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Archiv "Prostatakarzinom" (26.06.1995)

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(1)

MEDIZIN AKTUELL

Prostatakarzinom

Dieter Hölzel

D

as Prostatakarzinom-(PK)- Früherkennungsangebot, die digitale Prostatapalpation (DRE), besteht seit 1971.

Heute ist allgemein bekannt, daß die Einführung eines Screening-Verfah- rens mit der Zulassung eines Medika- mentes vergleichbar ist und einen ent- sprechenden Wirksamkeitsnachweis erfordert. Trotzdem ist für DRE welt- weit bis heute in keiner randomisier- ten Studie die Wirksamkeit, das heißt die Senkung der PK-bedingten Mor- talität, nachgewiesen worden (1, 3, 7, 20, 22, 47).

Solche Untersuchungen sind heute neu zu konzipieren, weil mit der Bestimmung des PSA im Serum ein sensitiver Test verfügbar ist und erste Ergebnisse für unterschiedliche Untersuchungskohorten vorliegen.

Grundsätzlich wird eine Screening- Untersuchung in Frage gestellt, wenn das therapeutische Vorgehen für die früh entdeckten Krebspatienten kon- trovers zwischen "watchful waiting", Bestrahlung und Operation diskutiert wird. Erste Studien scheinen zu bele- gen, daß bei asymptomatischen PK ein Hinauszögern des Therapiebe- ginns keinen Nachteil im Vergleich zur sofortigen Therapie bedeutet, das heißt, eine sofortige Behandlung wür- de nicht den natürlichen Verlauf ver- ändern (23, 29, 43, 61). Eine kurze Er- läuterung der epidemiologischen Da- ten zum PK, der Logik von Screening- Unterschungen und der therapeuti- schen Alternativen sollen die Aktua- lität der Frage nach dem Stellenwert des Screenings belegen, das dringend auf eine empirisch-rational begründe- te Basis zu stellen ist.

Zur Epidemiologie des Prostatakarzinoms

Altersspezifischen Inzidenzra- ten, die von neun Tumorregistern in den USA für 1983 bis 1987, vom Saar- ländischen, vom Münchner Tumorre-

gister (TRM) und von der ehemaligen DDR vorgelegt wurden, zeigen be- merkenswerte Unterschiede (Abbil- dung 1).

Im Alter von 45 bis 49 ist jährlich mit vier Neuerkrankungen je 100 000 Männer, von 50 bis 54 mit 17, von 75 bis 79 mit 459 in Deutschland zu rech- nen.

In den USA wurden schon 1983 bis 1987 1,1 Prozent Prostatakarzino- me jährlich bei über 80jährigen regi- striert, in Deutschland heute etwa 0,4 Prozent (27, 50, 58, 59, 57, 39).

Die altersspezifische Mortalität für die vier verschiedenen Populatio- nen der Abbildung 1 und für Deutsch- land insgesamt (alte Bundesländer) ist dagegen nahezu identisch (Abbil- dung 2). Eine unterschiedliche Inzi- denz, auch in der Größenordnung der

Arbeitsgruppe Urologie im Tumorregister München (siehe Kasten Seite A-1 854)

USA, führte offensichtlich bisher zu keiner nennenswerten Senkung der Mortalität.

Die Mortalität ist in den letzten 15 Jahren sogar leicht angestiegen (4, 21, 40, 50), während die Inzidenz mit einer Verdreifachung mittlerweile ein epidemisches Niveau erreicht hat (Abbildung 3) (21, 23, 61, 6). Eine plausible Annahme ist deshalb, daß die Inzidenzsteigerung in den USA nicht die Folge eines bisher unbe- kannten ätiologischen Faktors ist, der in den letzten Jahren seit Verfügbar- keit des PSA zu diesem Anstieg ge- führt hat (11, 34, 35, 48).

Zutreffender dürfte sein, daß diese Steigerung der Inzidenz von der Medizin selbst verursacht wurde. Ei- ne positive Einstellung der Bevölke- rung zum Screening, die intensive Werbung mit Prostate Awareness Weeks und eine intensiv genutzte Diagnostik mit digitaler rektaler

Ist die Früherkennung in einer Sackgasse?

Seit mehr als 20 Jahren gibt es in Deutschland ein Früherkennungsangebot zum Prostatakarzinom für Männer ab 45 Jahre. Die Inanspruchnahme liegt unter 15 Prozent. Die Mortalität des Prostatakarzinoms ist in den letzten 20 Jahren sogar leicht angestiegen. Eine Kosten-Nutzen-Analyse ist bisher nicht erfolgt. Die kriti- sche Überprüfung ist aber dringend notwendig, da seit 1986 mit dem prostata- spezifischen Antigen (PSA) ein Test verfügbar ist, der insbesondere wegen der gu- ten Akzeptanz die Neuerkrankungen und in logischer Konsequenz die Behand- lungszahlen für das Prostatakarzinom in den USA jährlich zum Teil um 15 Prozent ansteigen läßt. Das Prostatakarzinom ist die häufigste Krebserkrankung in den USA. Als Folge des Anstiegs werden auch die heute gängigen Therapiestrategien kontrovers diskutiert. Eine vergleichbare Entwicklung ist für Deutschland zu er- warten. Ist der Schaden des Screenings mittlerweile größer als der Nutzen? Ist das Prostata-Screening überhaupt noch ethisch vertretbar? Dies sind heute notwendi- ge und berechtigte Fragen. Allgemein folgt daraus für ein modernes Gesundheits- system, daß vom Milliardenaufwand für die laufende Versorgung ein angemesse- ner prozentualer Anteil bereitgestellt werden muß, um durch klinische Versor- gungsforschung wichtige Fragen beantworten und damit die Effizienz der Versor- gung belegen, sichern und optimieren zu können.

Deutsches Ärzteblatt 92, Heft 25/26, 26. Juni 1995 (37) A-1839

(2)

Patienten je 100.000 1.200

- USA 1983-87 (Weiße) - Saarland 1989-90

- o- München 1991-92 ehemalige DDR 1986

0

45-49 50-54 55-59 60-64 65-69 70-74 75-79 80-84 __85 Altersklasse

1.000 800 600 400 200

Abbildung 1: Altersspezifische Inzidenzraten aus den USA, dem Saarland, der Stadt München und der ehema- ligen DDR. In der Altersklasse 80 bis 84 Jahre wurden in den USA (1983 bis 1987) 1,1 Prozent, in Deutsch- land etwa 0,42 Prozent je 100 000 Männer diagnostiziert (50, 58, 59, 57, 39). Bei über 80jährigen bestehen im TRM Erfassungsdefizite, da bisher i. w. das operative Fachgebiet Urologie die Erhebung trägt.

Sterbefälle je 100.000 800

-B- USA 1983-87 (Weiße) - Saarland 1989-90

-o- München 1991-92

- A- BRD gesamt 1991 --e- ehemalige DDR 1992

200

0 600 -

400 -

50-54 55-59 60-64 65-69 70-74 75-79 80-84 Altersklasse

Abbildung 2: Altersspezifische Mortalitätsraten zu den Bevölkerungen der Abbildung 1 Prostatapalpation DRE, PSA, trans-

rektalem Ultraschall (TRUS) - insbe- sondere die hohe Akzeptanz des PSA - und Biopsien „produzieren" zuneh- mend mehr Prostatakarzinomkranke und in Folge unter anderem eine Versechsfachung der Prostatektomi- en von 1984 bis 1990 (34).

Im Tumorregister München (TRM) ergeben sich die ersten Hin- weise aus Inzidenzanalysen auf Stadt- bezirks- und Gemeindeebene, daß sich diese Entwicklung auch in Deutschland abzeichnet (Unterschie- de Faktor 2).

Die um 40 Prozent niedrigere In- zidenz von 30,5 in der ehemaligen DDR 1986 (im Vergleich zu etwa 51 in Saarland und München) und die um nur 10 Prozent niedrigere Mortalität sprechen ebenfalls für die Medizin als Ursache (39). Konsistent damit ist, daß die beobachtete 5-Jahres-Überle- bensrate in der DDR bei etwa 30 Pro- zent (24), in München bei 60 Prozent und in den USA vermutlich schon fast bei 70 Prozent liegen dürfte (BRD altersgleiche Normalbevölkerung 73 Prozent).

Beachtenswert ist die säkulare Entwicklung der altersstandardisier- ten Mortalitätsziffern in Deutschland (Abbildung 4). Eine Zunahme von 24 auf 28 Sterbefälle je 100 000 ist um 1973 zu erkennen, eine weitere deutet sich seit 1986 an auf 30,2 in 1992 (57).

Vergleichbare Veränderungen belegt

das Tumorregister des Saarlandes mit seinen Neuerkrankungszahlen (58).

Der Start der Früherkennung in Deutschland und die Verfügbarkeit des PSA fallen zeitlich mit diesen Än- derungen zusammen.

Anzumerken ist dazu, daß für die Stadt München 1988 bis 1992 das Ver- hältnis von Mortalitäts- zu Neuer- krankungszahlen 0,61 beträgt, was auf Grund der Überlebensraten im TRM (beobachtet 10 Jahre 31 Prozent, rela- tiv 58 Prozent entspricht 0,42 anstelle von 0,61) einen nennenswerten An- teil falsch positiver Angaben auf To- desbescheinigungen vermuten läßt, der mit der Zahl der Diagnostizierten

steigen könnte. Bekanntlich stehen in Deutschland als einzigem Land der Welt der Medizin die von ihr ausge- stellten Todesbescheinigungen trotz aller staatlichen Forderungen nach Transparenz und Qualitätssicherung beispielsweise für die Abklärung sol- cher Hypothesen nicht zur Verfü- gung. Aufbau und Nutzung von Tu- morregistern für klinische Fragestel- lungen würden weiterhin durch das neue Bundeskrebsregistergesetz sehr erschwert, wenn die erforderliche Landesgesetzgebung die Namenschif- frierung für die organisatorisch nied- rigere Ebene der flächendeckend und versorgungsbegleitend arbeitenden Tumorregister übernehmen sollte.

Bevor die Wirkung eines bevöl- kerungsbezogenen Screenings erläu- tert wird, sind Inzidenz- und Morta- litätsraten auf den Altersaufbau der Bevölkerung Deutschlands umzu- rechnen. In den alten Bundesländern dürften jährlich zur Zeit 50 bis 60 Neuerkrankungen je 100 000 Männer, etwa 17 500 PK jährlich, diagnosti- ziert werden, in Deutschland etwa 21 000. 50 Prozent der Patienten sind älter als 73 Jahre, 10 Prozent jünger als 60. Das mittlere Sterbealter liegt bei 78 Jahren. Die mittlere Lebenser- wartung eines 73jährigen in der Be- völkerung beträgt heute 9,2 Jahre.

Für das PK-Screening in Deutschland sind folgende Kenn- größen zu beachten (Abbildung 5):

10,4 Millionen Männer leben im Al- tersintervall von 50 bis 74 Jahren. Mit etwa 13 200 Neuerkrankungen ist

(3)

Abbildung 4: Altersstandardisierte Mortalitätsziffern der alten Bundesländer seit 1969. Der Vergleich zur Mit- telwertslinie läßt Zunahmen um die Einführung der Früherkennung und nach der Verfügbarkeit von PSA er- kennen (57).

Tausend 200

150

50

0 , i , , . . 1 , ,

1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 Jahr

100 -

-0- Lunge weiblich Prostata Lunge männlich Mamma

Abbildung 3: Entwicklung jährlicher Neuerkrankungszahlen (absolut) in den USA von 1984 bis 1994. Diesen Inzi- denzschätzungen liegen die Erhebungen des SEER-Programms (Surveillance, Epidemiology and End Result) des Na- tional Cancer Institutes zugrunde (jährliche Veröffentlichung im Journal: CA — A cancer journal for clinicions [6]).

MEDIZIN

jährlich in diesem Altersintervall zu rechnen. Ein Screening zwischen 45 und 49 Jahren ist bei vier Neuer- krankungen je 100 000 Untersuchte eigentlich nicht vertretbar. Ebenso sollte das Screening höchstens bis zu einem Alter von 75 Jahren ange- boten werden. Die Lebenserwartung eines 75jährigen beträgt etwa acht Jahre. Die zunehmend geringere Operabilität eines Patienten, eine prognostisch günstigere Erkrankung (length-time-bias) und eine Vorver- lagerung des Diagnosezeitpunktes (lead-time-bias) von vielleicht fünf Jahren bei der letzten Untersuchung mit 75 rechtfertigen eine solche Ein- schränkung für asymptomatische Pa- tienten.

Diesen jährlichen 13 200 Neuer- krankungen stehen 5 882 Sterbefälle (im Alter von 55 bis 79 Jahren, insge- samt 11 275) gegenüber, von denen 64 Prozent nach dem 70. Lebensjahr auf- treten. Eine nennenswerte Senkung der Mortalität muß das Ziel des Screenings sein, was bei 20 Prozent die Vermeidung von etwa 1 200 Ster- befällen bedeuten würde. Eine Sen- kung in einer solchen Größenord- nung ist bisher nur bei Mammakarzi- nom und nur in Studien nachgewiesen worden. Ein Effekt genau in dieser Größenordnung wird in einer Studie mit 37 000 Männern und einer Lauf- zeit von 15 Jahren vom National Can- cer Institute empirisch überprüft (PLCO-Trial) (55).

AKTUELL

Die Problematik des Screenings beim Prostatakarzinom

Wie wirkt ein Screening-Test? Je- des diagnostische Verfahren ist durch zwei Eigenschaften gekennzeichnet.

Die Sensitivität eines Tests beschreibt die Eigenschaft, Kranke als krank zu erkennen, die Spezifität dagegen Ge- sunde auch als gesund zu erkennen.

Für die digitale Palpation (DRE) wer- den für die Sensitivität 50 Prozent und für die Spezifität 94 Prozent angege-

ben (31, 60, 17), was entscheidend von der Erfahrung abhängt. Die Wirkung eines Tests ist von der Prävalenz, der Zahl der entdeckbaren Erkrankun- gen und damit beim PK stark vom Al- ter abhängig (Abbildung 6). Das wird durch den prädiktiven Wert eines po- sitiven Tests, dem Verhältnis von rich- tig positiven Befunden zur Gesamt- zahl der positiven Befunde (PPW) zum Ausdruck gebracht. In der Al- tersklasse von 70 bis 74 Jahren be- trägt, dieser PPW 3,2 Prozent, das heißt 100 000 Untersuchungen führen zu 6 190 positiven Befunden, aus de- nen die 200 richtig positiven durch weitere Diagnostik herauszufinden sind, denn nur 200 von den 400 wer- den durch DRE (Sensitivität 50 Pro- zent) entdeckt. Die Problematik im Alter von 50 bis 54 zeigt Abbildung 6 mit einer positiven Biopsie auf 600.

Es ist naheliegend, PSA (4 ng/ml) als zusätzlichen Test anzuwenden. Mit 97 Prozent hat er eine wesentlich bes- sere Spezifität, mit 70 Prozent eine um 20 Prozent bessere Sensitivität, er- kennt aber damit etwa 30 Prozent der Erkrankungen auch nicht. Für die Kombination beider Untersuchungen gibt es zwei Alternativen: Beide Tests, DRE und PSA, müssen positiv sein (Sensitivität 34 Prozent, das heißt, nur ein Drittel der PK-Kranken würden erkannt, Spezifität 99,5 Prozent) oder mindestens ein Test, DRE oder PSA, A-1842 (40) Deutsches Ärzteblatt 92, Heft 25/26, 26. Juni 1995

(4)

Bevölkerungszahlen, jährliche Neuerkrankungen und Pk-bedingte Sterbefälle

Alters- Männer in Neuerkran- Neuerkran-ln Deutsch- Sterbefälle

klasse Deutsch- kungen kungen land 1992

land jährlich erwartet 5 Jahre

(Mio.) München früher ent-

je 100.000 deckt

1990-92

45-49 (2.375) (4) (95) (403) (30)

50-54 3.077 17 523 1.600 (132)

55-59 2.592 52 1.348

! 3.085 322

60-64 2.083 119 2.479 5.687 670

65-69 1.541 273 4.206 6.593 1.099

70-74 1.092 428 4.673 5.014 1.505

75-79 (0.674) (459) (3.094)

I

(2.804) 2.286

Summe 10,4 127 13.229 21.979 5.882

(50 -7 4 Jahre)

AbbildungS: Kenngrößen zur Beurteilung eines Prostatascreening in Deutschland. 10,4 Millionen Männer leben im Altersintervall von SO bis 74 Jahren. Noch den vom TR Soorland und München ermittelten ver- gleichbaren lnzidenzrolen sind etwa 13 200 Neuerkrankungen jährlich in Deutschland zu erwarten (bei vergleichbaren lnzidenzen in den neuen Ländern). Eine um fünf Jahre frühere Entdeckborkeil würde zu etwa 22 000 Neuerkronkungen. führen. Im Altersintervoll von SS bis 79 Jahren wurden S 882 von insge- samt]] 27S PK-bedingte Sterbefälle in 1992 registriert. Bei 64 Prozentliegt das Sterbealter über 70, bei 39 Prozent über 7 S Jahren. Eine erfolgreiche 20-Prozent-Senkung der Mortalität durch Screening der 10,4 Millionen Männer würde etwa 1 200 vorzeitige Sterbefälle vermeiden. Werte in ( ) wurden für die Summierung nicht berücksichtigt (Sl).

ist positiv (Sensitivität 84 Prozent, Spezifität 92 Prozent) (31, 49). Würde die gesamte Screeningpopulation von 10,4 Millionen das Früherkennungs- angebot wahrnehmen, würden etwa 18 500 von den 22 000 Erkrankungen entdeckt, die unter der Voraussetzung zu erwarten sind, daß nur die heute klinisch relevant werdenden PK-Er- krankungen fünf Jahre früher ent- deckt würden. Allein durch eine Vor- verlegung des Diagnosezeitpunktes um fünf Jahre ergibt sich eine Inzi- denzsteigerung, weil zum Beispiel 22 Prozent der 70jährigen nicht das 75.

Lebensjahr erreichen. Gleichzeitig wären wegen der Spezifität von 92 Prozent jährlich etwa 830 000 falsch positive Befunde zu erwarten (Abbil- dung 7: Annahme 1). Wiederholte PSA-Bestimmungen; transrektaler Ultraschall und Biopsien wären die logische Folge dieser falsch positiven Befunde. Das sind versteckte Scree-

ning-Folgekosten. Zu beachten ist, daß falsch positive Befunde in Bezug auf das PK definiert sind. Andeu- tungsweise ist in Abbildung 1 erkenn- bar, daß das Verhältnis der PK-Inzi- denz USA/ Deutschland unter 60 Jah- ren geringer ist als im Seniorenalter von 75 bis 85. Dies ist zum Teil damit zu begründen, daß eine Prostatitis, ei- ne BPH und andere Erkrankungsfor- men ebenfalls zu erhöhten PSA-Wer- ten führen. Die BPH nimmt bekannt- lich mit dem Alter stark zu (20). Dies führt zu einer erhöhten Inzidenz, weil gleichzeitig mit dem Alter der Anteil der latenten PK zunimmt ( 40 Prozent bei 80jährigen [9]). Diese PK bleiben klinisch stumm und beeinträchtigen damit nicht die Lebenserwartung ei- nes Mannes, das heißt, die meisten Männer im fortgeschrittenen Alter sterben mit, nicht am PK.

Ein Teil dieser latenten PK kann aber durch Biopsien zusammen mit

den klinisch relevanten PK entdeckt werden (53), wenn beispielsweise ei- ne BPH-bedingte PSA-Erhöhung bi- optisch abgeklärt wird. Dieses Eis- bergphänomen (Abbildung 8) des PK-Screenings führt zu fünf Patien- tengruppen, die mit der Diagnose Krebs konfrontiert und versorgt wer- den müssen:

..,.. latente PK, die den Träger auch ohne Behandlung nie beein- trächtigen werden

..,.. früh entdeckte PK, die - falls der Patient lang genug lebt - klinisch relevant werden

..,.. früh entdeckte und sofort op- timal zu behandelnde PK

..,.. früh entdeckte wegen Kon- traindikationen nicht optimal zu be- handelnde PK

..,.. fortgeschrittene Erkran- kungsformen.

Da bisher keine Prognosefakto- ren für die Auswahl der klinisch rele- vanten PK bekannt sind, ergibt sich ein Dilemma, das entweder zur Über- oder Unterversorgung führt. Trotz der epidemischen Zahlen in den USA wird nur von 10 Prozent klinisch nicht relevanten PK-Entdeckungen ausge- gangen (44).

lnzidenzsteigerung durch Screening

Die Aufdeckung latenter PK wird also zu wesentlich höheren Neu- erkrankungszahlen führen als zu den für Deutschland zwischen 50 und 75 bei fünf Jahre Vorverlegung zu erwar- tenden 18 500 (Abbildung 7). Welche Inzidenzen würden durch ein syste- matisches bevölkerungsbezogenes Screening erreicht? In vier Studien von Catalona (10), Brawer (8), Labrie (32) und Mettlin (41, 42) wurden mit Probanden von 50 bis 69 Jahren mit PSA (> 4 ng/ml) und DRE 2,2 bis 4,1 Prozent PK entdeckt. Beim Start ei- nes solchen Programms in Deutsch- land würden bei nur 2 Prozent Ent- deckungsrate etwa 16mal mehr PK- Kranke entdeckt als unter Status- qua-Bedingungen jährlich diagnosti- ziert werden (Abbildung 7, Annahme

2). Etwa 208 000 Männer würden mit

der Diagnose PK konfrontiert. Wenn etwa 50 Prozent radikal behandelt würden und wegen der dann ubiquitär

(5)

100.000 99.980

20

ein Prostatakarzinom

wird diagnostiziert nicht nachweisbar Summe Screeningtest

DRE ist

positiv negativ

5.990 93.990

6.000 94.000 10

10

100.000 99.600

400

ein Prostatakarzinom

wird diagnostiziert nicht nachweisbar Summe Screeningtest

DRE ist

positiv negativ

5.990 93.610

6.190 93.810 200

200

von 100.000 Männern im Alter von 50 bis 54 Jahren erkranken jährlich ca. 20

Positiver prädiktiver Wert 0,17 % (jede 600. Biopsie ist positiv).

von 100.000 Männern im Alter von 70 bis 74 Jahren erkranken jährlich ca. 400

Positiver prädiktiver Wert 3,2 % (jede 31. Biopsie ist positiv).

Abbildung 6: Die Wirkung des Screening-Tests DRE mit einer Sensitivität von 50 Prozent und einer Spezifität von 94 Prozent (31). Mit den beiden Altersgruppen wird die Abhängigkeit der Effektivität von der Prävalenz verdeutlicht. Bei etwa 20 Neuerkrankungen von 50 bis 55 Jahren sind 10 richtig positive Befunde durch wei- tere Diagnostik aus insgesamt 6 000 positiven Testergebnissen herauszufiltern, was durch den prädiktiven Wert von 0,15 Prozent beschrieben wird.

MEDIZIN

notwendig werdenden Versorgung ei- ne operationsbedingte Letalität von einem Prozent angenommen wird (31), ist beim Start eines solchen Screening-Programms mit etwa 1000 zusätzlichen, allein operationsbeding- ten Sterbefällen von Patienten zu rechnen, die fast alle nicht am PK ge- storben wären.

Welche Ergebnisse sind bei Re- screening zu erwarten? Mettlin (42) erreichte beim dritten Screening im Jahresabstand eine Entdeckungsrate von einem Prozent (Abbildung 7, An- nahme 3), das etwa Achtfache zum Status quo in Deutschland. Der PPW sinkt gegenüber dem Erstscreening von 18,3 Prozent auf 9,9 Prozent, das heißt, — für die Praxis relevant — nicht jede fünfte, sondern jede zehnte Biopsie ist positiv.

Diese heute bekannten Fakten begründen die ethische Problematik (1, 54). Wenn die Neuerkrankungs- zahlen verachtfacht werden, ist auch für Behandlungskomplikationen (31, 32) wie Impotenz (25 Prozent), Inkon- tinenz (6 Prozent), Urethrastriktur (18 Prozent) (für führende Zentren in den USA wurden von Fowler [19] bei Me- dicare-Patienten wesentlich höhere Komplikationsraten ermittelt) eine Steigerung zu erwarten. Das Dilemma besteht darin, daß Leiden und frühzei- tiger Tod weniger durch vermehrte Behandlungskomplikationen und er- höhten Betreuungsaufwand vieler er- reicht werden kann.

Wie wirkt sich Screening auf Stadienverteilung und Mortalität aus?

Bevölkerungsbezogen kann für Deutschland eine Stadienverteilung angenommen werden, bei der jeweils ein Drittel der Patienten sich in einem prognostisch günstigen, einem mittle- ren und in einem ungünstigen Stadi- um mit positiven Lymphknoten bezie- hungsweise Metastasen (17 Prozent) befinden (Abbildung 9). Dafür ergibt sich eine durchschnittliche Überle- bensrate von etwa 62 Prozent. Mit ei- nem DRE- oder PSA-Test wird eine Verdoppelung der T1-2NOMO-Sta- dien und eine Reduktion der fortge- schrittenen Stadien auf 10 Prozent an- genommen (46). Insgesamt würde

AKTUELL

sich bei dieser optimistischen Annah- me eine Verbesserung des Survivals auf 80 Prozent ergeben, eine Senkung der Mortalität über 50 Prozent. Da für fortgeschrittene Stadien eine media- ne Überlebenszeit unter drei Jahren anzunehmen ist und diese Stadien vielleicht zwei Jahre früher erkannt werden, müßte spätestens fünf Jahre nach Screening-Beginn eine 25-Pro- zent-Reduktion der Mortalität er- reicht sein. Zu beachten ist, daß die relative Überlebensrate rechnerisch weit über 90 Prozent ansteigt, wenn eine Entdeckungsrate um 1 Prozent (Abbildung 7, Annahme 3) erreicht wird, auch wenn sich die Mortalitäts- raten nicht verändern.

Es gibt zu denken, wenn trotz der epidemischen Zunahme in den USA im Dezember 1993 ein Meeting zum Screening und zur Behandlung der et- wa 30 bis 40 Prozent fortgeschrittenen Stadien abgehalten wurde (44), das heißt, eine nennenswerte Reduktion prognostisch ungünstiger Stadien bis- her offensichtlich noch nicht erreicht wurde. Zur Effektivität (und zur Ethik) des Screenings ist weiter abzu- klären, wieviel Prozent der Männer nicht am Screening teilnehmen, gleichzeitig bezüglich Frühsympto- matik indolent sind und vielleicht mit

überproportionalem Anteil zu den vermeidbaren Sterbefällen beitragen.

Dann würde die eigentliche Risiko- zielgruppe mit früh entdeckbaren PK durch das Screening nicht erreicht.

Bezüglich der geringen Auswir- kung auf die Mortalität ist zu beach- ten, daß in den USA mindestens mit 10 Prozent klinisch nicht relevanten Erkrankungen gerechnet wird. Wer- den die relevanten Erkrankungen et- wa fünf Jahre früher im mittleren Al- ter von 67 Jahren entdeckt, so würden in dieser durch das Screening vorver- legten Zeit etwa 17 Prozent an kon- kurrierenden Risiken sterben. Weite- re 15 Prozent sterben in der asympto- matischen Phase ihrer Erkrankung (etwa drei Jahre), und selbst in der palliativen Phase (2,5 Jahre) sind dann im Mittel ab 75 Jahre 15 Prozent zusätzliche Sterbefälle anzusetzen — das mittlere Sterbealter am PK liegt bei etwa 78 Jahren (57).

Das ergibt weitere 47 Prozent entdeckte Erkrankungen, die ohne Screening für die Betroffenen zu kei- ner Einschränkung ihrer Lebensqua- lität geführt hätten.

Damit würden schon 57 Prozent der Diskrepanz zwischen den heute 17 000 bis 21 000 in Deutschland ent- deckten und den 104 000 mit einem A-1846 (44) Deutsches Ärzteblatt 92, Heft 25/26, 26. Juni 1995

(6)

ein Prostatakarzinom wird diagnostiziert

DRE oder positiv 18.500 PSA > 4 ng/ml negativ 3.500 22.000

nicht nachweisbar 830.000 9,57 Mio.

10,40 Mio.

positiv 930.000

negativ

208.000

10,10 Mio.

42.000

250.600 10,15 Mio.

ein Prostatakarzinom

Wird diagnostiziert nicht nachweisbar

ein Prostatakarzinom wird diagnostiziert

DRE oder positiv 104.000 PSA > 4 ng/ml negativ 20.000 124.000

nicht nachweisbar 950.000 10,17 Mio.

10,28 Mio.

Wirkung des Screening unter 3 Modellannahmen Annahme 1:

Es werden nur die heute zu erwartenden PK-Neuerkrankungen 5 Jahre früher diagnostiziert: 18.500 oder 0,18 % PK.

Positiver prädiktiver Wert 2,2 % (jede 46. Biopsie ist positiv).

Annahme 2:

Es werden beim Erst-Screening 2 % PK-Neuerkrankungen entdeckt.

DRE oder PSA > 4 ng/mi

Positiver prädiktiver Wert 18,3 % (jede 5. Biopsie ist positiv).

Annahme 3:

Es werden beim Re-Screening 1 % PK-Neuerkrankungen entdeckt.

Positiver prädiktiver Wert 9,9 % (jede 10. Biopsie ist positiv).

Abbildung 7: Die Wirkung des Screenings mit DRE oder PSA (> 4 ng/I) als positives Testergebnis auf die Screeningpopulation von 10,4 Millionen Männern im Alter von 50 bis 75 Jahre (Sensitivität 84 Prozent, Spe- zifität 92 Prozent). Drei Annahmen werden gegenübergestellt.

systematischen Rescreening entdeck- baren PK erklärt (Abbildung 7). Zu- gleich ist aber mit der Dauer des asymptomatischen PK-Verlaufs der Aspekt angedeutet, der wahrschein- lich sehr unterschätzt wird und den Faktor 2 zwischen Erst- und Re- Screening teilweise erklären könnte (Abbildung 7). Watchful waiting dürf- te zum Verständnis der Biologie und des Verlaufs von PK wertvolle Beiträ- ge liefern.

Therapeutische Strategien

Die dritte Anforderung an ein Screening-Verfahren — neben einem entdeckbaren asymptomatischen Sta- dium und einem geeigneten Test — be- trifft die geeignete und anzuwenden- de Therapie, die früh entdeckten Pati-

enten eine größere Überlebenschan- ce sichern soll. Dies ist durch Daten zu belegen. Für primär metastasierte Patienten liegt die relative 5-(10)-Jah- res-Überlebensrate (JÜLR) bei 28 Prozent (10 Prozent), für alle nicht metastasierten Patienten bei 90 Pro- zent (70 Prozent). Für T1NOMO wer- den 110 Prozent (das heißt besser als die Normalbevölkerung) relative 5- JÜLR erreicht. Etwa 17 Prozent aller Patienten sind primär metastasiert (USA, Weiße 1974 bis 1986: 19 Pro- zent [50]).

Die Chance, durch Screening ein prognostisch günstiges Stadium zu entdecken, wird nun durch Ergebnis- se von Studien in Frage gestellt, bei denen die Behandlung so lang als möglich hinausgeschoben wird (watchful waiting). In diesen Studien werden zur Normalbevölkerung iden-

tische Überlebensraten erreicht.

Wenn kein therapeutisches Handeln einer Frühentdeckung folgt, wäre da- mit ein Screening asymptomatischer Patienten nicht mehr zu rechtfertigen.

Die gegebenenfalls lebenslange Überwachung von weit über eine Mil- lion Männern zwecks frühzeitiger Progressionsfeststellung wäre psy- chisch und ökonomisch keine Alter- native.

Diese Schlußfolgerung erscheint unzulässig und zu einfach. Die sechs Studien, die von Chodak (13) zusam- mengefaßt wurden, sind Beobach- tungsstudien und basieren auf einem hochselektierten Patientengut. Au- ßerdem werden unfaire Vergleiche herangezogen.

Der Sachverhalt und die Proble- matik sollen anhand der bevölke- rungsbezogenen Daten des TRM skizziert werden. Zwei Prognosefak- toren, das Grading und das TNM-Sta- dium, sind beim Prostatakarzinom von Bedeutung (Abbildung 10). Für G1-Patienten werden, unabhängig von der Behandlungsmodalität, insge- samt bessere Überlebensraten beob- achtet als für die Normalbevölkerung.

Für G2-Patienten (primär MO) deutet sich nach fünf Jahren ein höheres Ri- siko an. G3-Patienten haben mit einer beobachteten 5-JÜLR von 55 Prozent eine sehr ungünstige Prognose. Im Unterschied zu Chodak (G1: 60 Pro- zent, G2: 32 Prozent, G3: 8 Prozent) ist das Grading bevölkerungsbezogen im TRM mit 20 Prozent/60 Prozent/

20 Prozent entscheidend ungünstiger verteilt.

Das Grading splittet auch die Er- gebnisse in Behandlungsuntergrup- pen auf.

Primär M0-Patienten, die aus- schließlich orchiektomiert wurden, zeigen eine relative 5-JÜLR von 83 Prozent/78 Prozent/46 Prozent für die drei Grading-Untergruppen bei einem Altersmittelwert von 74 Jah- ren. Prostatektomierte pT2NOMO-Pa- tienten haben unabhängig vom Gra- ding eine bessere Überlebenschance als die Normalbevölkerung, was die Heilungschancen dieser Behandlung belegt (Altersmittelwert 65 Jahre).

Bei pT3NOMO-Patienten gibt es wie- der auffällige Unterschiede zwischen G2 und G3 (69 Prozent/59 Prozent).

Die Daten belegen, daß in allen drei

(7)

jährliche Neuerkrankungen

klinisch relevant

frühes zu behandelndes Stadium

fortge- schrittenes zu

frühes

kein PK lebenslang latent

BPH mit erhöhtem PSA

Abbildung 8: Das Eisberg-Problem des Prostata-Screenings. Aufgrund des großen Anteils latenter Prostatakar- zinome im fortgeschrittenen Alter, die die Lebenserwartung der Männer nicht beeinträchtigen, werden durch die moderne Diagnostik — zum Teil über positive PSA bei BPH — Prostatakarzinome entdeckt (53). Da es kei- ne Unterscheidungsmöglichkeit für klinisch relevant werdende und latent bleibende Prostatakarzinome gibt, ist eine Über- oder Unterversorgung nicht vermeidbar. Die ethische Problematik liegt folglich darin, daß ein Teil der Patienten mit erheblichen Behandlungskomplikationen rechnen muß, die ohne Screening nicht einmal er- krankt wären.

Stadienverteilung

Survival - 80 % ohne Vergrößerung

der Patientenzahl Stadien-

spez.

Survival 20 %

70 %

95 %

vor dem Screening

durch das Screening T-N-M1 T-N+MO

10%

T3-4NOMO 30 % T1-2NOMO

60 % T-N-M1

T-N+MO 33 % T3-4NOMO

34 % T1-2NOMO

33 % Survival - 62 %

klinisch nicht relevant MEDIZ IN

Grading-Untergruppen lebensbedro- hende Metastasierungen auftreten können (Chodak 19 Prozent/42 Pro- zent/74 Prozent [13]) und eine radika- le Behandlung bei einer lokal be- grenzten Erkrankung deshalb eine le- bensrettende Maßnahme ist (16, 36).

Die systematischen Fehler von Beobachtungsstudien

Trotzdem ergeben sich für die tu- morbedingten Überlebensraten bei 61-2-Karzinomen zur Normalbevöl- kerung vergleichbare Ergebnisse. Da bisher keine randomisierte Studie zwi- schen watchful waiting und Prostatek- tomie vorgelegt wurde (eine schwe- disch-finnische Studie SPC64 ist in der Rekrutierphase [29]), ist eine sorgfäl- tige Interpretation möglicher Fehler- quellen unerläßlich. Drei systemati- sche Fehler, die alle zu einer Über- schätzung der Watchful-waiting-Er- gebnisse führen, stellen die Aussage- kraft dieser Beobachtungsstudien in Frage. Der length time bias bewirkt, daß die in einer Screening-Maßnahme früher entdeckten Erkrankungen gün- stigere Prognosefaktoren aufweisen.

Im TRM sind unter den in einer TUR nachgewiesenen PK 2,6mal so viele

AKTUELL

G1-Karzinome (50 Prozent). Weil im fortgeschrittenen Alter mehr G1-2- Prostatakarzinome entdeckt werden, ist der prozentuale Anteil der G3 klei- ner als bei jüngeren Patienten.

Der lead time bias, die Vorverle- gung des Diagnosezeitpunktes durch Screening, führt ebenfalls zu längeren Überlebenszeiten, auch wenn kein Patient zusätzlich geheilt würde. Bei T1-2NOMO-Patienten ist die mediane tumorfreie Zeit für alle Behandlungs-

Abbildung 9: Hypotheti- sche Stadienverschie- bung durch ein systema- tisches Screening. Wenn keine zusätzlichen Pati- enten diagnostiziert werden, steigt der Anteil der Patienten im pro- gnostisch günstigen Sta- dium und sinkt im pro- gnostisch ungünstigen.

Dies muß sich in einem Rückgang der Mortalität auswirken, die beim PK in spätestens fünf Jah- ren mehr als 25 Prozent betragen müßte. In Deutschland und den USA nimmt dagegen die Mortalität leicht zu.

modalitäten mehr als ein Jahr länger als bei T3-4NOMO-Patienten.

Der dritte systematische Fehler resultiert aus fehlenden Kontroll- gruppen und dem ersatzweisen Ver- gleich zur Normalbevölkerung. Es ist zu fragen, inwieweit PK-Patienten re- präsentativ für die Normalbevölke- rung sind. Wenn in verschiedenen Un- tergruppen die relativen Überlebens- raten entscheidend günstiger sind als in der Normalbevölkerung, so ist dies ein Hinweis, daß PK-Patienten ohne die Erkrankung eine überdurch- schnittliche Lebenserwartung hätten.

Analysen der TRM-Daten nach Stadtbezirken stützen diese Annah- me. Jeder Arzt kann aus der eigenen Erfahrung bestätigen, daß in sozial höheren Schichten das Gesundheits- bewußtsein ausgeprägter ist, häufiger der ärztliche Rat gesucht oder eine PSA-Untersuchung verlangt wird.

Diese bessere Screening-Compliance führt folgerichtig zu einer überdurch- schnittlichen Repräsentation dieser Schicht unter den Patienten. Wie für die USA oder England nachgewiesen, haben höhere soziale Schichten eine über dem Durchschnitt liegende Le- benserwartung (37). Wenn nach Cho- dak bei G2-Patienten 42 Prozent pro- gredient sind und zur durchschnittli- chen Lebenserwartung kein Unter- schied besteht, spricht dies für die Hy- pothese der Selektion von Patienten mit höherer Lebenserwartung. Wird für watchful waiting die Vergleichbar- keit zur Normalbevölkerung belegt,

A-1850 (48) Deutsches Ärzteblatt 92, Heft 25/26, 26. Juni 1995

(8)

2 3 5 6 Jahre

7 8 9 1 0 11

Natürliches Absterben der männlichen Bevölkerung mit Altersstruktur wie MO- Patienten

60 - 100

80

40 - 20 - 0

-0- 01 (n=598) - - G2 (n=1680) -o- G3 (n=598) - erwartet (n=3223)

-

Abbildung 10: Die Überlebenswahrscheinlichkeit für alle primär metastasenfreien, nach dem Grading grup- pierten Prostatakarzinompatienten zeigt, daß nur die etwa 20 Prozent G3-Patienten signifikant von der Le- benserwartung der Normalbevölkerung abweichen. Allerdings sind alle Patienten nach den heute üblichen, den Befundkonstellationen angepaßten Therapiestandards behandelt worden. Vergleichbare Ergebnisse für die Watchful-waiting-Strategie hat Chodak vorgelegt (11).

so liegt dieser Durchschnittswert un- ter der Lebenserwartung dieser hoch- selektierten Kohorte von PK-Patien- ten. Der Verlust ist dann durch das PK bedingt. Durch diesen unfairen Ver- gleich dürfte Chodak den Effekt der Prostatektomie sehr unterschätzen beziehungsweise watchful waiting überbewerten.

Resümee

Weder eine Aktivierung noch ei- ne Rücknahme des Früherkennungs- angebotes ist zur Zeit wegen der vie- len wissenschaftlich offenen Fragen indiziert. Bis heute gibt es für das Screening keinen zufriedenstellenden Test oder Testkombination, um die PK in einem frühen, behandelbaren Stadium zu entdecken, die ohne Be- handlung zu einem PK-bedingten Tod führen würden. Mit den modernen diagnostischen Möglichkeiten wer- den zunehmend mehr Patienten ent- deckt, behandelt und müssen zum Teil erhebliche Komplikationen in Kauf nehmen, damit vielleicht einige weni- ge PK-bedingte Sterbefälle verhin- dert werden. Dies begründet zum ei- nen die aktuelle Forderung, daß Män- ner, die sich einer Screening-Untersu- chung unterziehen, angemessen ent- sprechend der Deklaration von Hel- sinki über Experimente am Menschen aufgeklärt werden sollten (1, 54). Daß erst jetzt in den USA in einer Studie mit einer Laufzeit von über zehn Jah- ren der Nutzen des PK-Screenings ge- prüft wird (45), unterstreicht den un- kontrollierten experimentellen Cha- rakter des Status quo der Früherken- nung in Deutschland. Ethisch ist es in dieser Situation ein Unterschied, ob die Screeninginitiative vom Patienten oder vom Arzt ausgeht (38).

Wenn aufgrund der modernen Diagnostik die Patientenzahlen mit G1-2-Tumoren wie in den USA durch intensive Werbung für Screening ver- vielfacht werden, so ist des weiteren zu bedenken, daß wegen der Operati- onsletalität und der erheblichen Komplikationen die heute indizierte Prostatektomie für klinisch manifeste PK sehr wahrscheinlich einge- schränkt werden müßte. Eine solche Konsequenz läßt sich mit den Metho- den der Entscheidungstheorie über

Nutzenfunktionen objektivieren (5, 18, 43, 45, 56, 30). Die notwendige Entscheidung würde dann politisch getroffen. Dies würde aber gegenüber dem Status quo zu einer Verschlechte- rung der Versorgung für klinisch rele- vante G2-Patienten führen.

Eine zu den USA vergleichbare Inzidenzsteigerung zeichnet sich auch für Deutschland ab. Deshalb befindet sich das PK-Screening in einer Sack- gasse. Seit mehr als 20 Jahren wird Screening in Deutschland empfohlen, ohne daß die Wirksamkeit belegt wurde. Diese unkritische Haltung ist zu überwinden. Es ist überfällig, daß bevölkerungsbezogene Versorgungs- daten erarbeitet und für rationale Entscheidungen vorgelegt werden (2, 15, 19, 22, 26, 28, 51, 52, 62, 63, 64, 29, 33, 49):

D Nehmen die Neuerkran- kungszahlen wirklich zu?

D Geht dabei der Anteil der fortgeschrittenen Stadien zurück?

D Wie groß sind die Komplika- tionsraten nach radikaler Operation, bevölkerungsbezogen und nicht im Patientengut führender Kliniken?

D Sind die Biopsietechniken und die Reliabilität des Grading-Be- fundes zu verbessern?

D Bringen PSA-Dichtemessun- gen, bezogen auf die Prostatagröße, eine Verbesserung?

D Erhöhen altersspezifische Normwerte die Treffsicherheit?

D Wie ist watchful waiting für G1-PK zu operationalisieren?

D Reichen die bekannten Pro- gnosefaktoren für eine risikoadap- tierte Früherkennung?

Das PK-Screening ist ein Bei- spiel, daß klinische Forschung die ent- scheidende Rolle für versorgungsrele- vante Entscheidungen solcher Trag- weite spielen muß. Nur so läßt sich ein Weg aus der Sackgasse finden. 1994 werden in den USA etwa 40 Millionen Dollar für PK-Forschung, 250 Millio- nen US-Dollar für die Brustkrebsfor- schung ausgegeben (23). In Deutsch- land werden zwar Milliarden für die Versorgung ausgegeben, aber die Fi- nanzierung versorgungsrelevanter kli- nischer Experimente und experimen- teller Therapien wird zunehmend schwieriger.

Eine rationale Gesundheitsver- sorgung ist nur durch eine finanziell gesicherte klinische Forschung zu er- reichen. Dieser rationalen Bewertung muß sich auch gesundheitspolitisch wünschenswertes Handeln unterord- nen. Auf das PK bezogene Bonus- oder Maluskonzepte wären zur Zeit ethisch nicht vertretbare unkontrol- lierte Eingriffe in die Gesundheitsver- sorgung. Diese Eingriffe würden auch die Dynamik innovativen ärztlichen Handelns verkennen, woraus eine permanente kritische Überprüfung als wesentlicher Teil der Versorgung resultiert.

(9)

Präventionsmaßnahmen wie die Veränderung der Ernährungsge- wohnheiten, eine Einschränkung des Tabak- und Alkoholkonsums oder ei- ne Steigerung körperlicher Aktivitä- ten berechtigen zu der Hoffnung, daß jeder einzelne davon profitiert — weni- ger das Gesundheitssystem, wenn bei- spielsweise Lungenkrebs oder Herz- infarkt vermieden werden. Beim Prostatakarzinom-Screening sind je- doch aufgrund der Entwicklungen in den USA große Zweifel am Nutzen der Früherkennung für den einzelnen zur Zeit berechtigt. Eine systemati- sche Intensivierung des Screenings in Deutschland ist deshalb beim heuti- gen Wissensstand nicht angezeigt. Im Gegenteil, eine individuelle Auf- klärung über die Folgen des Scree- nings — wie vor jeder Operation — ist notwendig, wenn ein Patient eine Früherkennungsuntersuchung wünscht. Die anstehende empirische Überprüfung könnte dazu führen, das Prostatakarzinom-Screening auf- grund der heutigen sensitiven Dia-

MEDIZIN AKTUELL/KOMMENTAR

gnostik in das Arsenal der Utopien abzuschieben — vorübergehend, bis zur Verfügbarkeit besserer, in Studien geprüfter Risiko- und Prognosefakto- ren für ein effizienteres Screening.

Zitierweise dieses Beitrags:

Dt Ärztebl 1995; 92: A-1839-1854 [Heft 25/26]

Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis im Sonderdruck, anzufordern über die Verfasser.

Anschrift für die Verfassen Prof. Dr. rer. biol. hum.

Dieter Hölzel

Leiter des Tumorregisters München Institut für Medizinische

Informationsverarbeitung Biometrie und Epidemiologie Marchioninistraße 15

81366 München

Mitglieder der Arbeitsgruppe

„Urologie" im TRM sind:

Prof. Dr. med. J. Altwein, Dr. med.W. Schneider, Krankenhaus der Barmherzigen Brüder Prof. Dr. med. P. Carl, Krankenhaus Deggendorf Prof. Dr. med. Ch. Chaussy, Dr. med. St. Thüroff,

Städtisches Krankenhaus Harlaching Prof. Dr. med. R. Hartung,

PD Dr. med. H. Leyh, Klinikum rechts der Isar TU Prof. Dr. med. D. Hölzel,

Klinikum Großhadern, IBE, LMU Prof. Dr. med. A. Hofstetter, Prof. Dr. med. N. Schmeller, Klinikum Großhadern, LMU Dr. med. G. M. Praetorius, Dr. med. S. Helmus, Urologische Klinik Planegg Dr. med. K.-H. Rothenberger, Städtisches Krankenhaus Landshut Prof. Dr. med. A. Schilling, Dr. med. St. Gänsheimer,

Städtisches Krankenhaus Bogenhausen

Prostata-Screening

ciralc Schulze ürgen SöKelanc

F

rüherkennungsmaßnahmen zur Erkennung des Prostatakarzi- noms, so wie sie derzeit in den Vereinigten Staaten von Ame- rika, aber auch in Deutschland weit- gehend vorgenommen werden, finden nicht nur Befürworter. Gegner aus den Reihen der Epidemiologen, aber auch der Urologen kritisieren, daß der nachweisbare Häufigkeitsanstieg der Prostatakarzinome im wesentli- chen auf den Nachweis von kleinen Tumoren mit geringer maligner Po- tenz zurückzuführen sei.

Dabei ist das Prostatakarzinom die zweit- bis dritthäufigste Krebser- krankung aller Männer in den westli- chen Industriestaaten. Bei fehlendem nationalen Krebsregister kann man

davon ausgehen, daß in Deutschland derzeit etwa 10 000 Männer jährlich an den Folgen dieses Tumors sterben.

Bis vor wenigen Jahren war die digito-rektale Untersuchung die ein- zige, in ihrer Effektivität sehr einge- schränkte Methodik, ein Prostatakar- zinom frühzeitig zu erkennen. Durch die routinemäßige Bestimmbarkeit des prostataspezifischen Antigens (PSA) hat sich in Kombination mit der Palpation eine wesentlich effekti- vere Früherkennungsmaßnahme er- geben.

Die Aktualität des Themas wird auch aus einer Veröffentlichung einer amerikanischen Zeitschrift im No- vember 1994 deutlich, in der die Er- kennung und Behandlung der Früh- stadien des Prostatakarzinoms einschließlich epidemiologischer Da- ten, der Lebensqualität und der Pro- gnose unter den verschiedenen The- rapieregimen behandelt wurden (1).

Das Problem

1935 beschrieben Rich und Mor- re unabhängig voneinander in Autop- siestudien erstmals die Prävalenz und die histologische Verteilung von zu Lebzeiten unauffällig gebliebenen Prostatakarzinomen.

Diese Tumoren werden als laten- te Prostatakarzinome bezeichnet.

Hiervon abzugrenzen sind inzidente Prostatakarzinome, die bisher defi- niert waren als klinisch unentdeckte Tumoren, die zufällig in einem trans- urethralen Resektions- oder Ekto- miepräparat bei operativer Behand- lung einer benignen Prostatahyper- plasie histologisch gefunden werden.

Heute werden in diese Gruppe auch noch die Tumoren eingestuft, deren histologische Sicherung auf- grund einer PSA-Erhöhung bei un- auffälligem Tastbefund erfolgte. In Abhängigkeit vom Tumorvolumen ist A-1854 (52) Deutsches Ärzteblatt 92, Heft 25/26, 26. Juni 1995

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