A 102 Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 109|
Heft 3|
20. Januar 2012G
oethe beginnt sein Gedicht„Bei der Betrachtung von Schillers [vermeintlichem] Schädel“
mit den Versen „Im ernsten Bein- haus war’s ,wo ich beschaute,/Wie Schädel Schädeln angeordnet pass- ten,/Die alte Zeit gedacht ich, die er- graute. . . .“. Er mied im Alltag jegli- che Befassung mit Sterben und Tod, reagierte geradezu panisch darauf.
Gleichwohl, er hat den menschli- chen Zwischenkiefer entdeckt.
Auf eine Entdeckungsreise der besonderen Art können Besucher der Reiss-Engelhorn-Museen in den nächsten Monaten gehen. Die Aus- stellung „Schädelkult“ führt sie vom Neandertaler bis in die Neuzeit und zu fast allen Kulturen. Den Auftakt bildet der (Original-)Schä- del des genialen französischen Phi- losophen René Descartes (1596–
1650), dessen „Ich denke, also bin ich“ die zentrale Bedeutung „des Schädels“ heraushebt. Der sich an- schließenden Einführung dienen die Anatomie ebenso wie die Entwick- lungsstadien des menschlichen Schädels und auch die Herz-Hirn- Debatte der Antike sowie des Mit- telalters. Insbesondere mit den ge- zeigten prähistorischen Schädeltre- panationen wird Medizingeschichte spannend: Hier stellt sich die Frage, ob es sich dabei um kurative Ein- griffe oder rituelle Handlungen han- delte. Bereits diese erste Zeitreise schließt die Gegenwart mit all ihren technischen Mitteln und Untersu-
chungsmethoden ein. Diese werden im weiteren Verlauf immer dann hinzugezogen, wenn sie dem besse- ren Verständnis hilfreich sind.
Immenser Facettenreichtum
Der Gang führt weiter durch Vor- und Frühgeschichte mit ihren Schä- delkulten, Kannibalismus und jewei- liger Totenbehandlung. Besondere Faszination geht von einem mit Lehm übermodellierten Schädel aus dem Israelischen Museum Jerusa- lem aus: der erste Nachweis, dass bereits vor 9 000 Jahren Menschen ihrer Verstorbenen gedachten. Dem Gang durch die Zeit(-en) folgt der durch die Kulturen Afrikas, Asiens, Ozeaniens, Amerikas, Europas und umfasst deren regionale Besonder- heiten. Hier findet man unter ande- rem Schrumpfköpfe, Zeremonien- schädel, Kopfjagden, Schädelbe-cher, -masken, -deformationen, -tro- phäen und -bestandteile für Musik- instrumente. Insbesondere in Europa war der Facettenreichtum immens:
als „Memento mori“ in der bilden- den Kunst, als Reliquie oder zur Gestaltung von Grabmalen. Der menschliche Schädel war aber auch in verschiedensten Darreichungsfor- men beliebtes Remedium in europä - ischen Apotheken: „Der Mensch:
das Ebenbild: welches Gott ist an- genehm Hat vier und Zwanzig Stück zu Arzney bequem/Bein/
Marck/die Hirnschal auch/samt ih- rem Mos ist gut.“ (Becher 1663)
„Schädelfaszination heute“ be- schließt die schaurig-schöne, sehr empfehlenswerte Ausstellung mit:
„Der Schädel in der Ästhetik und dem Weltbild der Schwar- zen Szene“, „Zuckerschädel in Mexiko“, „Kriminalistik – Die Suche nach verlore- nen Gesichtern“, „Hirnfor- schung – ein Blick hinter den Schädel“, „Gefahren- symbol, Kultobjekt und Mo- deaccessoire“. Spätestens dann drängt sich der Schluss von „Bei der Betrachtung von Schillers Schädel“ auf:
„Was kann der Mensch im Le- ben mehr gewinnen,/Als dass sich Gott Natur ihm offenbare?/Wie sie das Feste lässt zu Geist verrin- nen,/Wie sie das Geisterzeugte fest
bewahre“.
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Dr. med. Stephanie Krannich Die Ausstellung „Schädelkult – Kopf und
Schädel in der Kulturgeschichte des Menschen” ist bis zum 29. April 2012 in den Reiss-Engelhorn-Museen, Museum Weltkulturen D5, 68159 Mann-
heim zu sehen. Öffnungszeiten: dienstags bis sonntags 11 bis 18 Uhr, montags geschlossen.
Der ausgezeichnete Begleitband zur Ausstellung kostet im Museum 19,90 Euro, im Buchhandel 29,90 Euro.
Weitere Informationen unter Telefon: 0621 2933150, www.rem-mannheim.de, www.schaedelkult.de.
INFORMATIONEN
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„Was ka s bis sonntags
REISS-ENGELHORN-MUSEEN
„Schädelstätte“ Mannheim
Mehr als 300 Exponate geben einen umfassenden Einblick in die Bedeutung von Kopf und Schädel in der Kulturgeschichte des Menschen.
Foto: dapd