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Archiv "Dr. Anatolij Korjagin: Es gibt immer noch Gewissensgefangene" (21.05.1987)

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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ach den uns im Lande vor- liegenden Informationen werden Andersdenkende immer noch mit Hilfe der Psychiatrie verfolgt. Mir sind einige Fälle aus dem Jahre 1986 bekannt, in denen Menschen in psychiatri- schen Anstalten „behandelt" wur- den, weil sie einen Fluchtversuch unternommen hatten, in eine aus- ländische Botschaft gegangen sind oder „unpassende" Äußerungen ge- tan haben. Bis heute werden An- dersdenkende psychiatrisch zwangs- behandelt, und mit ihnen geht man bei weitem nicht so um wie mit den Kranken

Mir wurde zum Beispiel mitge- teilt, daß vom 6. auf den 7. März in der psychiatrischen Anstalt Nr. 1 in Tscheljabinsk Nisametdin Achme- tow von Sanitätern grausam mißhan- delt wurde. Man hatte ihn mehrere Male nach § 70 ( „antisowjetische Agitation und Propaganda" — Anm d. Übers.) verurteilt. Seit 1982 be- findet er sich unter Zwangsbehand- lung in einer psychiatrischen An- stalt. Ebenfalls seit 1982 wird der al- len seit langem bekannte Wladimir Grigorjewitsch Titow in der psychia- trischen Sonderhaftanstalt von Orel zwangsbehandelt. Trotz flehent- licher Bitten seiner alten Mutter, ihn zu entlassen, wird er weiterhin mit hohen Dosen Neuroleptika behan- delt. Weiterhin befinden sich Ger- schuni, Sergej Below und andere in psychiatrischen Anstalten.

Anatolij Korjagin Foto: dpa

Es muß hinzugefügt werden, daß die Partei noch keine öffentliche Erklärung darüber abgegeben hat, daß das oppositionelle Denken nicht weiter verfolgt wird. Die sowjetische Presse stellte den Lesern die Freilas- sung der Gewissensgefangenen als einen „humanen Akt" der Regie- rung dar. Ist sie das denn wirklich?

Es wurde stichprobenartig nur eine gewisse Zahl politischer Gefan- gener entlassen. Ein bedeutender Teil wurde aus den Lagern in Gefän- gnisse gebracht, wo sie weiterhin in menschenunwürdigen Zellen ge- quält werden. Denken denn diejeni- gen, die von „humanen Beweggrün- den" getrieben werden, etwa, daß diese Leute physisch und moralisch noch nicht genug gelitten haben in jener alptraumartigen Gefängnishöl- le mit ihren stinkenden Käfigen, und daß die Gefangenen, ihre Ehefrau- en, Kinder und Mütter in der Lage

seien, solche Qualen unbegrenzt zu ertragen? Kann man das „Huma- nität" nennen?

Im Westen ist bekannt, daß sich seit dem 23. März im Gefängnis von Tbilissi der Gewissensgefangene Tengis Gudawa in einem Hunger- streik befindet. Er protestiert damit gegen die ungesetzliche Überfüh- rung aus dem Lager in das Gefäng- nis, wo strengere Haftbedingungen herrschen. Aus Solidarität mit ihm trat am 28. März auch sein Bruder Eduard, ebenfalls ein Gewissensge- fangener, der wegen fabrizierter kri- mineller Anklage ins Straflager ge- bracht wurde, in den Hungerstreik.

Ihm schlossen sich ihre alte Mutter Raissa Uwarowa und Tengis' Ehe- frau Marina Gudawa an. Der Ge- sundheitszustand der hungerstrei- kenden Gefangenen — die vorher physisch vollkommen erschöpft wa- ren — gibt großen Anlaß zur Sorge, besonders im Hinblick auf die Ge- sundheit ihrer Mutter, die schon über 60 Jahre alt ist.

Wollen die Behörden etwa wei- tere Todesopfer abwarten — wie es bei Wassil Stuss, Anatolij Mart- schenko und anderen der Fall war?

Kann man das auch „Humanität"

nennen? Die Zeit liefert uns Bewei- se dafür, daß der Begriff „Humanis- mus" unvereinbar ist mit den Ver- brechen in den sowjetischen Strafla- gern und Gefängnissen und den un- menschlichen Haftbedingungen. Es ist schlimm, daß es so war. Es ist aber noch schlimmer, wenn alles so bleibt, wie es war.

Deswegen sollte jeder, dem die Ideale der Entspannung und des ge- genseitigen Verständnisses zwischen den Völkern etwas wert sind, von der sowjetischen Regierung die un- verzügliche und bedingungslose Frei- lassung aller Andersdenkenden aus den Straflagern, Gefängnissen und psychiatrischen Anstalten fordern.

Der Kampf um das Leben und die Freiheit der Gefangenen muß unver- mindert so lange anhalten, bis auch der letzte aus den Händen der Auf- seher freikommt.

Dazu rufe ich nicht nur meine ärztlichen Kollegen, sondern auch alle Humanisten und Menschen gu- ten Willens auf!

Anatolij Korjagin

Dr. Anatolij Korjagin: Es gibt

immer noch Gewissensgefangene

Nach sechs Jahren Haft wurde Anfang März 1987 der sowjeti- sche Psychiater Dr. Anatolij Korjagin aus der Haft entlassen. Er war 1981 zu sieben Jahren Haftlager und weiteren fünf Jahren Verbannung verurteilt worden, nachdem er seit Ende der siebzi- ger Jahre den politischen Mißbrauch der Psychiatrie in der So- wjetunion angeprangert und Material darüber auch in den We- sten geschickt hatte. Das DEUTSCHE ÄRZTEBLATT hat wieder- holt ausführlich über Dr. Korjagins Schicksal berichtet. Die nachfolgende Erklärung übermittelte Dr. Korjagin am 8. April 1987 telefonisch aus seinem Wohnort Charkow in der Ukraine an die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte in Frankfurt, welche auch für die Übersetzung gesorgt hat. Dr. Anatolij Korja- gin durfte schließlich am 24. April 1987 in die Schweiz ausreisen.

Dt. Ärztebl. 84, Heft 21, 21. Mai 1987 (65) A-1489

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