner Preis oftmals zu einer individuellen Prüfung, ob einer Leistung wirklich Wert zugesprochen wird. Hinzu kommt, dass kostenlose Zugänge auch einen notwendigen Wettbewerb unter den Anbietern öffentlicher Infrastrukturen er- schweren kann, da die Vorteile des Mitteleinsatzes durch die Nutzer/innen bei einem guten Angebot wegfallen.

Gleichzeitig ist unübersehbar, dass die Nutzung öffentlicher Infrastrukturen in vielen Be- reichen durch Gebühren und Preise bei der großen Gruppe geringer und mittlerer

Einkommen oberhalb der Sozialhilfe deutlich eingeschränkt ist. Hier kann eine veritable Zugangsbarriere liegen. Hinzu kommt die Attraktivität Angebote wahrzunehmen, die unbürokratisch und unkompliziert zugänglich sind, ohne sich jedes Mal ein Ticket be- sorgen zu müssen. Was also tun?

Ein Ansatz könnten Flatrate-Modelle sein, nach denen jede/r eine monatliche oder jährliche Pauschale zahlt und dafür zu vielen verbundangeboten freien Zugang erhält. Augsburg macht es im Bereich öffentlicher Mobilität gerade vor – von Bus und Bahn über das Leih- fahrrad bis zum Carsharing. Die Frage, ob man sich eine Nutzung noch leisten kann oder nicht, ist damit ebenso hinfällig wie die Trägheit, jede einzelne Aktion einzeln buchen zu müssen.

Abbildung

Abbildung 1:  Grundlegende materielle und qualitative Dimensionen öffentlicher Institutionen/Infrastrukturen

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