• Keine Ergebnisse gefunden

Archiv "Psychosoziale Versorgung in der Medizin: Bedarf steigt mit dem Fortschritt" (17.10.2003)

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Archiv "Psychosoziale Versorgung in der Medizin: Bedarf steigt mit dem Fortschritt" (17.10.2003)"

Copied!
2
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

P O L I T I K

A

A2700 Deutsches ÄrzteblattJg. 100Heft 4217. Oktober 2003

D

er Versorgung von psychisch Er- krankten wird häufig nicht die gleiche Aufmerksamkeit gewid- met wie körperlich Kranken – obwohl 32 Prozent der erwachsenen Bevölke- rung in Deutschland an einer oder meh- reren psychischen Störungen leiden (Bundesgesundheitssurvey 1998). In der Bevölkerung ist die Akzeptanz psy- chischer Erkrankungen immer noch begrenzt. Psychosoziale Aspekte in der Versorgung somatischer Erkrankungen werden noch nicht ausreichend beach- tet. Gleichzeitig ist die Entwicklung der medizinischen Versorgung geprägt von demographischen Veränderungen und biomedizinischen Fortschritten – bei zunehmend knapper werdenden Res- sourcen.

Um die Auswirkungen dieser Verän- derungen auf die psychosoziale Versor- gung in der Medizin zu analysieren und daraus Konzepte zu entwickeln, trafen sich – erstmals gemeinsam – die 34 psy- chosozialen Fachgesellschaften in der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaft- lichen Medizinischen Fachgesellschaf- ten vom 28. bis 30. September in Ham- burg. Der Kongress „Psychosoziale Versorgung in der Medizin“ unter der Leitung von Prof. Dr. Dr. Uwe Koch, In- stitut und Poliklinik für Medizinische Psychologie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE), verfolgt ein sehr anspruchsvolles Ziel: die besse- re Abstimmung und Vernetzung von Forschung, Lehre und Patientenversor- gung. Die Veranstaltung war zugleich der 2. Deutsche Kongress für Versor- gungsforschung. Prof. Dr. Holger Pfaff, Köln, Sprecher der ständigen Kongress- kommission „Deutscher Kongress für Versorgungsforschung“, stellte in Ham- burg ein Memorandum vor (siehe Text- kasten 1). Die Versorgungsforschung – die in Deutschland verstärkt vorange- trieben werden soll – befasst sich damit,

wie und was tatsächlich aus der For- schung in der Praxis ankommt, ob Leit- linien wahrgenommen und auch umge- setzt werden.

Auf die unbefriedigende Versorgung psychisch Kranker wies Prof. Dr. Hans- Ulrich Wittchen, Dresden, hin: Knapp 64 Prozent der Personen mit einer ma- nifesten 12-Monats-Diagnose für eine psychische Störung und Hilfesuchver- halten erhielten keinerlei Intervention – weder bei Hausärzten, Beratungsstel- len noch bei Fachärzten (Wittchen und Jakobi 2001). „Ein erschreckendes Er- gebnis“, beklagte Wittchen. In der Erst- versorgung wiesen 35 Prozent der Pati- enten psychische Störungen auf, davon werde nur die Hälfte richtig diagnosti- ziert und einer Behandlung zugeführt – trotz Einführung der psychosoma- tischen Grundversorgung in die hausärztliche Weiterbildung. Niedrig ist auch die fachspezifische Behand- lungsrate.

Über-, Unter- und Fehlversorgung ermittelte Dr. Holger Schulz, Zentrum für Psychosoziale Medizin am UKE, in einer Studie zusammen mit Uwe Koch auch für die ambulante psychothera- peutische Versorgung. Ein deutliches Gefälle im Versorgungsgrad besteht da- nach von West- nach Ostdeutschland, von Stadt- zu Landregionen und von Süden nach Norden. Die meisten Psy- chotherapeuten sind in den Stadtstaa- ten zugelassen – Bremen liegt an der Spitze. Psychologische Psychothera- peuten haben mit 70 Prozent den größ- ten Anteil an der ambulanten Versor- gung (Grafik). Unklar ist, welchen An- teil die nicht ausschließlich psychothe- rapeutisch tätigen Ärzte, Beratungs- stellen, Ambulanzen, Tageskliniken und Heilpraktiker mit Zusatzbezeich- nung an der Versorgung haben. „Hier besteht Forschungsbedarf“, betonte Schulz. Deutliche Indikatoren für Un- terversorgung sieht er aufgrund langer

*Berücksichtigt ausschließlich psychotherapeutisch tätige Ärzte, weitere 5 891 niedergelassene Ärzte, die nur zum Teil psychotherapeutische Leistungen erbringen, sind wegen fehlender Daten nicht berücksichtigt.

Quelle: Koch U, Schulz H: Psychotherapeutische Versorgung in Deutschland, 2003 (unveröffentlichte Studie)

Grafik

Psychosoziale Versorgung in der Medizin

Bedarf steigt mit dem Fortschritt

Die psychosoziale Versorgung in der Medizin war das Thema des 2. Deutschen Kongresses für

Versorgungsforschung in Hamburg – erstmals trafen sich 34 Fachgesellschaften gemeinsam.

(2)

P O L I T I K

A

A2702 Deutsches ÄrzteblattJg. 100Heft 4217. Oktober 2003

Wartezeiten, hoher Ablehnungsraten und langer Chronifizierungszeiten: vier bis sieben Jahre vom ersten Auftreten einer Störung bis zu Behandlung. Die ambulanten Angebote seien zudem für die Patienten wenig transparent. Trotz der vergleichsweise niedrigeren Kosten beträgt der Anteil gruppentherapeuti- scher Behandlungen nur ein Prozent.

Schulz fordert dafür eine Begründung.

Weiteren Klärungsbedarf sieht er für den hohen Anteil stationär psycho- therapeutisch behandelter Patienten:

354 000 jährlich im Vergleich zu 276 000 Patienten, die ambulant behandelt wer- den. Deutschland hat im internationa- len Vergleich einen hohen Anteil an Psychotherapiebetten, die „in sich deutlich überlappenden“ Fachberei- chen angeboten werden – in der Psych- iatrie, Psychosomatischen Medizin und der Rehabilitation. Unklar sei auch, welche Rolle die Psychotherapie in psychiatrischen Krankenhäusern ein- nimmt.

„Mehr evidenzbasierte Praxis“ in der Psychotherapie, forderte der Vorsit- zende des Wissenschaftlichen Beirats Psychotherapie, Prof. Dr. Jürgen Mar- graf, Basel. Insbesondere die Unbe- denklichkeit und die Wirtschaftlichkeit von Psychotherapieverfahren seien zu wenig untersucht. Es gebe wirksame Verfahren für die meisten Indikatio-

nen, doch finden diese offenbar nicht immer Eingang in die therapeutische Praxis. Die am besten validierten Ver- fahren, die kognitiv-behaviorale Psy- chotherapie und angewandte Entspan- nungsverfahren, würden nicht ihrer Be- deutung entsprechend häufig ange- wandt.

Für die Finanzierung integrativer Behandlungsansätze in der Psychothe- rapie setzte sich Prof. Dr. med. Wolf- gang Senf, Essen, ein. „Die strukturel- len Vorgaben behindern eine optimale Nutzung der Psychotherapie“, kritisier- te er. In der Praxis müssten entweder psychodynamische Verfahren oder Ver- haltenstherapie abgerechnet werden.

Auch eine Kombination von Settings sei nicht möglich. Mehr finanzielle An- reize müssten zudem für Kurzzeitthera- pie geschaffen werden. Das Problem entsteht nach Senfs Ansicht bereits in der Ausbildung, die die Kandidaten auf eine Methode festlegt. „Wir müssen endlich den Schulenstreit überwinden und die Voraussetzungen für eine störungsspezifische, problemorientier- te Psychotherapie schaffen.“

Auf die unzureichende psychosozia- le Versorgung von Migranten, insbe- sondere von Asylsuchenden und Bür- gerkriegsflüchtlingen, wies der Medi- zinsoziologe Prof. Dr. Johannes Sieg- rist, Düsseldorf, hin. Er forderte, Dol- metscherdienste verpflichtend zu in- stallieren. Für eine angemessene Be- handlung sei es zudem grundlegend, über Kenntnisse der jeweiligen Kultur und der sozioökonomischen Verhält- nisse zu verfügen.

Ein psychosoziales Versorgungssy- stem der Zukunft für eine alternde Ge- sellschaft kann nach Ansicht des Sozial- psychiaters Prof. Dr. Dr. Klaus Dörner nur in einer „Deinstitutionalisierung der Alterssorgebedürftigen“ liegen.

Demente alte Menschen müssten statt in Heimen sinnvollerweise in ambulan- ten Wohnpflegegruppen untergebracht werden. In diesen stadtviertelbezoge- nen Wohngruppen – wie sie sich zurzeit vermehrt gründen – werde altersver- wirrten Menschen ermöglicht, „bis zu- letzt ihrem Bedürfnis, durch Tätigsein soziale Bedeutung für andere zu ha- ben“, nachzukommen. Nur so könnte man künftig die Kosten für Heimplätze und Gesundheitspersonal in den Griff

bekommen, erklärte Dörner. Voraus- setzung sei jedoch eine „Umprofessio- nalisierung“ der sozialen Berufe: „nicht mehr alles selbst tun zu wollen, sondern andere, Bürger, fürs Helfen zu mobili- sieren und anzuleiten“.

Schließlich wies die Präsidentin des Deutschen Ärztinnenbundes, Dr.

Astrid Bühren, Murnau, auf den „Gen- der-Aspekt“ hin: „Nur die gleichwerti- ge Nutzung der weiblichen und männli- chen Aspekte in der Medizin führt zu einer besseren psychosozialen Versor- gung.“ Für die Forschung forderte sie, Studien nur zu veröffentlichen, wenn der geschlechtsspezifische Ansatz be- rücksichtigt wurde.

Zur Entwicklung der psychosozialen Medizin verabschiedeten die 34 Fach- gesellschaften zum Abschluss des Kon- gresses Thesen und Empfehlungen, die

„Hamburger 6-Punkte-Agenda“ (siehe Textkasten 2). Petra Bühring

Der 3. Deutsche Kongress für Versorgungsforschung zum Thema „Versorgung chronisch Kranker: Patientenorien- tierung, Qualitätsentwicklung und Gesundheitsförde- rung“ unter der Leitung von Prof. Dr. Bernhard Badura fin- det vom 18. bis 19. Juni 2004 an der Universität Bielefeld statt. Organisationsbüro: Telefon: 05 21/1 06 42 63, E-Mail: kongress2004@uni-bielefeld.de

www.uni-bielefeld.de/gesundhw/kongress2004 Memorandum zur

Versorgungsforschung in Deutschland

Die Bundesregierung wird aufgefordert, ein lang- fristig angelegtes Förderprogramm „Gesund- heitsversorgungsforschung“ aufzulegen.

>Alle Kostenträger der Sozialversicherung sollen sich an der Finanzierung und Durchführung von Forschungsprojekten beteiligen.

>Jährlich sollte von der Bundesregierung ein Bericht über Fragen und Ergebnisse der Ge- sundheitsversorgungsforschung erstellt und veröffentlicht werden.

>Grundlagenforschung in der Versorgungsfor- schung muss künftig auch von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert werden.

>Erreichbarkeit und Sekundärnutzung von Pro- zessdaten (GKV-Daten) müssen verbessert wer- den.

>Für die Startphase der Versorgungsforschung ist eine Strukturförderung vorzusehen, ähnlich wie bei Koordinierungszentren für klinische Studien.

Hamburger 6-Punkte-Agenda

>Verbunden mit den Fortschritten der biotechno- logisch orientierten Medizin steigt der Bedarf an psychosozialer Medizin für Forschung, Ver- sorgung und Gesellschaft.

>Die Leistungserbringer der psychosozialen Medizin müssen sich neuen gesellschaftlichen und fachlichen Forderungen stellen.

>Einsparungen an psychosozialer Medizin machen die Gesundheitsversorgung deutlich teurer und ziehen volkswirtschaftliche Schäden nach sich. Ihr Ausbau verbessert und verbilligt hingegen das Gesundheitswesen.

>Die Optimierung der psychosozialen Ver- sorgung in der Medizin setzt eine effektive und effiziente Kooperation aller beteiligten Gruppen voraus.

>Eine qualifizierte Versorgung erfordert eine verbesserte und vernetzte Aus-, Fort- und Wei- terbildung aller Berufsgruppen in der psychoso- zialen Medizin.

>Die Bundesrepublik Deutschland bedarf einer wissenschaftlich fundierten Bestandsaufnahme der aktuellen psychosozialen medizinischen Versorgung im internationalen Vergleich.

Textkasten 2

Textkasten 1

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Die Ärzteschaft muß sich nachdrücklich dagegen wenden, daß die GOÄ er- neut dazu eingespannt werden soll, insbesondere die finanziellen Inter- essen der Beihilfe zu bedienen

Ist die Rolle der Angehörigen während der stationären Behand- lung eines Patienten eher passiv, so ändert sich das mit der Entlas- sung schlagartig: Auf einmal sind Angehörige

Mit dem System ist bereits jetzt eine umfassende und präzise Ana- mneseerhebung möglich, die auf- grund von Zeitproblemen in dieser Tiefe häufig gar nicht mehr durch den Arzt

Es wird Zeit, dass Ärztinnen (und das Buch richtet sich an die im Berufsleben schon fortgeschrittenen und immer wieder in ihre Schranken verwiesenen Ärztinnen) nicht nur lernen,

Nachsorge, Opfer- und Angehörigenhil- fe (NOAH) für Deutsche nach schwe- ren Unglücksfällen im Ausland, die vor gut einem Jahr bei der Zentralstelle für Zivilschutz

Danach umfasst die Gruppe der Hausärzte die Praktischen Ärzte, die be- reits zugelassenen Ärzte ohne Weiterbil- dung, die Fachärzte für Allgemeinmedi- zin sowie die Internisten

„Somit wer- den die entsprechenden Kostengewich- te nicht realistisch ermittelt.“ Dass qua- litätssichernde Maßnahmen im An- schluss an das Feststellungsverfahren Mängel bei

Zielgruppe Angebot Kontakt Region Weiterführende Informationen Erwachsene Beratung und Begleitung von Men-. schen mit seelischen Belastungen, Störungen und Erkrankungen sowie