DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
D
ie Aussagen über das Ge- sundheitswesen im Ent- wurf des Staatsvertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik sind gute Beispiele für das Dilemma der DDR: Man will zwar — hier im Gesundheitswesen, ein- schließlich der Krankenversiche- rung — auch in der DDR letztlich gleiche Verhältnisse wie in der Bundesrepublik. Zugleich ist man aber darauf bedacht, die in der DDR gewachsenen Struktu- ren zu schonen.Charakteristisch der für das Gesundheitswesen bedeutsame Absatz 2 des Artikel 22: „Neben der vorläufigen Fortführung der derzeitigen Versorgungsstruktu- ren, die zur Aufrechterhaltung der medizinischen Versorgung der Bevölkerung notwendig ist, wird die DDR schrittweise eine Veränderung in Richtung des Versorgungsangebotes der Bun- desrepublik Deutschland mit privaten Leistungserbringern vornehmen, insbesondere durch Zulassung von niedergelassenen Ärzten . . . und durch Zulassung
Staatsvertrag
Schrittweise Veränderungen
privater und freigemeinnütziger Krankenhausträger."
Zugesichert wird ferner, daß „zum Aufbau der erforderli- chen vertraglichen, insbesonde- re vergütungsrechtlichen Bezie- hungen zwischen Trägern der Krankenversicherung und den Leistungserbringern" die gesetz- lichen Rahmenbedingungen ge- schaffen werden sollen. DDR- Gesundheitsminister Prof. Dr.
Jürgen Kleditzsch ergänzte dazu auf dem 93. Deutschen Arztetag in Würzburg, man wolle „in kür- zester Zeit" nicht nur eine neue Niederlassungsordnung, son- dern auch die nötigen finanziel- len Voraussetzungen für eine Niederlassung, unter anderem eine neue Gebührenordnung, vorlegen.
Kleditzsch teilte ferner mit, daß das Gesundheitsressort der
DDR-Regierung auch für die Krankenversicherung zuständig sein werde. Er ließ in Würzburg erkennen, daß die DDR-Regie- rung nach wie vor zunächst an einen einheitlichen Träger für die Krankenversicherung denkt und ein gegliedertes System erst für die Zukunft ins Auge faßt.
Laut Staatsvertrag wäre vie- les möglich. In Artikel 21 heißt es relativ unverbindlich, die DDR wolle alle erforderlichen Maßnahmen einleiten, um ihr Krankenversicherungsrecht an das der Bundesrepublik anzu- gleichen. Weitaus verbindlicher heißt es hingegen in Artikel 18, zunächst würden die Aufgaben der Renten-, Kranken- und Un- fallversicherung von einem ge- meinsamen Träger durchge- führt. „Möglichst" bis zum Janu- ar 1991 sollen dann für die Ren- ten-, Kranken- und Unfallversi- cherung eigenständige Träger gebildet werden. Dabei bleibt offen, ob es sich beispielsweise bei der Krankenversicherung um einen einzigen oder um mehrere eigenständige Träger handeln wird. NJ
V
br dreißig Jahren wurden die deutschen Ärzte erst- mals mit einem Arznei- mittel konfrontiert, das ohne ih- re Verordnung nicht erhältlich war, aber keine ärztliche Indika- tion hatte: der „Pille". Gregory Pincus, ihr geistiger Vater, schrieb 1956 in der „Washington Post": „Die Aufgabe des Wis- senschaftlers ist, Experimente zu machen und ihre Ergebnisse zu veröffentlichen. Was danach ge- schieht, hat er, behauptet man, nicht zu vertreten." Entspre- chend mögen auch viele Kolle- gen gedacht haben, die im Ver- trauen auf die amtliche Regi- strierung zum Rezeptblock grif- fen. Dabei war die orale Kontra- zeption ein Geschenk für unzäh- lige Frauen — ob verheiratet oder ledig.Heute, dreißig Jahre später, wissen wir mehr über die „Pille", zum Beispiel, daß die meisten Frauen sie gut vertragen. Aber auch, daß die hormonelle
Ein Geburtstag wom■■•
30 Jahre „Pille"
Blockade nicht nur die Ovulati- on hemmt, sondern auch Blut- druckregulation oder die Blutge- rinnung treffen kann, daß die
„Minipille" noch keineswegs Ri- sikominimierung bedeutet. Re- gelmäßige ärztliche Überwa- chung, die noch nicht die Regel ist, kann die bekannten Risiken mindern, aber nicht ausschlie- ßen. Die fünfzehnjährige Apo- plektikerin, die leider keine Sel- tenheit ist, wird uns fragen, war- um wir ihr die „Pille" verordnet haben. Was werden wir ihr ant- worten?
Sie habe sie ja haben wol- len! Unterdrückung einer phy- siologischen Funktion aus sozia- ler, philanthroper Indikation — auf ärztliche Verordnung, sollte uns das nicht nachdenklich ma-
chen? Daß eine solche Maßnah- me regelmäßiger ärztlicher Überwachung bedarf, steht au- ßer jedem Zweifel. Aber sollten wir sie verordnen?
Es läßt sich daran nichts mehr ändern, wir werden die
„Pille" weiter verordnen. Aber der Damm ist gebrochen, schon verordnen nicht wenige Kollegen
„Ersatzdrogen", vom Gesetzge- ber ausdrücklich als „nicht ärzt- lich begründet" erklärt. Nicht nur in der Arzneibehandlung sollten wir zu unserer ursprüng- lichen ärztlichen Aufgabe zu- rückfinden, Krankheiten zu ver- hindern oder zu heilen und Lei- den zu lindern. Gesunde zu ma- nipulieren sollte der Gesetzge- ber verbieten oder ausdrücklich gestatten und damit verantwor- ten. Den Ärzten verbliebe dabei, die Manipulierten, soweit mög- lich, vor gesundheitlichen Schä- den zu bewahren und Folgeer- krankungen zu behandeln.
Karl H. Kimbel, Hamburg
Dt. Ärztebl. 87, Heft 22, 31. Mai 1990 (1) A-1741