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Archiv "Gesundheitssicherung: Deutschland - Kein Mittelmaß" (01.03.2002)

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D

as deutsche Gesundheitswesen ist bei einer objektiven Analyse sämt- licher für die Gesundheitssiche- rung relevanten Daten, der Epidemiolo- gie, des Ressourcen-Einsatzes, der Ko- sten-Nutzen-Relation der Outcome-Ef- fekte und der Sozialabgabenquote im in- ternationalen Vergleich nicht so schlecht, wie dies unter dem Hinweis auf interna- tionale Vergleichsstudien (OECD-Studi- en, WHO-Report über Effizienzanaly- sen im internationalen Vergleich) oft- mals behauptet wird. Andererseits gibt es in Deutschland zum Teil Über-, Fehl- und Unterversorgung, vor allem Wirt- schaftlichkeitsreserven und Effizienz- schwächen, die dringend behoben wer- den sollten. Die rasch fortschreitende eu- ropäische Integration und Harmonisie- rung des europäischen Sozial- und Ge- sundheitsrechts erfordern gravierende Anpassungsprozesse, die durch entspre- chende gesetzliche Rahmenbedingun- gen begünstigt werden sollten. Dies ist die Quintessenz einer Problemanalyse und einer perspektivischen Beurteilung des aktuellen Problemhaushalts der Ge- setzlichen Krankenversicherung (GKV), die der National- und Gesundheitsöko- nom Prof. Dr. rer. pol. Eberhard Wille, Universität Mannheim, stellvertretender Vorsitzender des Sachverständigenrates für die Konzertierte Aktion im Gesund- heitswesen, am 1. Februar bei einer Ex- pertenrunde der Bertelsmann-, Heinz Nixdorf- und Ludwig-Erhard-Stiftung in Hamburg erläuterte.

Das deutsche System der gesund- heitlichen Sicherung habe gegenüber ausländischen, steuerfinanzierten na- tionalen Gesundheitsdiensten den gro- ßen Vorzug, dass es trotz administrati- ver und straffer gesetzlicher Rahmen- bedingungen relativ liberal sei und eine pluralistische, gegliederte Versorgungs- und Organisationsstruktur aufweise.

Das Prinzip der Freiberuflichkeit der

Heilberufe und das Postulat der freien Arztwahl sind bisher unangetastet. Zu- dem sind in der Krankenversicherung die Eintritts- und Beanspruchungsbar- rieren relativ niedrig. Es gebe noch kei- ne offenen Rationierungsmaßnahmen.

Wartelisten und Versorgungsausschlüs- se vor allem im stationären Sektor, wie dies in den skandinavischen Ländern und beispielsweise im National Health Service Großbritanniens seit langem der Fall ist, sind hierzulande weitge- hend unbekannt.

Kostendämpfung: Nur kurzfristig wirksam

Eine Analyse der Ausgabenentwick- lung seit 1970 zeigt: Mit Einsetzen der anhaltenden Stafette von inzwischen mehr als 50 interventionistischen Ko- stendämpfungs- und Strukturreformge- setzen ab Mitte 1977 gingen die Ausga- ben der GKV ab Wirksamwerden der Maßnahmen abrupt, zum Teil drama- tisch zurück, um nach zwei bis drei Jah- ren wieder auf erhöhtem Niveau einen überproportionalen Ausgabenanstieg an den Tag zu legen. Trotz des Gebotes der Beitragssatzstabilität, der einnah- menorientierten Ausgabenpolitik der Krankenkassen und der Ausgaben- deckelung über sektorale Budgets in den letzten sechs Jahren stieg der durchschnittliche Beitragssatz der GKV in den Jahren 1970 bis 2000 von acht auf heute fast 14 Prozent. Dabei ist zu berücksichtigen, dass ab Einführung der arbeitsrechtlichen Lohnfortzahlung auch für Arbeiter in den ersten sechs Wochen der Erkrankung das bisher von den Krankenkassen gezahlte Kranken- geld ab Beginn des Jahres 1970 auf die Arbeitgeber „umgebucht“ wurde.

Auch die Ausgabenanteile in der GKV, je nach Behandlungsart (alte

Bundesländer), haben sich in den letz- ten 30 Jahren verschoben: So gingen die GKV-Ausgabenanteile für die ambu- lante ärztliche Behandlung von 22,7 über 18,4 in 1989 auf den heutigen Tiefststand von 17,7 Prozent zurück.

Ebenfalls niedriger ist heute der Anteil, der auf die Behandlung durch Zahnärz- te entfällt. 1970 lag dieser Anteil noch bei 7,2 Prozent, heute hingegen liegt er bei 6,1 Prozent. Auch der Anteil der Ausgaben für Arzneimittel sank seit 1970 (17,7 Prozent) kontinuierlich bis zum Jahr 2000 auf 14,9 Prozent – ob- wohl im vergangenen Jahr die GKV mehr als zehn Prozent Ausgabenplus in diesem Sektor zu verzeichnen hatte.

Dagegen stieg der Anteil, der auf die Ausgaben für Heil- und Hilfsmittel ent- fiel, von 2,8 (1970) auf heute 6,3 Pro- zent. Verringert hat sich der Ausgaben- anteil für Zahnersatz, und zwar von 3,5 Prozent im Jahr 1970 auf 2,8 Prozent.

Dagegen stieg der Ausgabenanteil der GKV für die stationäre Behandlung von 25,2 Prozent im Jahr 1970 auf heute rund 35 Prozent (im Jahr 2000). Dabei muss berücksichtigt werden, dass bei den Ausgaben für stationäre Leistungen, die im Krankenhaus verordneten Medika- mente miteingerechnet sind (Grafik).

Beim internationalen Vergleich der Entwicklung der Gesundheitsausgaben je Kopf der Bevölkerung liegt Deutsch- land unter 24 Ländern auf einem Durchschnittsplatz. In Deutschland be- liefen sich die Durchschnitts-Pro-Kopf- Ausgaben im Jahr 1998 auf 2 361 DM, der Durchschnitt der 24 Länder betrug 1 009 DM im Jahr 1998 und 2 238,30 DM im Jahr 1999. Höher als in Deutschland waren die Ausgaben je Kopf der Bevölkerung in der Schweiz (2 853 DM), in Kanada (2 360 DM; Jahr 1999: 2 463 DM), in Luxemburg (2 543 DM) und in den USA mit 4 358 DM.

Die Gesundheitsquoten (Anteil der Ausgaben für die Gesundheitssiche- rung, gemessen am Bruttoinlandspro- dukt) sind in den 24 untersuchten Län- der sehr unterschiedlich. Sie haben eine Streubreite von fast acht Prozentpunk- ten. Deutschland liegt mit einem Anteil von 10,5 Prozent (in 1999) auf einem vorderen Platz, lediglich von den USA, die ein marktwirtschaftliches, nicht sozi- alversicherungswirtschaftliches Gesund- heitssicherungssystem haben (außer T H E M E N D E R Z E I T

A

A548 Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 99½½½½Heft 9½½½½1. März 2002

Gesundheitssicherung

Deutschland: Kein Mittelmaß

Sachverständiger Professor Eberhard Wille

plädiert für Effizienzverbesserung.

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Medicaid und Medicare), mit rund 14 Prozent übertroffen.

Die Durchschnittsquote für die Fi- nanzierung der Gesundheitssicherung in 24 Ländern liegt bei 8,3 Prozent. 1995 lag die Ausgabenquote für die Gesund- heitssicherung in Deutschland gleich- auf mit der Quote aller OECD-Länder, jedoch unterhalb der von Australien und der von 15 europäischen Staaten.

Wegen der sinkenden Lohnquote, der anhaltend hohen Arbeitslosigkeit und des häufigen Wechsels zwischen abhängiger Berufstätigkeit und Selbst- ständigkeit blieben

die beitragspflich- tigen Einnahmen der Krankenkas- sen (Grundlohn- summe) ab 1985 je- weils einige Pro- zentpunkte unter der Wachstums- kurve des Brut- toinlandsprodukts.

So ist das Bruttoin- landsprodukt 1998 im Vergleich zu 1980 (alte Bundes- länder) auf 128,15 Prozent geklettert, wohingegen die bei-

tragspflichtigen Einnahmen der Kran- kenkassen auf dem Niveau von 101,65 Prozent verharrten.

Sechs Gründe für die Unterfinanzierung

Die Ursachen der Unterfinanzierung und Defizite der Krankenversicherung und der relativ schwachen Einnahmen- basis der Krankenkassen führt Wille auf sechs Haupteinflussgrößen zurück:

❃ Beitragsausfälle wegen der hohen strukturellen Arbeitslosigkeit;

❃ abgeschwächtes Wachstum der versicherungspflichtigen Arbeitsentgel- te, unter anderem infolge der veränder- ten Arbeitsverhältnisse und der Ver- schiebung der Knappheitsverhältnisse zwischen den Produktionsfaktoren Ar- beit und Kapital – auch infolge der Globalisierung;

❃ wachsender Anteil der Rentner und der defizitären Rentnerkranken- versicherung;

❃ vorgezogene Verrentungen und längere Lebens- und Verrentungszeit;

❃ geringere Steigerungsraten der Altersrenten;

❃ Möglichkeit, die Krankenkasse frei zu wählen und von einer relativ teuren Krankenkassen zu einer Kasse mit ei- nem relativ niedrigen Beitragssatz zu wechseln.

Als Haupteinflussgröße für den überproportionalen Ausgabenanstieg im Gesundheitswesen hat Wille den medizinischen und medizinisch-techni- schen Fortschritt ausgemacht. Dage-

gen hat die Einflussgröße Alterskom- ponente (Demographieverschiebun- gen) nur geringen Einfluss auf den Ausgabentrend – schätzungsweise zwei Prozent. Ausgabensteigernd wirken sich auch Preissteigerungen im arbeits- und lohnintensiven Gesundheitswesen aus (so genannter negativer Preis- Struktur-Effekt). Die angebotsindu- zierte Nachfrage und die fast unbe- schränkten gesetzlich verbrieften An- sprüche der Versicherten sind ein wei- terer kostenauslösender Faktor. Hinzu kommt: Die langwierigen, chronisch degenerativen Krankheitszustände ha- ben in den letzten Jahren erheblich an Gewicht zugenommen. Gleichzeitig er- höhte sich die Lebenserwartung. Die Folge: Verschiebung in der Bevölke- rungsstruktur mit einer Zunahme von älteren und multimorbiden Patienten.

Auch führt das intransparente und kaum kontrollierbare Versicherungssy- stem zu Moral Hazard-Effekten der Versicherten und Leistungserbringer zulasten der Krankenversicherung.

Ausgabendrosselung:

Weiter akut

Aktionsparameter zur Ausgabenbe- schränkung und zur Bekämpfung dro- hender Budgetdefizite:

❃ Ausschöpfung von Wirtschaftlich- keitsreserven einschließlich des Ab- baus von strukturellen und sektoralen Überkapazitäten (vor allem im sta- tionären Sektor; Begrenzung der Zahl von Medizinstudenten und anderes);

❃ Aufbau einer zusätzlichen kapital- gedeckten Krankheitsvorsorge entwe- der im Rahmen der gesetzlichen oder privaten Absicherung;

❃ Beitragssatzerhöhungen;

❃ Ausweitung der Direktbeteiligun- gen und Erprobung von Hausarzttari- fen, Boni, Selbstbehalten und Beitrags- rückerstattungen (ähnlich wie in der privaten Krankenversicherung);

❃ Beschränkung des GKV-Lei- stungskatalogs und Verbreiterung der Beitragsbemessung neben der Bezugs- basis Lohn/Gehalt. Auch Rationierun- gen sind denkbar.

Die europäische Harmonisierung und Integration erfordern nach Wille folgende Maßnahmen:

❃ Einführung des Kostenerstat- tungsverfahrens neben dem in der GKV dominierenden Sachleistungsver- fahrens – zumindest als Option;

❃ Übergang zur einem System von Festpreisen als Honorare für Leistungs- erbringer (statt floatender Punktwer- te);

❃ verschärfte Maßnahmen zur Qua- litätssicherung, die europaweit gelten müssten;

❃ intensivierter Leistungs- und Preis- wettbewerb sowie Implementierung von analogen Rahmenbedingungen für die Berufsausübung und auf dem Ge- biet des Marketings und der Werbung.

Dagegen dürften Maßnahmen der Bedarfsplanung und von Zulassungsbe- schränkungen für Vertragsärzte mittel- fristig ohne die erhofften Wirkungen bleiben. Auch eine erweiterte Budge- tierung und Mengenbegrenzungen ließen sich kaum noch mit einem ver- tretbaren Planungsaufwand realisieren.

Die Kassenärztlichen Vereinigungen seien nicht in der Lage, das Volumen der veranlassten Leistungen in toto zu steuern. Dr. rer. pol. Harald Clade T H E M E N D E R Z E I T

Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 99½½½½Heft 9½½½½1. März 2002 AA549

Grafik Ausgabenträger: insgesamt 525 Milliarden DM

private

PKV GKV GRV GUV GPV Arbeit- öffentliche

Haushalte geber Haushalte

49,8 30,1 241,5 35,9 15,0 31,0 67,6 54,1

9,5 % 5,7 % 46,0 % 6,8 % 2,9 % 5,9 % 12,9 % 10,3 %

Selbstbe- Betriebs-

Steuern

teiligung Prämien Sozialabgaben ausgaben

und private Ausgaben

Finanzierungsformen

Abkürzungen: PKV= Private Krankenversicherung; GKV= Gesetzliche Krankenversicherung; GRV = Gesetzliche Rentenversicherung;

GUV = Gesetzliche Unfallversicherung; GPV = Gesetzliche Pflegeversicherung

Quelle: Zusammengestellt nach Statistisches Bundesamt, Ausgaben für Gesundheit 1970 bis 1998, Stuttgart 2001, S. 20, 97 und 98

Ausgaben für Gesundheit nach Ausgabenträgern und Finanzierungsfor- men im Jahr 1998 (Gesamtdeutschland)

Referenzen

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