Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 104⏐⏐Heft 31–32⏐⏐6. August 2007 A2165
P O L I T I K
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en Gedanken hatte wohl schon jeder – einfach ausstei- gen, den Alltag hinter sich lassen und irgendwo einen Neuanfang wa- gen. Zumindest in beruflicher Hin- sicht können sich viele Vertragsärzte angesichts schlechter Arbeitsbedin- gungen und unzureichender Bezah- lung einen kollektiven Ausstieg aus dem System der kassenärztlichen Versorgung vorstellen. Für viele er- scheint dies als letzte Möglichkeit, zunehmenden Zwängen zu entgehen und ihren Forderungen an die Politik mehr Nachdruck zu verleihen.Doch birgt ein solcher System- ausstieg Risiken, wie ein Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) von Ende Juni zeigt. Im Sommer 2004 gaben 72 der 180 Kieferorthopäden in Niedersachsen aus Protest gegen gesundheitspolitische Vorgaben ihre vertragszahnärztliche Zulassung zurück. Nach dem Verzicht behan- delten sie weiterhin Patienten der gesetzlichen Krankenversicherung und stellten den Kassen ihre Leis- tungen nach dem einfachen Satz der Gebührenordnung für Zahnärzte in Rechnung. Die Kassen verweiger- ten die Zahlungen. Nach den aktuel- len Urteilen des BSG* bleiben die Aussteiger auf ihren offenen Rech- nungen sitzen.
Bezahlung nur bei Systemversagen
Die gesetzlichen Regelungen (§ 95 b Abs. 3 SGB V) zeigten deutlich den Willen des Gesetzgebers, Ärzte und Zahnärzte nach einem kollektiven Zulassungsverzicht grundsätzlich nicht mehr an der Versorgung der Versicherten mitwirken zu lassen, befand das BSG. Nur wenn die Kassen die Versorgung mit unauf- schiebbaren Leistungen nicht recht- zeitig sicherstellen können, dürften die Versicherten auf Versorgungsan-
gebote von ausgestiegenen Ärzten zurückgreifen. Ein solches „Sys- temversagen“ hat nach Meinung des Gerichts in Niedersachsen jedoch nicht vorgelegen.
Das Urteil ist bundesweit von Bedeutung. Denn bereits seit An- fang der 90er-Jahre diskutieren Ver- tragsärzte über einen kollektiven Systemausstieg. Zuletzt riefen Medi Deutschland, die Freie Ärzteschaft und der Bundesverband der Ärzte- genossenschaften zu einer Zulas- sungsrückgabe auf. Die Verbände setzen wie verschiedene regionale Ärztenetze auf das „Korbmodell“.
Hierbei geben Ärzte einer Region bei einem Notar Absichtserklärun- gen für eine Zulassungsrückgabe ab. Erst wenn genügend Erklärun- gen im „Korb“ sind, stimmen die Ärzte über einen Ausstieg ab.
Der Erkrather Urologe Dr. med.
Wolfgang Rulf gehört zu den Ini- tiatoren des nordrheinischen Korb- modells. Vom BSG-Urteil sieht er sich nicht betroffen. Das Gericht ha- be klargestellt, dass die Kassen bei Vorliegen eines Systemversagens den einfachen GOÄ-Satz an ausge- stiegene Ärzte zahlen müssen. „Wir sammeln so lange Absichtserklärun- gen für einen Ausstieg, bis wir eine ausreichende Zahl für ein solches Szenario zusammenhaben. Ob wir wirklich ernst machen, entscheiden wir dann“, sagt Rulf.
Dass sich über erfolgreiche Korb- modelle ein neues Wir-Gefühl inner- halb der Ärzteschaft einstellen kann, glaubt der Vorsitzende von Medi Deutschland, Dr. med. Werner Baum- gärtner. „Damit würde die augen- blickliche Angstsituation aufhören, die uns in einem System festhält, das uns ausbeutet“, so der Allgemeinarzt.
Dr. med. Klaus Bittmann, Vorsitzen- der des NAV-Virchow-Bundes und Chef des Bundesverbandes der Ärz-
tegenossenschaften, fügt hinzu: „Das Urteil lehrt uns: Bei einem kollektiven Systemausstieg muss die kritische Ausstiegsquote von mindestens 70 Prozent überschritten werden.“
Ob sich ausreichend ausstiegswil- lige Ärzte finden, muss vor dem Hin- tergrund des im Januar vorgestellten Referendums der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) bezwei- felt werden. Darin hatte sich die Mehrheit der Ärzte für den Verbleib im System der Kassenärztlichen Ver- einigungen (KVen) ausgesprochen.
Hinzu kommt: Selbst wenn es zu einem durch Zulassungsrückgabe hervorgerufenen Systemversagen kommt, lassen sich die Folgen für Ärzte nicht sicher vorhersagen. Denn die Kassen können Kliniken zur am- bulanten Versorgung ermächtigen und ausländische Ärzte rekrutieren, um den auf sie übergegangenen Si- cherstellungsauftrag zu erfüllen.
Kliniken profitieren
Der Vorsitzende der KV Nordrhein, Dr. med. Leonhard Hansen, appel- liert deshalb an die Vertragsärzte:
„Setzen Sie nicht unnötig Ihre Exis- tenz aufs Spiel.“ Der kollektive Sys- temausstieg wäre für Kliniken die Gelegenheit, das Tor zur ambulan- ten Versorgung zu öffnen.
Auch wenn er den Frust seiner Kollegen versteht, rät der Vorstands- vorsitzende der KBV, Dr. med. Andre- as Köhler, ebenfalls zur Besonnen- heit. Man müsse hinterfragen, ob die Vergütung nach dem einfachen GOÄ- Satz tatsächlich besser ist als die jetzi- ge GKV-Honorierung. Köhler weist zudem darauf hin, dass eine Praxis mit Kassenzulassung bei einer Be- rufsaufgabe verkauft werden kann.
Mit einer Zulassungsrückgabe wür- de ein wichtiger Bestandteil der Alterssicherung wegbrechen. I Samir Rabbata
ZULASSUNGSRÜCKGABE
Spiel mit hohem Einsatz
Das Bundessozialgericht setzt Ärzten und Zahnärzten für einen Ausstieg aus dem KV-System hohe Hürden. Ärzteverbände sehen im kollektiven Zulassungsverzicht dennoch ein geeignetes Druckmittel gegen Politik und Krankenkassen.
*Az.: B 6 KA 37/06 R, B 6 KA 38/06 R, B 6 KA 39/06 R