DEUTSCHES
ÄRZTEBLATT Zur Fortbildung Aktuelle Medizin
KOMPENDIUM:
Operative Behandlung der Leistenbrüche Frührehabilitation nach Herzinfarkt Der chronische Mittelohrerguß
AUSSPRACHE:
Die Strahlentherapie der Hirngliome
DIAGNOSTIK IN KÜRZE Choledochozele
Rektum- und Kolonpolypen
Seit Jahrzehnten gehören Leisten- bruchoperationen zur Alltagsarbeit des Chirurgen. Die klassische, von Bassini entwickelte Operationsme- thode zur Beseitigung indirekter Leistenhernien geht auf das Jahr 1890 zurück. Seither ist eine Viel- zahl neuer Operationstechniken hinzugekommen. Keine von ihnen gibt aber ein Patentrezept, mit dem man Leistenbruchrezidive und an- dere lokale Komplikationen völlig verhindern kann.
Operationsindikationen
Eine Herniotomie ist mit der Dia- gnose des Leistenbruchs indiziert.
Der Eingriff sollte möglichst früh- zeitig vorgenommen werden, um den Patienten vor steter Vergröße- rung des Leistenbruchs, vor star- ken Bruchsackverwachsungen so-
wie vor der Atrophie des Gewebes zu bewahren.
• Eine absolute Indikation zur Ra- dikaloperation ist bei Auftreten von Komplikationen — wie Einklem- mung des Bruchsacks — gegeben.
Auch bei rezidivierender Bruchein- klemmung soll die Hernie mög- lichst bald operativ beseitigt wer- den.
• Bei hochbetagten, über 70jähri- gen Patienten ist präoperativ eine exakte allgemeine Untersuchung und Überprüfung der Herz-Kreis- lauf- und der Lungenfunktion zur Klärung der allgemeinen Operabili- tät notwendig.
• Im Säuglings- und Kindesalter ist die frühzeitige Operation nicht nur bei schwer reponiblen, dau-
*) Mitglied des Wissenschaftlichen Bei- rats der Bundesärztekammer
Operative Behandlung der Leistenbrüche
Hans Becker, Anton Donhöffner und Edgar Ungeheuer*) Aus der Chirurgischen Klinik
des Krankenhauses Nordwest Frankfurt am Main-Praunheim (Direktor: Professor Dr. med. Edgar Ungeheuer)
Leistenbrüche sollten so früh wie möglich operiert werden. Ein Operationsverfahren, mit dem mit Sicherheit Rezidive oder andere Komplikationen auszuschließen sind, gibt es nicht. Wir führen drei Standardmethoden aus, deren Modifikation genügend Spielraum für die exakte Versorgung jeder Leistenhernie läßt. Postoperative Komplikationen treten in Form von Hämatomen, Wundinfektionen, Hodenschwellung und allgemeinen Erkrankungen auf. Der Literatur zufolge kann die Rezidivquote nach Operationen indirekter Leisten- brüche zwölf Prozent, nach direkten 30 Prozent erreichen.
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Zm Fortbildung Aktuelle Medizin Leistenbruch-Operation
ernd hervortretenden Leistenbrü- chen geboten, sondern vor allem, wenn die Gefahr der Einklemmung besteht; sie ist die häufigste Ursa- che für den mechanischen Ileus in diesem Alter. Bei Kindern mit flori- den Infekten, Dyspepsien oder schweren Allgemeinerkrankungen muß man auf eine nicht dringliche Herniotomie zunächst verzichten.
..,. Bronchitiden und akute Lungen- erkrankungen, Hauterkrankungen, wie Ekzeme, Furunkel und· Folliku- litiden, schließen bei unkomplizier- tem Leistenbruch eine Herniotomie bis zur Abheilung dieser Krankhei- ten aus. Liegt eine erhebliche Adi- positas vor, ist präoperativ eine Gewichtsreduzierung erstrebens- wert.
..,. Doppelseitige Leistenbrüche operieren wir im allgemeinen in ei- ner Sitzung.
..,. Eine andere erfolgversprechen- de Leistenbruchbehandlung als die Radikaloperation gibt es nicht: Ein Bruchbandträger bleibt ein ganzes Leben hindurch ein Teilinvalide (Minderung der Erwerbsfähigkeit von zehn bis 50 Prozent und dar- über). Wird in Ausnahmefällen von einem erfahrenen Chirurgen die Herniotomie abgelehnt, kann bei kleinen, Beschwerden verursachen- den Leistenbrüchen ein Bruchband verordnet werden. Allerdings sollte auch im hohen Alter eine Opera- tion angestrebt werden.
..,. Eine Injektionsbehandlung von Leistenbrüchen ist abzulehnen.
Präoperative Vorbereitung
Vor einer Herniotomie sind neben der Thromboembolie-Prophylaxe
insbesondere kardio-vaskuläre und pulmonale Begleiterkrankungen zu berücksichtigen. Bei Patienten mit Inkarzeration, Ileus und Peritonitis ist präoperativ eine intensive und schnelle Infusionstherapie zur Sub- stitution erforderlich. Vor dem Ein- griff stellten wir bei einem Fünftel unserer Kranken vor allem folgen- de Krankheiten fest: Hypertonie, ausgeprägte Koronarsklerose, Zu- stand nach Herzinfarkt, Bronchiti- den, Asthma bronchiale, Diabetes mellitus und ausgeprägte Varikosis der Beine.
Operationstechnik
Eine allein gültige operative Tech- nik zur Leistenbruchoperation gibt es nicht. Aus der Vielzahl der an- gegebenen operativen Verfahren muß sich jeder Chirurg für die eine
---·-·--- -Musculus obliquus externus
---Musculus obliquus internus Fascia transversaUs
und direkte Hernie Ligamentum inguinale
Abbildung 1: Durch Raffung der Fascia transversalis und Fixierung an das Leistenband erfolgt ohne Bruchsackeröff- nung der Verschluß der Bruchpforte eines direkten Leistenbruchs
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oder andere Methode entscheiden und damit seine Erfahrungen sam- meln. Wir führen nur drei Standard- methoden durch, die bei ausrei- chender Ertahrung genügend Spielraum zur exakten Versorgung einer jeden Leistenhernie lassen.
Bei Erwachsenen wenden wir vor- wiegend das Vertabren von Bassini in der Modifikation nach Lotheis- sen, weniger häufig in der Modifi- kation nach Ki rschner ( = epifas- ziale Verlagerung des Samen- strangs) an. Leistenbrüche bei Säuglingen und Kleinkindern ope- rieren wir nach der von Grob ange- gebenen Methode. Alle Eingriffe nehmen wir in Intubationsnarkose vor. Faszien- und Kutisplastiken zum Verschluß großer Bruchlücken verwenden wir nur selten; Plasti- ken aus alloplastischem Material überhaupt nicht.
Wichtigste Voraussetzung für eine möglichst komplikationsarm ver- laufende Herniotomie ist gewebe- schonendes, rein instrumentelles Operieren, wobei auf eine sorgfäl- tige Blutstillung zu achten ist.
Der Bruchsack von indirekten Lei- stenbrüchen wird nach Isolierung und Verschluß durch Tabaksbeu- telnaht oder zentrale Umste- chungsnaht immer hoch am Anulus inguinalis profundus reseziert. Die übernähung des Bruchsackstump- fes ist eine zusätzliche Sicherung.
Bei direkten Leistenbrüchen eröff- nen wir nur selten den Bruchsack.
Die Bruchpforte wird vielmehr durch Raffung der Fascia transver- salis, die man an das Leistenband fixiert, verschlossen (Abbildung 1 ).
Stets erfolgt nach Leistenbruch- operationen ein primärer Wundver- schluß. Lediglich bei großen Wund- flächen - Hernia permagna, extre- mer Adipositas - wird eine Re- donsche Drainage gelegt. Als Naht- material verwendeten wir früher ausschließlich Chromcatgut, neuer- dings bevorzugen wir für die Ein- zelknopfnähte dünnes Mersilene® (0 bis 2) und Dexon®. Leistenbrü- che von Kindern werden nur mit resorbierbarem Material versorgt, früher mit Chromcatgut, heute mit
Tabelle 1: Noteingriffe bei 78 inkarzerierten Leistenbrü·
chen
42 Herniotomien nach Bassini-Lotheissen 30 Herniotomien nach Bassini-Kirschner 6 Laparotomien dabei 17 Resektionen:
2 Sigmaresektionen 7 Dünndarmresektionen 8 Teilresektionen des Omenturn majus
Dexon®. Die Hautnähte ertolgen mit Kunststoffäden (Supramid®).
Eigenes Krankengut
ln den letzten neuneinhalb Jahren wurden über 2200 Leistenbruch- operationen vorgenommen. Eine Analyse von 1548 eigenen Leisten- bruchoperationen aus den Jahren 1964 bis 1970 ergibt folgendes:
..,.. Von den operierten Erwachse- nen hatten 51 Prozent rechtsseitige, 34 Prozent linksseitige und 15 Pro- zent beidseitige Leistenbrüche. Bei Säuglingen und Kleinkindern wa- ren die Leistenbrüche in 61 Pro- zent rechtsseitig, in 30 Prozent linksseitig und in neun Prozent beidseitig lokalisiert.
..,.. ln 4,9 Prozent der Fälle lagen Gleitbrüche vor.
..,.. Irrepenible Hernien waren bei Männern und Frauen mit je 7,1 Pro- zent gleich häufig verteilt; bei Kna- ben wurden sie in 8,2 Prozent, bei Mädchen in 6,7 Prozent diagnosti- ziert.
..,.. 70,6 Prozent der Erwachsenen hatten indirekte, 29,4 Prozent di- rekte Leistenbrüche. Säuglinge und Kleinkinder hatten zu 97,6 Pro- zent indirekte und zu 2,4 Prozent direkte Leistenbrüche.
..,.. Im Kindes- und Erwachsenenal- ter war das männliche Geschlecht
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mit 85 Prozent am häufigsten von Leistenbrüchen betroffen.
..,.. Zwei Drittel der Patienten waren noch keine zehn oder über 50 Jah- re alt. Bei Kindern im ersten Le- bensjahr betrug die Herniotomiera- te 13,1 Prozent, im zweiten 23,6 Prozent und im dritten 16,3 Pro- zent. Ein Viertel der von uns hernio- tomierten Kinder befanden sich zwischen dem fünften und neunten Lebensjahr.
..,.. Gleichzeitig mit der Herniotomie wurden in rund fünf Prozent Hydro- zelen-Operationen, in etwa zehn Prozent Orchidopexien und in 1,4 Prozent Semikastrationen ausge- führt.
..,.. Als Noteingriff mußte die Hernio- tomie wegen Inkarzeration 78mal ausgeführt werden. Von dieser Komplikation sind meist alte Pa- tienten betroffen (Tabelle 1 ).
Wie lange die Patienten nach dem Eingriff Bettruhe einhalten müssen, hängt von ihrem Allgemeinzustand und von den Faszienverhältnissen ab. Seit wir die Bruchlücke mit Mersilene® verschließen, konnte die durchschnittliche Liegezeit auf zwei bis fünf Tage verkürzt werden.
Bei Rezidiveingriffen lassen wir vier bis acht Tage Bettruhe einhal- ten.
Postoperative Komplikationen Nach Herniotomien indirekter und direkter Leistenbrüche sind Häma- tome, Wundinfektionen und Ho- denschwellungen die häufigsten unmittelbaren Komplikationen.
Hämatome bilden sich meist als Folge nicht exakter Blutstillung oder zu früh einsetzender Antiko- agulantientherapie. Schon kleinere venöse Blutungen können oft er- hebliche Wund- oder Skrotalhäma- tome hervorrufen .
Die Rate der Wundheilungsstörun- gen, wie seröse Wundabsonde- rung oder Wundinfektion, war bei Verwendung von Catgut und Chromcatgut höher als nach Ein- führung von Mersilene®. Auch bei Verwendung von Dexon® zum
Leistenbruch-Operation
schichtweisen Wundverschluß oder als ausschließliches Nahtmaterial beobachteten wir bei 240 Hernien weder einen Wundinfekt noch eine seröse Wundabsonderung. Die be- kannte Beobachtung, daß sich Wundinfektionen durch Gabe von Antibiotika nicht verhüten lassen, konnte erneut bestätigt werden.
Unter den allgemeinen postoperati- ven Komplikationen lagen Bronchi- tiden, Lungenembolien, Broncho- pneumonien und Thrombophlebiti- den an der Spitze.
Die postoperative Letalität lag bei Herniotomien von unkomplizierten Leistenbrüchen unter ein Pro- zent; die drei Todesfälle waren durch fulminant verlaufende Lun- genembolien bedingt. Bei Patien- ten mit inkarzerierten Leistenbrü- chen war die postoperative Letali- tät wesentlich höher.
Nach Literaturangaben beträgt die Rezidivquote nach Operation indi- rekter Leistenhernien bis zu zwölf, nach direkten bis zu 30 Prozent.
Patienten, die wegen direkter Lei- stenbrüche operiert worden waren, neigten etwas mehr zu Rezidiven Bei den herniotomierten Kindern war die Rezidivquote mit einem Prozent sehr niedrig. Nach wieder- holten Hernienoperationen ist die Rezidivquote etwa dreimal höher als nach unkomplizierten Leisten- bruchoperationen; sie wird mit über 14 Prozent angegeben. Post- operative Hodenatrophien beobach- teten wir bei Männern in 0,4 Pro- zent, bei Knaben in 0,6 Prozent.
Literatur
Becker, H., Ungeheuer, E., und Donhöffner, A.: Ergebnisse nach Leistenbruchoperatio- nen; Chirurg 43 (1972), 58 - Köle, W.: Operationen an der Bauchdecke und bei Unterleibsbrüchen. ln: Bier-Braun-Kümmel Bd. IV/1, 8. Aufl. J. A. Barth, Leipzig 1972.
Anschrift der Verfasser:
Dr. med. Hans Becker, Dr. med. Anton Donhöffner, Prof. Dr. med. Edgar Ungeheuer 6 Frankfurt am Main 90
Steinbacher Hohl 2-26
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Frührehabilitation nach Herzinfarkt
Kurt König
Aus der Herz- und Kreislaufklinik
(Chefarzt: Professor Dr. med. Kurt König), Waldkirch bei Freiburg
Die Frührehabilitation bildet die Voraussetzung dafür, daß der durch den Infarkt ge- schwächte Herzmuskel zur Kompensation des Defektes angeregt wird. Frühmobili- sierte Patienten sind im allge- meinen, sofern keine Kompli- kationen auftreten, späte- stens nach sechs Monaten wieder arbeitsfähig.
Unter Frührehabilitation wird der möglichst frühzeitig beginnende und progredient intensivierte Ein- satz von Maßnahmen verstanden, der geeignet ist, den Infarktkran- ken in somatischer, psychischer, beruflicher und sozialer Hinsicht in seinen früheren Lebens- bezie- hungsweise Arbeitsbereich zurück- zuführen. Dem Oberbegriff der Frührehabilitation sind die Begriffe
"Frühmobilisation" und "Anschluß-
heilmaßnahmen" untergeordnet.
Die Frühmobilisation
Das Prinzip der Frühmobilisation wurde 1968 von einer internationa- len Studienkommission der Weltge- sundheitsorganisation (WHO) defi- niert und in Form detaillierter Emp- fehlungen veröffentlicht. Hierbei wurden vor allem die Erfahrungen skandinavischer Kliniken zugrunde gelegt.
Nach diesen Ric;htlinien kann be- reits am vierten Tag nach kompli- kationslos verlaufendem Herzin- farkt mit der Frühmobilisation in Form von Bewegungsübungen zu- nächst kleiner Muskelgruppen im Bett begonnen werden. Treten kei-
ne Komplikationen auf, beginnt man mit den ersten Gehübungen in der dritten bis vierten Woche, die Entlassung aus der Akutklinik er- folgt in der vierten bis fünften Wo- che nach dem Infarkt (siehe Dar- stellung 1 ). Damit ist die sogenann- te Phase I der Rehabilitation abge- schlossen. Kontraindiziert ist nach der Weltgesundheitsorganisation die Frühmobilisation im vorstehend skizzierten Sinne bei
~ Anzeichen von Blässe, Schwit- zen, Hypotonie,
~ Anzeichen einer manifesten Herzinsuffizienz,
~ schweren oder nicht beherrsch- baren Arrhythmien beziehungswei- se überleitungsstörungen,
~ länger dauernden stärkeren Herzschmerzen,
~ Temperaturen über 38 Grad Cel- sius.
Zusätzliche Kontraindikationen sind:
~ Lebensalter über 60,
~ pathologische Herzvolumenver- größerung,
~ so ausgedehnter Infarkt, daß Aneurysmabildung oder Herzinsuf- fizienz zu erwarten sind,
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