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Archiv "Therapie-Leitlinien bei MS: Zu wessen Nutzen?" (03.02.2006)

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T H E M E N D E R Z E I T

Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 103⏐⏐Heft 5⏐⏐3. Februar 2006 AA237

KOMMENTAR

N

achdem große Studien gezeigt haben, dass Betainterferone die Zahl der Schübe sowie neuer Her- de bei multipler Sklerose (MS) um ein Drittel reduzieren, beträgt ihr Umsatz in Deutschland mehr als 500 Millionen Euro im Jahr. Gleichwohl beklagt der Ärztliche Beirat der Deutschen-Multi- ple-Sklerose-Gesellschaft (DMSG), dass Betainterferone immer noch zu selten und zu spät verordnet werden. Um dem entgegenzuwirken, hat der Beirat beschlossen, MS-Praxen und -Klini- ken zu zertifizieren. Das Gütesiegel

„Anerkanntes MS-Zentrum“ wird nur an Neurologen vergeben,

die mindestens 400 MS- Patienten jährlich behan- deln und sich strikt an die Therapie-Leitlinien der Multiple-Sklerose-The- rapie-Konsensus-Gruppe (MSTKG) halten. Darin

wird empfohlen, Patienten mit einer schubförmigen MS so früh wie möglich mit Betainterferonen zu behandeln.

Die MSTKG beschneidet so die indi- viduellen Therapiemöglichkeiten, die bei einer MS-Behandlung notwendig sind. Stattdessen zwingt sie den Neu- rologen ein starres, nebenwirkungs- reiches Therapieregime auf.

Die Effektivität von Interferonen ist umstritten. In der ärztlichen Praxis springt ihre Wirksamkeit nicht ins Au- ge. In einer der großen Studien wurde die Schubzahl innerhalb von zwei Jah- ren von 0,82 Schüben bei unbehandel- ten auf 0,67 Schübe bei behandelten Pa- tienten reduziert, das heißt um 0,15 Schübe pro zwei Jahre (2). Die „num- ber needed to treat“ beträgt demnach sieben (1/0,15). Man muss also sieben Patienten über zwei Jahre mit Betain- terferonen behandeln, um einen Schub zu verhindern. Die Therapie kostet je Patient rund 15 000 Euro jährlich. Da- mit betragen die Kosten für einen ver- hinderten Schub 210 000 Euro.

Nicht nur die hohen Behandlungs- kosten sprechen gegen den generellen Interferon-Einsatz.Viele MS-Patienten profitieren von der Therapie nicht. Die

DMSG ist unterdessen der Ansicht: „Je weniger Schübe und je weniger Herde bei einem Betroffenen auftreten, desto geringer wird der sich im Laufe der Jahre akkumulierende Langzeitscha- den sein. Da die Produktionsrate von MS-Herden zu Beginn der Erkrankung besonders hoch ist, muss die Behand- lung so früh wie möglich begonnen wer- den.“ Tatsache ist aber, dass ein statisti- scher Zusammenhang zwischen Schub- beziehungsweise Herdrate und Lang- zeitverlauf nicht nachweisbar ist (1).

Für die Patienten sind Betainter- ferone eine nebenwirkungsreiche und

belastende Therapieoption. Dreimal in der Woche werden sie subkutan ge- spritzt, alternativ einmal wöchentlich intramuskulär. Häufig kommt es zu schmerzhaften lokalen Reaktionen an den Einstichstellen, teilweise zu Nekro- sen. Auch grippeähnliche Symptome mit Fieber, Muskelschmerzen und Ab- geschlagenheit treten auf. Die Lebens- qualität der Patienten ist beeinträchtigt, nicht zuletzt, wenn es zu einer Depres- sion kommt. Bei 20 bis 40 Prozent der Patienten kommt es zu einer Antikör- perbildung. Dadurch werden sowohl die gespritzten als auch die körpereige- nen Betainterferone abgeschwächt.

Trotz dieser Schwächen zeichnet die Arzneimittelindustrie die Chancen des unbehandelten MS-Betroffenen in dü- steren Farben. Die Akteure beziehen sich teilweise auf alte epidemiologische Daten, die diagnostische Neuerungen der letzten Jahre (MRT) nicht berück- sichtigen. Eine kürzlich in „Neurology“

veröffentlichte Studie belegt, dass der Langzeitverlauf der MS auch ohne me- dikamentöse Therapie günstiger ist als erwartet: 162 MS-Patienten wurden in der Analyse 1991 und zehn Jahre später untersucht. Rund 70 Prozent waren ent-

weder stabil oder zeigten nur eine mini- male Progression (3).

Trotzdem setzt sich die DMSG wei- terhin uneingeschränkt für die Betain- terferontherapie ein. Der Verdacht liegt nahe, dass sich die Verantwortlichen möglicherweise für die Interessen der Hersteller von MS-Medikamenten ein- spannen lassen. Etwa zwei Drittel der Mitglieder unterhalten finanzielle Be- ziehungen zu mehr als zwei Arzneimit- telherstellern. Ein besorgniserregendes Szenario entsteht: Die Studien werden von den Pharma-Firmen finanziert, ge- plant und ausgewertet. Die MS-Fach- leute von der DMSG lei- ten diese Studien oftmals selbst. Auf Kongressen und bei Vorträgen, die im Auftrag derselben Fir- men abgehalten werden, warnen die Experten vor dem unheilvollen Ver- lauf der nicht rechtzeitig behandelten MS. Können sie mit ihren Ausführungen nicht alle Neurologen überzeugen, so wird eine Zertifizierung eingeführt. Nur wer sich der DMSG-Meinung anschließt, wird als MS-Spezialist anerkannt.

Leitlinien können sinnvolle Instru- mente sein, aber sie müssen von unab- hängigen Experten entwickelt werden.

Wenn Interessenkonflikte bestehen, sind diese offen zu legen, denn ohne Transparenz kann keine Glaubwürdig- keit entstehen. Gerade die Therapie der MS ist für eine Standardisierung ungeeignet. Die Patienten benötigen eine individuelle Behandlung. Unab- hängige Neurologen, die sich den Vor- stellungen der DMSG nicht kritiklos unterordnen, dürfen in der Patienten- versorgung künftig nicht benachteiligt werden. Dr. med. Wolfgang Weihe

Literatur

1. Confavreux C, Vukusic S, Moreau T et al.: Relapses and progression of disability in multiple sclerosis.

N Engl J Med 2000; 343: 1430–38.

2. Jacobs LD et al.: Intramuscular interferon beta-1a for disease progression in relapsing multiple sclerosis.

Ann Neurol 1996; 39: 285–94.

3. Pittock SJ et al.: Change in MS-related disability in a population-based cohort: a 10-year follow-up study. Neurology. 2004 Jan 13; 62 (1): 51–9.

Therapie-Leitlinien bei MS

Zu wessen Nutzen?

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