AKTUELLE POLITIK
DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
undesarbeitsminister
B
Norbert Blüm nutzte den Er- Dr.satzkassentag 1990 zu einer bemerkenswerten politischen Aussa- ge: erstmals sagte er in aller Öffent- lichkeit, wie er sich die Absicherung der Pflege vorstellt.
An sich setzte sich der Ersatz- kassentag am 26. September in Bonn schwerpunktmäßig mit den Entwick- lungen in der DDR — die es zu dieser Zeit formal noch gab — auseinander.
Und auch Blüm widmete sich selbst- verständlich diesem sein Ministeri- um seit Wochen in Trab haltenden Thema genau so wie Prof. Dr. Jürgen Kleditzsch, der am 26. September noch DDR-Gesundheitsminister war. Beide beschäftigten sich vor al- lem mit dem ominösen Abschlag auf Honorare und Arzneimittelpreise.
Blüm beharrte in seiner offiziellen.
Rede auf dem zur Genüge bekann- ten Standpunkt seines Hauses, Ärz- te, Zahnärzte und Arzneimittelher- steller müßten sich mit einem „Ein- stiegswinkel von 45 Prozent" für ihre Honorare und Preise begnügen, weil der dem Lohngefälle entspräche.
Kleditzsch kämpfte mannhaft für ei- ne angemessene Honorierung, damit den Ärzten nicht von vornherein die Niederlassung unmöglich gemacht werde (die Position Blüm/Kleditzsch beschreibt bereits der Aufmacher in Heft 39).
Doch Blüm ließ auch beim Er- satzkassentag durchblicken, daß er sich wohl für Kompromisse erwär- men kann. Wahrscheinlich dürfte es ihm sogar zupaß kommen, wenn ihm Auswege aus der Sackgasse gewiesen werden. Schon beizeiten hatte Blüm in einer anderen kritischen Frage sein Geschick bewiesen, aus Sack- gassen herauszukommen. Bei der Al- ternative: Einheitskasse oder geglie- derte Versicherung hatte er rechtzei- tig noch die Weichen richtig gestellt
— in Richtung gegliedertes System.
Zur Genugtuung nicht zuletzt der Ersatzkassen. Der Verbandsvorsit- zende der Angestellten-Ersatzkas- sen, Karl Kaula, feierte den Bundes- arbeitsminister denn auch als be- herzten Retter in der Not.
Von seiten der Ersatzkassen wurde mehr oder weniger deutlich — am deutlichsten von Geschäftsführer Dr. Eckart Fiedler — zum Ausdruck
Ersatzkassentag 1990
gebracht, daß man sich an jene 45-Prozent-Vorgabe nicht unbedingt gebunden fühlt: Es war von Aufbes- serungen um 15 bis 25 Prozentpunk- te (!) die Rede. Dr. Ulrich Oesing- mann, der Erste Vorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereini- gung, erkannte ausdrücklich an, daß in den Verhandlungen mit den Er- satzkassen von Anfang an Überein- stimmung darüber bestanden habe, dem niedergelassenen Arzt müsse ei- ne angemessene Vergütung zuge- standen werden, die auch die erfor- derlichen Investitionskosten abdecke (dazu auch der nachstehende Bei- trag). Übereinstimmung auch von Kleditzsch und Oesingmann. Der Vorsitzende des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie, Dr.
Hubertus von Loeper, erneuerte, gleichfalls in Übereinstimmung mit Kleditzsch, das Angebot eines Ra- battes auf Arzneimittel, die zu La- sten der Krankenversicherung in der bisherigen DDR verkauft werden.
Auch hier signalisierte Blüm Einlen- ken.
Nun aber zu den Vorstellungen des Bundesarbeitsministers für die nächste Legislaturperiode, die Pfle- ge betreffend. Blüm bot zunächst
„Bausteine" an:
Hilfen für alle Pflegebedürf- tigen, ohne Rücksicht auf Ursache und Alter
O Vorrang für die Hauspflege
• Ausgewogenes Verhältnis von Geld- und Sachleistungen
O Zumutbarer Beitrag des Pflegebedürftigen zu den Kosten
O Gewährung der Hilfen von einer einzigen Stelle und
O Konzentration der Pflegelei- stung bei einem Träger
Punkt 5 und 6 gehören eng zu- sammen; sie machen den Kern von Blüms Vorschlag aus. Blüm stellt sich als Träger die Krankenkassen vor. Der Übergang von Langzeiter-
krankung und Pflege sei fließend, ei- ne Verzahnung „unter dem Dach der Krankenkassen" biete sich an.
Die Krankenversicherung verfüge über eine ortsnahe Organisation und könne zwischen Pflegeheimen und Krankenhäusern koordinieren.
Unter dem „Dach der Kranken- kassen" bedeutet laut Blüm nicht, daß die Krankenkassen „auch die Zahlmeister sind". Zur Finadzierung müßten vielmehr alle beitragen. Der einzelne durch Beiträge, die Länder durch Investitionskosten („in Analo- gie zur Krankenhausfinanzierung").
„Der Bund wird seinen Beitrag zu laufenden Kosten leisten müssen", kündigte der Bundesarbeitsminister an, „das gilt besonders, solange die in Pflege Befindlichen für ihre Pflege nicht durch eigene Beiträge vorsor- gen können."
Vertreter der Ersatzkassen lie- ßen noch während des Ersatzkassen- tages durchblicken, daß sie sich mit einer solchen Lösung anfreunden könnten. Bedingung dabei sei es frei- lich, daß die Krankenkassen ledig- lich die Abwicklung übernähmen, nicht aber die Finanzierung im Rah- men der Krankenversicherungsbei- träge tragen müßten.
Blüms Vorschlag beim Ersatz- kassentag war ein erstes politisches Signal. Bis zur Umsetzung der Idee werden die Wogen noch hochgehen, und der Vorschlag wird gewiß modi- fiziert und präzisiert werden. Fürs erste jedenfalls gilt es, ab 1991 den
„Einstieg" in die Pflege, der mit dem Gesundheits-Reformgesetz geschaf- fen worden ist, in die Tat umzuset- zen. Denn ab 1. Januar stehen in ganz Deutschland für die Schwerst- pflegebedürftigen 450 DM Pflege- geld oder 750
DM
für Sachleistun- gen pro Monat bereit. Und nicht nur Blüm fragt sich, ob die derzeitige In- frastruktur ausreicht, dieses Angebot in konkrete Hilfen umzusetzen. NJEinstieg in die Pflege und
Einstiegswinkel in die alte DDR
Dt. Ärztebl. 87, Heft 41, 11. Oktober 1990 (17) A-3093