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Vom Protest zum Widerstand Radikalisierung und terroristisches Potential junger Erwachsener

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Academic year: 2022

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Vom Protest zum Widerstand

Radikalisierung und terroristisches Potential junger Erwachsener

M a s t e r a r b e i t

zur Erlangung des akademischen Grades eines Magisters der Philosophie an der Karl-Franzens-Universität Graz

vorgelegt von

Gerald Kohne, MA

am Institut für Erziehungs- und Bildungswissenschaft Begutachterin: Ao. Univ.-Prof.

in

Dr.

in

Regina Mikula

Graz, 2019

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Ehrenwörtliche Erklärung

Ich erkläre hiermit ehrenwörtlich, dass ich die vorliegende Arbeit selbstständig verfasst, andere als die angegebenen Quellen und Hilfsmittel nicht benutzt und die den Quellen wörtlich oder inhaltlich entnommenen Stellen als solche kenntlich gemacht habe. Die Arbeit wurde bisher weder im In- noch im Ausland in irgendeiner Form einer anderen Prüfungsbehörde vorgelegt und auch noch nicht veröffentlicht. Die vorliegende Fassung entspricht der eingereichten elektronischen Version.

Graz, am 30. April 2019

(Gerald Kohne)

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Danksagung

Ich bedanke mich in erster Linie bei meiner Betreuerin Ao. Univ.-Prof.in Dr.in Regina Mikula, die trotz der schwierigen Umstände meines zweijährigen Auslandsaufenthalts und meiner Berufstätigkeit stets bereit war, mich beim Schreiben der vorliegenden Arbeit zu unterstützen und die immer zuverlässig erreichbar war.

Mein Dank gilt auch meinen Freundinnen und Freunden, die mich inspiriert, zu verschiedenen Gedanken angeregt und dazu motiviert haben, meine Begeisterung für das Thema in eine Masterarbeit zu gießen. Ein besonderer Dank für's Korrekturlesen geht an Martin, Jan und Hans-Peter, der mit seiner direkten, lustigen Art dazu beigetragen hat, Heiteres in die dunkle Thematik zu bringen.

Den vielen Teilnehmer/innen meiner Befragung möchte ich dafür danken, dass sie sich Zeit und Muße genommen haben, sich mit diesem komplexen Thema zu befassen und dadurch einen wesentlichen Beitrag zum Gelingen dieser Arbeit geleistet haben.

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Zusammenfassung

Die vorliegende Untersuchung wurde durchgeführt, weil gesellschaftliche Aufstände von Protesten bis hin zu Terrorismus allgegenwärtig sind und der dabei oft stattfindende Radikalisierungsprozess für die Erwachsenen- und Weiterbildung von Interesse ist. Ziel der Arbeit war es, herauszufinden, ob Bildung Einfluss auf extremistische Tendenzen hat und in der Lage ist, diese durch Weiterbildungsangebote zu unterbinden. Darüber hinaus soll das terroristische Potential junger Erwachsener erforscht werden. Um dieses greifbar zu machen, wurde ein Kriterienkatalog erstellt. Die Untersuchung wurde mit ei- ner Onlinebefragung und einem Expert/inneninterview realisiert. Die Befragung hat ein großes terroristisches Potential Einzelner ergeben, das sich bei Vorhandensein einer re- volutionären Situation entfalten würde.

Abstract

The present study was conducted because social rebellions from protests to terrorism have become ubiquitous and the often occurring radicalization process is interesting for further education studies. The aim of this paper was to determine whether education has an influence on extremist tendencies and can prevent them through further education programs. In addition, the terrorist potential of young adults is to be researched. To make this tangible, a list of criteria was created. The investigation was carried out with an online survey and an expert interview. The survey has revealed a high terrorist potential that would unfold in the presence of a revolutionary situation.

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Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung S. 7

2 Begriffsbestimmungen S. 9

2.1 Protest S. 9

2.2 Widerstand S. 9

2.3 Terrorismus S. 9

2.4 Junge Erwachsene S. 11

2.5 Extremismus S. 11

2.6 Linksextremismus S. 12

3 Sozialrevolutionärer Terrorismus S. 13

3.1 BRD: Rote Armee Fraktion (RAF) S. 13

3.1.1 Die erste Generation der RAF S. 14

3.1.2 Die zweite Generation der RAF S. 15

3.1.3 Der Deutsche Herbst S. 15

3.1.4 Die dritte Generation der RAF S. 16

3.2 BRD: Bewegung 2. Juni S. 17

3.3 Italien: Brigate Rosse S. 18

3.4 Frankreich: Action Directe S. 21

3.5 Belgien: Kämpfende Kommunistische Zellen S. 22

3.6 Österreich: Terroranschläge von links und rechts S. 22 4 Terrorismus heute und aktuelle Herausforderungen S. 24 4.1 Aktuelle Herausforderungen: Demonstrationen und Streiks in EU-

Ländern

S. 24

4.2 Terrorismus heute: Der IS und sein Ende S. 25

5 Radikalisierung S. 27

5.1 Gesellschaftliche und politische Ereignisse, die Radikalisierung auslösen

S. 28

5.1.1 Der 2. Juni 1967 als Wendepunkt S. 29

5.2 Radikalisierung gestern: Die Rekrutierung von Terrorist/innen durch

das Sozialistische Patientenkollektiv S. 31

5.3 Radikalisierung gestern: Rote Hilfe S. 32

5.4 Pädagog/innen des Proletariats: Die Heimkampagne S. 33

5.4.1 Der Film „Bambule“ S. 34

5.5 Persönliche und private Ereignisse, die Radikalisierung auslösen S. 34

(6)

5.5.1 Die Radikalisierung von Ulrike Meinhof S. 35 5.6 Auslösende Faktoren der Radikalisierung heute S. 38 5.7 Biographische Auffälligkeiten von Terrorist/innen, die eine

Radikalisierung begünstigen S. 40

5.8 Radikalisierung heute: Internet und soziale Medien S. 43

5.9 Orte der Radikalisierung S. 46

6 Bildung und Terrorismus S. 49

6.1 Bildungsbiographien der RAF-Terrorist/innen S. 49

6.2 Bildungsbiographien der IS-Terrorist/innen S. 51

6.3 Radikalisierungsprävention durch die Erwachsenen- und Weiterbildung

S. 52 6.4 Praxis der Radikalisierungsprävention in einer

Weiterbildungsinstitution S. 56

7 Analyse der Befragungsergebnisse S. 58

7.1 Abbruchgründe S. 58

7.2 Einstiegsfragen S. 59

7.3 Einschätzungen S. 66

7.4 Einstellungen S. 68

7.5 Bewertung von Aussagen S. 75

7.6 Interpretation der Ergebnisse S. 84

7.6.1 Nutzen von Weiterbildungsteilnahme S. 84

7.6.2 Die Schritte vom Protest zum Widerstand S. 85

7.6.3 Das Fehlen einer revolutionären Situation S. 86

7.6.4 Terroristisches Potential S. 87

8 Fazit S. 91

9 Literaturverzeichnis S. 94

10 Abbildungsverzeichnis S. 100

11 Anhang S. 101

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1

Einleitung

Sozialrevolutionärer Terrorismus ist out. Eine Revolution ist nicht angesagt. Doch wie schnell können sich die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse ändern? Wendet man seinen Blick gen Westen, in das Mutterland der Revolution, Frankreich, kommt man an den Protesten der Gelbwesten nicht vorbei. Die Demonstrationen und Streiks laufen seit Monaten ohne Unterlass, auch Zugeständnisse des Präsidenten Macron brachten kein nennenswertes Abschwächen der Proteste. Sieht man sich in unserer un- mittelbaren Nähe liegende Länder wie Ungarn, Slowakei, Kroatien, Rumänien, Serbien und Montenegro an, scheinen Demonstrationen gegen die dort herrschenden, oft korrup- ten Regierungen immer größere Ausmaße anzunehmen. Und selbst in Österreich sind die Donnerstagsdemos gegen die Bundesregierung Alltag geworden. Wer sind nun diese Menschen, die ihre Missbilligung der Politik in regelmäßigen Abständen auf die Straße tragen? Wie weit würden Demonstrant/innen gehen, um ihrer Wut, ihrer Enttäuschung Ausdruck zu verleihen? Welcher Funke zündet das Feuer zur Revolution? Die Kernfra- ge dieser Arbeit ist, welche Umstände dazu führen, dass Protest zu Widerstand wird und darüber hinaus, welche Formen der Widerstand annimmt. Ob er sich in harmlosen Streiks äußert oder ob Menschen für eine politische Frage in den Untergrund gehen würden und wann Menschen zu Terrorist/innen werden. Es scheint, als würde sich die Wut über die herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse, ob von links oder rechts, in Ermangelung einer revolutionären Situation heute vermehrt in Delinquenz junger Er- wachsener äußern.

Zunächst widmet sich das zweite Kapitel den Begriffsbestimmungen, die für das Ver- ständnis und die begriffliche Unterscheidbarkeit notwendig sind. Der dritte Teil der vor- liegenden Masterarbeit wirft einen Blick zurück auf vergangene Zeiten, in das 20. Jahr- hundert, in dessen zweiten Hälfte der sozialrevolutionäre Terrorismus junge Menschen mit terroristischem Potential euphorisierte. Dieses Potential wurde vor allem in der Bundesrepublik Deutschland und in Italien, aber auch unter anderem in Frankreich und Belgien ausgeschöpft. Nach der historischen Rückschau befasst sich der vierte Ab- schnitt mit dem Terrorismus des Islamischen Staats, mit dem sich die Gesellschaft ge- genwärtig auseinanderzusetzen hat, sowie mit aktuellen Herausforderungen wie Streiks und Demonstrationen in diversen EU-Ländern.

(8)

In Kapitel 5 werden die Vorgänge der Radikalisierung beschrieben. Dabei geht es zu- nächst um die gesamtgesellschaftliche Ebene und die Frage, welche politischen Ereig- nisse Radikalisierung begünstigen, um dann das individuelle Level der persönlichen und privaten Ereignisse sowie biographische Auffälligkeiten, die eine Radikalisierung auslö- sen können, zu beleuchten. Die Rekrutierung von Terrorist/innen gestern unterscheidet sich wesentlich von der heutigen. Diese Differenzen werden jeweils am Beispiel der RAF und des IS aufgezeigt. Auch der Ort, an dem Gewalttäter/innen rekrutiert werden, spielt eine wichtige Rolle. Kapitel 6 stellt schließlich einen Zusammenhang zwischen Bildung und Terrorismus her und erläutert dabei die Bildungsbiographien von ausge- wählten Terrorist/innen. Bildung kann Positives bewirken, indem gerade Weiterbil- dungseinrichtungen Fortbildungen zu Radikalisierungsprävention oder zur Aufklärung über Terrorismus anbieten können. Zudem wird die Praxis der Radikalisierungspräven- tion in einer Weiterbildungsinstitution auf Grundlage eines Expert/inneninterviews be- leuchtet.

Im zweiten großen Abschnitt der Masterarbeit werden die Ergebnisse der Befragung analysiert. Knapp 150 Menschen meiner Zielgruppe nahmen an der Onlineumfrage über Radikalisierung und terroristisches Potential junger Erwachsener teil. Die Befragung liefert teilweise unerwartete und spannende, in machen Bereichen auch erwartbare Er- gebnisse. Diese werden ausführlich geschildert und ausgewertet, um schließlich ein Fa- zit zu ziehen.

Die wichtigste Ausformulierung des Leitgedankens der Arbeit liefert die RAF-Terroris- tin Ulrike Meinhof (1968, S. 5): „Protest ist, wenn ich sage, das und das passt mir nicht.

Widerstand ist, wenn ich dafür sorge, dass das, was mir nicht passt, nicht länger ge- schieht“.

(9)

2

Begriffsbestimmungen

Der Titel der vorliegenden ArbeitVom Protest zum Widerstand. Radikalisierung und terroristisches Potential junger Erwachsenersteckt voller Begriffe, die auf den ersten Blick logisch erscheinen, die aber doch einer näheren Erläuterung bedürfen, will man bei der Analyse eine scharfe Abgrenzung zwischen ihnen vornehmen.

2.1 Protest

Protest ist eine legitime Form der Willensbekundung des Volkes und wird in Demokra- tien als Stärke der freien Zivilgesellschaft verstanden. „Protest führt nicht grundsätzlich zu irgendeiner Form des abweichenden politischen Verhaltens“ (Bötticher/Mareš 2012, S. 53). Protest läuft in der Regel legal und gewaltfrei ab. Gruppierungen wie die RAF, ETA oder IRA sind aus entsprechenden Bewegungen entstanden. Der Duden (2019) de- finiert Protest als „meist spontane und temperamentvolle Bekundung des Missfallens, der Ablehnung“.

2.2 Widerstand

Widerstand ist eine Form politischer Opposition, die mit illegalen Praktiken operiert.

Dabei bedeutet Opposition, dass sich die Gegnerschaft gegen die gesamtstaatlichen Ver- hältnisse, gegen die Regierung oder gegen bestimmte Vorhaben der Regierenden richtet.

Wendet man Widerstand an, bedeutet das gleichzeitig, dass man bewusst in Kauf nimmt, gegen Gesetze des Staates zu verstoßen. Der Begriff kann in aktiven/gewaltsa- men und passiven/gewaltfreien Widerstand (beispielsweise durch Emigration) eingeteilt werden (vgl. Ballestrem 2013, S. 69). „Wer aktiv Widerstand leistet, ist demnach bereit, Gewalt gegen Personen anzuwenden (bis hin zum Mord an Amtsträgern), wer passiv Widerstand leistet übt […] gewaltlosen Ungehorsam gegen Gesetze und Anordnungen bzw. versucht, sich diesen zu entziehen“ (ebd., S. 69). Laut Duden (2019) bedeutet Wi- derstand „das Sichwidersetzen, Sichentgegenstellen“.

2.3 Terrorismus

„Terrorismus ist Folge einer gewalttätigen Eskalation von Konflikten“ (Eckert 2012, S. 229). „Terrorismus kann definiert werden als eine andauernde und geplante Gewalt-

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anwendung mit politischer Zielsetzung, um mittels terroristischer Mittel das (politische) Verhalten des Gegners zu beeinflussen“ (Dietl/Hirschmann/Tophoven 2006, S. 17).

Die Geschichte des Terrorismus beginnt im 11. Jahrhundert mit einer radikalen Sekte aus Persien, angeführt von Hasan-i Sabbah. Deren Ziel ist es, Gegner umzubringen, ins- besondere Herrscher aus dem Nahen Osten und Kreuzfahrer aus Europa. Die erste Flug- zeugentführung wird bereits 1931 durch Rebellen in Peru verübt (vgl. ebd., S. 359).

Terrorismus kann vielschichtige Motive und Ausprägungen haben, weshalb man folgen- de Kategorien unterscheidet: Ethno-nationaler Terrorismus (säkularer Terrorismus im Nahen Osten durch die PLO, PKK (Partiya Karkeren Kurdistan/Arbeiterpartei Kurdi- stans) in Kurdistan, ETA (Euskadi Ta Askatasuna/Baskenland und Freiheit) in Spanien, IRA (Irish Republican Army) in Irland), Sozialrevolutionärer Terrorismus (RAF, Bewe- gung 2. Juni und Revolutionäre Zellen in Deutschland, Brigate Rosse in Italien, Action Directe in Frankreich), Terrorismus mit staatlicher Beteiligung sowie Islamismus und Dschihadismus. Eine weitere Unterscheidung existiert nach den Durchführungsformen des Terrorismus. Dabei wird differenziert zwischen konventionellem Terrorismus, Selbstmordattentäter/innen, maritimem Terrorismus, nuklearen, biologischen und che- mischen Waffen, Briefbomben (Franz Fuchs) sowie Cyberterrorismus (vgl. ebd., S. 5-7). Terrorismus findet nicht nur in weit von uns entfernten Gebieten der Welt wie dem arabischen Raum oder den USA statt, sondern auch in Europa. Man denke an die Bomben in Nahverkehrszügen in Madrid 2004 mit 191 Toten (vgl. ebd., S. 176) oder an jene in der Londoner U-Bahn 2005 mit 57 Toten (vgl. ebd., S 183).

Es können sieben Merkmale festgemacht werden, die Terrorismus auszeichnen. Das ers- te ist, dass Terroranschläge politisch motiviert sind. Alles andere würde man einfach als Verbrechen definieren. Zweitens muss Gewalt angewandt oder zumindest angedroht werden. Das dritte Merkmal des Terrorismus ist der Zweck, der darin besteht, eine Bot- schaft zu verkünden. Viertens haben der Anschlag und die Opfer in der Regel symboli- sche Bedeutung. Die psychologische Wirkung muss größer sein als der physische Scha- den. Das fünfte Charakteristikum ist die Vorgehensweise, die von Gruppen auf substaat- licher Ebene ausgeht, in der Regel nicht von Staaten. Sechstens sollte zwischen Opfern der Gewalt und Adressat/innenkreis, den die Terrorist/innen erreichen wollen, unter- schieden werden. Die Betroffenen werden als Mittel eingesetzt, um das Verhalten eines

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größeren Personenkreises zu beeinflussen. Opfer werden entweder zufällig ausgesucht oder sind Repräsentant/innen einer Institution, der Attentäter/innen feindlich gegenüber- stehen. Das letzte Merkmal des Terrorismus ist, dass er meist bewusst gegen Zivilist/in- nen gerichtet ist (vgl. Richardson 2007, S. 28-30). Mit dieser Definition bezieht sich die irische Politikwissenschafterin Richardson hauptsächlich auf islamistisch motivierten Extremismus. Sozialrevolutionärer Terrorismus hingegen zielt darauf ab, politische Ent- scheidungsträger/innen dazu zu bringen, ihre Bedingungen zu akzeptieren und vermei- det in der Regel zivile Opfer.

2.4 Junge Erwachsene

Der österreichische Gesetzgeber definiert im Bundes-Jugendförderungsgesetz und Bun- des-Jugendvertretungsgesetz junge Erwachsene als Menschen zwischen 18 und 30 (vgl.

Bundeskanzleramt 2019).

2.5 Extremismus

Der Begriff Extremismus wird in dieser Arbeit häufig gebraucht. Er beschreibt die For- derung nach einer radikalen Änderung der aktuellen Zustände. Vor allem die politische Linke hegt diesen weitreichenden Anspruch. Die Vorstellung davon, was als extrem gilt und was nicht, hängt von der jeweiligen Kultur und dem dortigen gesellschaftlichen Grundkonsens ab. Man denke an die besonders gesellschaftsliberale Einstellung in den Benelux-Ländern und vergleiche sie mit arabischen Staaten. Darüber hinaus muss zwi- schen extremistischen Ideen und Taten unterschieden werden (vgl. Neumann 2016, S. 29-31).

Die Unterscheidung zwischen den gemäßigten und extremistischen politischen Strö- mungen, also zwischen rechts und rechtsextrem, links und linksextrem oder islamisch und islamistisch, ist wichtig. „So ist der Wunsch nach Abschaffung des Kapitalismus zwar links, aber nicht linksextrem, weil in der Verfassung die Frage der Wirtschaftsord- nung [in Deutschland, Anm. d. Verf.] offen gehalten ist“ (Eckert 2012, S. 279). Eine Forderung nach einer Diktatur des Proletariats wäre hingegen extremistisch. Eine isla- misch geprägte Lebensweise muss ebenfalls von der Einführung der Scharia, welche eindeutig extremistisch wäre, unterschieden werden. In einer demokratischen Auseinan- dersetzung müssen gegnerische Positionen ertragen werden (vgl. ebd., S. 279).

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2.6 Linksextremismus

Die Merkmale des Linksextremismus sind Antikapitalismus, Egalitarismus, Antifaschis- mus, Antimilitarismus, Internationalismus und Environmentalismus. Besonders die Kri- tik am Kapitalismus und die daraus resultierenden Machtverhältnisse sind prägend für den Linksextremismus. Heute werden oft die unsicheren Lebensverhältnisse, das Preka- riat und eine instabile Arbeitswelt von den Linken kritisiert. Die Gleichheitsidee mit der Verwirklichung einer klassenlosen Gesellschaft und die Unterstützung gesellschaftli- cher Randgruppen sind unter Linken besonders populär. Am Internationalismus kritisie- ren linke Gruppierungen vor allem die internationale Zusammenarbeit kapitalistischer Staaten und deren Organisationen wie NATO oder IWF. Zudem wird die Europäische Union als neoliberales Projekt angesehen. Die Umsetzung der Revolutionsideen kann vom individuellen anarchistischen Terrorismus bis hin zu einer Massenrevolution leni- nistischer Prägung reichen, mit Abstufungen wie punktuellen Revolutionsaktionen mit negativen Folgen für bisherige Herrschaftsverhältnisse wie zB der kommunistische Staatsstreich in der Tschechoslowakei 1948. Gegenwärtig existieren kommunistische Regimes in China, Nordkorea, Vietnam, Laos und Kuba. Schwieriger ist die eindeutige Einordnung in linksextremistische Regimes. Ansatzweise trifft diese Kategorie auf Län- der wie Bolivien und Venezuela, Weißrussland sowie zentralasiatische postsowjetische Staaten zu (vgl. Bötticher/Mareš 2012, S. 363-371).

(13)

3

Sozialrevolutionärer Terrorismus

Seit dem 11. September 2001 ist das Thema Terrorismus wieder allgegenwärtig. Durch die vielen islamistisch motivierten Anschläge in Westeuropa (Madrid 2004, London 2005, Paris 2015, Brüssel 2016, Berlin 2016 usw.) hat sich der Blickwinkel hin zu reli- giös motiviertem Terrorismus verschoben. Das war nicht immer so. In den 1970er-Jah- ren lag der Fokus in Westeuropa durch die vielen Anschläge der RAF, Bewegung 2.

Juni und Revolutionären Zellen in der Bundesrepublik Deutschland, der Brigate Rosse in Italien oder der Action Directe in Frankreich eindeutig auf sozialrevolutionärem Ter- rorismus. Diese Terrororganisationen haben sich allesamt aufgelöst. Zeitlich ging die Auflösung mehr oder weniger mit jener der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken einher. Durch den Zerfall real existierender sozialistischer Staaten fiel auch die Diskus- sions- und Argumentationsgrundlage für eine sozialistischen Gesellschaftsordnung nach Karl Marx, nach der der sozialrevolutionäre Terrorismus strebte, weg (vgl. Straßner 2008, S. 9-10).

Ziele des sozialrevolutionären Terrorismus sind „[...] allgemein weit reichende politi- sche und gesellschaftliche Veränderungen eines Systems nach den Vorstellungen von Karl Marx oder der mit dem Marxismus verwandten oder aber aus ihm hervor gegange- nen Ideologien. Motiv für die angestrebte gewaltsame Veränderung eines Systems ist eine perzipierte soziale oder ökonomische Schieflage, die auf systemkonformem Wege nicht zu beseitigen ist, da die Eliten des Systems an eine qualitative Veränderung des Systemcharakters zu verhindern suchen“ (Straßner 2008, S. 20). Dadurch wird der sozi- alrevolutionäre Terrorismus zu einem „Erklärungs- und Rechtfertigungsterrorismus“

(ebd., S. 20).

3.1 BRD: Rote Armee Fraktion (RAF)

Die linksextremistische und terroristische deutsche Rote Armee Fraktion (RAF) lässt sich der Kategorie sozialrevolutionärer Terrorismus bzw. Linksterrorismus zuordnen.

Dieser erlebte seine intensivste Phase in den 1970er-Jahren und dauerte bis in die 1990er an. Seine Existenz erübrigte sich mit dem Verschwinden real existierender sozi- alistischer Staaten. Das Ziel des Linksterrorismus war die politische Neuausrichtung der als imperialistisch-kapitalistisch angesehenen westlichen Gesellschaft. Sie ging aus dem linken Rand der Post-68er-Bewegungen hervor und griff in der Regel Herrschende (Po-

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litiker, Geschäftsführer) sowie symbolträchtige Gebäude an. Diesem Spektrum lässt sich die RAF als linke Untergrundorganisation zuordnen. Vor allem in den 1970er-, aber auch in den 1980er-Jahren prägte sie die politische Gewaltszene in Deutschland.

Die vier Hauptfiguren und Gründungsmitglieder sind Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Horst Mahler und Ulrike Meinhof. Als Vorbild dienten der Baader-Meinhof-Gruppe (so wurde die RAF in ihren Anfangsjahren genannt) südamerikanische Stadtguerillabanden, die gegen das herrschende System kämpften (vgl. Dietl et al. 2006, S. 69).

3.1.1 Die erste Generation der RAF

Die Geburtsstunde erlebte der deutsche Linksterrorismus mit dem Kaufhausbrand in Frankfurt am Main 1968 als Protest gegen den Konsumterror. Baader, Ensslin und zwei weitere spätere RAF-Mitglieder hatten die Tat verübt. Sie wurden bereits drei Tage nach der Aktion festgenommen und zu jeweils drei Jahren Haft verurteilt. Aufgrund ei- ner Revision des Urteils durch den Bundesgerichtshof kamen die Verurteilten unter Vorbehalt wieder frei und Baader und Ensslin gingen in den Untergrund. Bereits 1970 wurde Baader bei einer Verkehrskontrolle erneut verhaftet. Die erste Aktion der RAF war die Befreiung Baaders 1970. Er wurde von Ensslin und Meinhof unter Schusswaf- fengebrauch während eines Bibliotheksbesuchs befreit. Von diesem Zeitpunkt an nannte sich die Gruppe RAF und zählte bereits 20 Mitglieder. Führende Köpfe der Baa- der-Meinhof-Gruppe gingen nach Jordanien und Syrien, um in Trainingscamps der PLO (Palestine Liberation Organization/Palästinensische Befreiungsorganisation) terroris- tisch ausgebildet zu werden. In der Aufbauphase verübte die RAF Banküberfälle, Fahr- zeug- und Dokumentendiebstähle. Das erste Opfer der RAF war ein Polizist, der 1971 bei einer Personenkontrolle erschossen wurde. Im Jahr darauf verübte die Rote Armee Fraktion einen Sprengstoffanschlag auf ein Quartier der US-Armee in Frankfurt am Main, bei dem ein Soldat getötet wurde. 1972 wurden bei einem Anschlag auf das Hauptquartier der US-Armee in Heidelberg drei Soldaten getötet. Daraufhin wurden bei einer Fahndungsaktion führende RAF-Mitglieder, darunter Baader, Ensslin und Mein- hof, gefasst. Im April 1977 wurden sie zu lebenslanger Haft verurteilt (vgl. Dietl et al.

2006, S. 72-74).

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3.1.2 Die zweite Generation der RAF

Danach eskalierte der Terror erst richtig. Aus den Zellen des Hochsicherheitstraktes in Stuttgart-Stammheim setzten die Gefangenen ihre Aktionen fort. Sie traten öfter in Hungerstreiks. 1974 endete jener für Holger Meins trotz Zwangsernährung tödlich. Dar- aufhin wurden die Bedingungen für die RAF-Gefangenen in den Haftanstalten gelo- ckert. Dadurch konnten sie Kontakt zu den noch im Untergrund lebenden Mitgliedern knüpfen. Somit wurde die zweite Generation der RAF aktiv und sah ihre Aufgabe darin, ihre inhaftierten Gesinnungsgenoss/innen freizupressen. Die erste diesbezügliche Akti- on war die Besetzung der deutschen Botschaft in Stockholm 1975, bei der zwölf Gei- seln genommen wurden. Die zweite Generation der RAF forderte die Freilassung von 26 Häftlingen der Roten Armee Fraktion. Bei der Aktion explodierten die Sprengladun- gen, woraufhin zwei Geiseln sowie zwei Geiselnehmer ums Leben kamen. Eine Ausein- andersetzung um die ideologische Ausrichtung der RAF unter den inhaftierten Füh- rungsmitgliedern gipfelte im Suizid von Ulrike Meinhof 1976 (vgl. Dietl et al. 2006, S.

74-75).

3.1.3 Der Deutsche Herbst

Im Februar 1977 wurde das RAF-Mitglied Brigitte Mohnhaupt aus der Haft entlassen.

Sie sollte Führungsaufgaben übernehmen, tauchte sofort in den Untergrund ab und be- sorgte Waffen für die bevorstehenden Großaktionen. Zwei Monate darauf tötete die RAF Generalbundesanwalt Siegfried Buback, seinen Fahrer und einen Polizisten. Wie- derum drei Monate später wurde der Vorstandssprecher der Dresdner Bank Jürgen Pon- to in seinem Haus bei einem Entführungsversuch erschossen. Im September 1977 schließlich entführte die RAF den Präsidenten des Arbeitgeberverbandes Hanns-Martin Schleyer. Sein Fahrer und drei Polizisten wurden dabei ermordet. Die Entführer forder- ten die Freilassung von elf Gefangenen, darunter Baader und Ensslin. Die Bundesregie- rung wollte nicht nachgeben, spielte auf Zeit und setzte eine Großfahndung nach Schleyer an. Diese war nicht erfolgreich. Stattdessen entführte ein arabisches Terror- kommando, bestehend aus zwei Männern und zwei Frauen, eine Lufthansa-Maschine auf dem Weg von Mallorca nach Frankfurt am Main, um die RAF-Häftlinge freizupres- sen. An Bord der Boeing 737 befanden sich 86 Passagiere und fünf Besatzungsmitglie- der. Die vier Tage andauernde Tortur führte von Rom über Larnaca und Aden nach Mo-

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gadischu, der Hauptstadt von Somalia. In Aden wurde der Kapitän Jürgen Schumann in der Maschine vor den Augen aller Passagiere von den Entführer/innen erschossen. Eine Spezialeinheit des Bundesgrenzschutzes, die GSG 9, befreite in einer nächtlichen Akti- on alle Geiseln. Dabei wurden drei Geiselnehmer/innen erschossen. Unmittelbar nach- dem die Nachricht über die Befreiung der Lufthansa-Maschine in die Bundesrepublik drang, begingen Baader, Ensslin und Raspe in ihren Gefängniszellen Suizid. Tags dar- auf wurde die Leiche Hanns-Martin Schleyers im Kofferraum eines Autos in Frankreich gefunden. Die zweite RAF-Generation zerfiel zusehends, da die Flugzeugentführung und die damit verbundene Gefährdung Unbeteiligter und Unschuldiger auf Unverständ- nis und Ablehnung bei Anhänger/innen der RAF stieß. Das endgültige Ende der zweiten Generation der RAF war an dem Tag gekommen, als die GSG 9 die RAF-Spitzen Mohnhaupt und Klar bei ihrem Waffenversteck festnehmen konnte (vgl. Dietl et al.

2006, S. 75-78). Nach dem Überfall auf eine Schweizer Bank in Zürich, bei dem Unbe- teiligte getötet wurden, stiegen zehn Mitglieder aus der RAF aus und setzten sich mit Hilfe des Ministeriums für Staatssicherheit in die DDR ab (vgl. ebd., S. 400).

3.1.4 Die dritte Generation der RAF

Der aus 15-20 Personen bestehende Kern der dritten RAF-Generation verübte Anschlä- ge vor allem auf Politiker/innen und Wirtschaftstreibende. Da die RAF Führungsperso- nal und Logistik verloren hatte, schloss sie sich mit militanten Splittergruppen zusam- men. 1985 wurde Ernst Zimmermann, Vorstandsvorsitzender des Rüstungskonzerns MTU, ermordet. Im selben Jahr wurde ein Soldat der US-Armee ermordet und bei ei- nem Bombenanschlag auf die US-Airbase in Frankfurt am Main wurden zwei Personen getötet. Im Jahr darauf wurden Karl-Hein Beckurts, Vorstandsmitglied bei Siemens, so- wie sein Fahrer und Gerold von Braunmühl, Ministerialdirektor des Auswärtigen Am- tes, erschossen. 1989 wurde der Vorstandssprecher der Deutschen Bank, Alfred Herr- hausen, durch die RAF getötet und 1991 Detlev Rohwedder, Vorstandsvorsitzender der Treuhand. 1992 veröffentlichte die Rote Armee Fraktion das sogenannte April-Papier, in dem die vorläufige Einstellung der Gewalt gegen Menschen angekündigt wurde. Das letzte Opfer der RAF war ein GSG 9-Beamter, der beim Zugriff auf die Mitglieder Wolfgang Grams und Birgit Hogefeld am Bahnhof Bad Kleinen durch Wolfgang Grams erschossen wurde, bevor dieser sich selbst tötete. Im April 1998 schließlich erklärte die

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RAF in einem achtseitigen Papier ihre Selbstauflösung. In den Jahren des Terrors hatte die RAF 34 Menschen getötet. Im selben Zeitraum kamen 20 Personen zu Tode, die der RAF zugeordnet werden (vgl. Dietl et al. 2006, S. 78-80).

3.2 BRD: Bewegung 2. Juni

Die Bewegung 2. Juni wurde nach dem 2. Juni 1967 benannt, an dem der Student Ben- no Ohnesorg während eines Protestaufmarsches gegen den Schah von Persien von ei- nem Polizisten erschossen wurde. Sie wurde 1972 gegründet und existierte bis 1980, wobei nach ihrer Selbstauflösung einige Mitglieder der RAF beitraten. Die Bewegung 2. Juni trat nie so aktionistisch auf wie die RAF und kam auch nicht annähernd an deren Berühmtheit heran. Die Gründer Fritz Teufel, Michael „Bommi“ Baumann und Ralf Reinders verteilten mitunter bei ihren Banküberfällen Schokoküsse. Sie führte wie die RAF einen bewaffneten Kampf gegen das System der Bundesrepublik Deutschland.

Ihre berühmteste Aktion war die Entführung des Berliner CDU-Politikers Peter Lorenz 1975. Damit erreichten sie sogar ihr Ziel der Freilassung von fünf Gesinnungsgenoss/in- nen (vgl. Korndörfer 2008, S. 237). Die Bewegung 2. Juni unterschied sich in einigen Punkten von der RAF. So waren sie eher dem proletarischen Milieu zuzuordnen, es gab kaum hierarchische Strukturen und die Mitglieder versuchten, so lange wie möglich in der Legalität zu bleiben und aus dieser heraus zu operieren. Darüber hinaus blieben die Aktivitäten der Bewegung auf Westberlin beschränkt. Einige Mitglieder der Bewegung 2. Juni waren bereits in der Vorgängerorganisation Tupamaros, die auch in München tä- tig war, aktiv, hatten sich dort bewaffnet, verübten Anschläge gegen Angehörige des Justizapparates und gegen US-amerikanische Einrichtungen. Weiters verfügten sie über konspirative Wohnungen sowie gestohlene Autos und durch Banküberfalle auch über genügend Kapital. Den ersten Toten hatte die Bewegung 2. Juni im Februar 1972 zu verantworten. Als Reaktion auf den „Bloody Sunday“ im nordirischen Londonderry, bei dem die britische Armee eine Demonstration katholisch-irischer Nationalist/innen blutig niedergeschlagen hatte, verübte die Terrororganisation einen Anschlag auf einen briti- schen Yachtclub in Westberlin. Dieses Attentat zeigt, dass die Aktionen der Bewegung 2. Juni auf spontane Rache abzielten. Ähnlich wie die italienischen Brigate Rosse ging die Bewegung 2. Juni wenig zimperlich mit Abweichler/innen um. 1974 wurde ein 22- jähriger Student, das ehemalige Mitglied der Stadtguerilla Ulrich Schmücker, von der

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Bewegung 2. Juni exekutiert, nachdem er nach seiner Verhaftung mit den Behörden ko- operiert hatte. Im selben Jahr wurde der Berliner Kammergerichtspräsident Günther von Drenkmann von der Gruppierung im Zuge eines missglückten Entführungsversuchs in seiner Wohnung erschossen (vgl. Korndörfer 2008, S. 244-250).

Die spektakulärste Aktion führte die Bewegung 2. Juni im Februar 1975, kurz vor der Wahl des Berliner Abgeordnetenhauses, durch. Sie entführten den Bürgermeisterkandi- daten der CDU, Peter Lorenz. Da dieser Oppositionskandidat war und die SPD sowohl in Berlin als auch in der Bundeshauptstadt Bonn regierte, war das Kalkül der Entführer/innen, dass die SPD aus moralischen Gründen nachgeben würde – und der Coup ging auf. Im Monat darauf wurden fünf Gefangene in den Südjemen ausgeflogen.

Die Entführer/innen setzten sich ebenfalls ins Ausland ab. Bei ihrer Rückkehr innerhalb eines Jahres wurden fast alle Terrorist/innen der Bewegung 2. Juni verhaftet, doch eini- ge konnten aus ihren Haftanstalten flüchten. Im November 1977 kam es schließlich zur letzten großen Aktion der Terrororganisation, die einen Bezug zu Österreich aufweist.

Der österreichische Industrielle Walter Palmers wurde entführt. Bei dessen Freilassung konnten die Entführer/innen 4,3 Millionen Mark Lösegeld lukrieren, wovon jeweils eine Million an die RAF und an palästinensische Widerstandskämpfer ging. Doch Ende der 1970er-Jahre musste die Bewegung 2. Juni ernüchtert feststellen, dass die Arbeiter/in- nen nicht für einen revolutionären Umsturz zu gewinnen waren. Zudem war der Fahn- dungsdruck zu groß geworden und kam zu einer Spaltung innerhalb der Organisation.

Zwei Mitglieder, Inge Viett und Juliane Plambeck, schlossen sich der RAF an und die Bewegung 2. Juni löste sich 1980 selbst auf (vgl. Korndörfer 2008, S. 250-255).

3.3 Italien: Brigate Rosse

Von allen sozialrevolutionären Terrororganisationen waren die italienischen Brigate Rosse (Rote Brigaden) die aktivste und brutalste: 75 Morde, 115 versuchte Tötungen und 17 politische Entführungen haben die Roten Brigaden zwischen 1970 und 1988 zu verantworten (vgl. Holzmeier/Mayer 2008, S. 287). Sie wurden 1970 von Arbeiter/in- nen und Student/innen in der norditalienischen Stadt Reggio Emilia gegründet. Die Gründungsmitglieder beteiligten sich an öffentlichen Diskussionen über soziale und po- litische Entwicklungen sowie an Demonstrationen und Hausbesetzungen in Mailand.

Die Gruppierung agierte sowohl aus dem Untergrund heraus als auch öffentlich. Ab

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1972 gab es eine scharfe Trennung zwischen regulären (sich ganz den Brigate Rosse verschriebenen, im Untergrund lebenden) und irregulären Mitgliedern, die zwar legal weiterlebten, die Roten Brigaden allerdings logistisch unterstützten. Zu jener Zeit waren jeweils ca. 15 reguläre Mitglieder in Mailand, Turin und Padua aktiv. 1974 hatten die Brigate Rosse bereits ca. 300 reguläre und irreguläre Mitglieder. Daraufhin kam es zur Einführung von Städtekolonnen, 1980 existierten welche in Mailand, Turin, Genua, Ve- neto und Rom (vgl. Holzmeier/Mayer 2008, S. 280-282). „Die Spitze der Hierarchie bil- deten das Exekutiv-Komitee (comitato esecutivo) und die Strategische Direktion (dire- zione strategica)“ (ebd., S. 282). Die italienische sozialrevolutionäre Terrororganisation hatte eine Abteilung für Logistik und eine für Propaganda und Rekrutierung der Arbei- ter/innen (vgl. ebd., S. 282).

Die terroristische Phase der Brigate Rosse begann 1970 mit einem Brandanschlag auf einen Unternehmer. Doch nicht nur Wirtschaftstreibende, sondern auch der Besitz von Unterstützer/innen des Neofaschismus in Italien gerieten zur Zielscheibe der Brigadist/innen. Da sie eine Vermengung von Kapitalismus und Faschismus konstatier- ten, wählten sie ihre Zielobjekte dementsprechend aus. 1972 begann die erste Entfüh- rung eines Managers. Damit wollte man Unternehmer/innen einschüchtern und die Ar- beiter/innen für sich gewinnen. 1973 fand die Geiselnahme des Leiters der Personalab- teilung von Fiat statt, die mit der Erfüllung der Forderung endete, 400 zuvor entlassene Arbeiter/innen wieder einzustellen. Im Jahr darauf wurde der stellvertretende Staatsan- walt von Genua, Mario Sossi, entführt. Dieser geriet ins Visier der Brigate Rosse, da er Mitglied einer faschistischen Student/innenorganisation sowie am Verfahren gegen eine andere sozialrevolutionäre Gruppierung beteiligt war. 1974 wurde der Kern der Brigate Rosse verhaftet und einige Waffenverstecke flogen auf. Danach zeigen sich Parallelen zur RAF: Wie bei der sozialrevolutionären Partnerorganisation steigerte die Inhaftie- rung der Gründungsfiguren der Terrororganisation die Gewaltspirale. In der Phase 1974 bis 1978, also mehr oder weniger im gleichen Zeitraum wie der Deutsche Herbst, propa- gierten die Roten Brigaden den „Angriff auf das Herz des Staates“. Ab dem Jahr 1975 standen die Entführungen reicher Industrieller und Gefangenenbefreiungen im Mittel- punkt. Bei der Befreiung Renato Curcios wurde Mara Cagol, seine Ehefrau, getötet.

Doch durch die Auflösung anderer sozialrevolutionärer Terrororganisationen fanden die Brigate Rosse wieder vermehrt Zulauf von Extremist/innen. Die Brutalisierung der Or-

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ganisation begann 1974 mit den ersten beiden Toten beim Überfall auf das Büro der neofaschistischen Partei MSI (Movimento Sociale Italiano) in Padua. 1976 wurde der Staatsanwalt Francesco Coco sowie zwei seiner Leibwächter ermordet. Mit den Attenta- ten auf den Präsidenten der Turiner Richtervereinigung sowie einem Mitherausgeber der Zeitung „La Stampa“ kam es zu einer zunehmenden Entfremdung von gesellschaftli- chen Problemlagen. Die deutlich sichtbare Radikalisierung und die Gruppendynamik führten zu Realitätsverlust. Im März 1978 wurde schließlich Aldo Moro, Parteivorsit- zender der Democrazia Cristiana (Christdemokratische Partei) und ehemaliger Minister- präsident, entführt und zwei Monate später ermordet. Auch fünf seiner Leibwächter/in- nen kamen im Zuge dessen ums Leben. Ziel der Ermordung war es, die Haftentlassung von 13 Mitgliedern sozialrevolutionärer Terrororganisationen zu erzwingen. Wie die Leiche Hanns-Martin Schleyers wurde auch jene von Aldo Moro im Kofferraum eines Autos abgelegt. Ähnlich wie nach dem Deutschen Herbst 1977, währenddessen auch in der Bundesrepublik Deutschland die Gewaltspirale eskalierte, hatten aus dem selben Grund die Brigate Rosse ab 1978 ebenfalls kaum noch Sympathien in der Gesamtbevöl- kerung. Der Höhepunkt der Brutalisierung des Aktionismus der Brigate Rosse, der An- griff auf das Herz des Staates und die damit verbundene Militarisierung, ging mit einer Delegitimierung und Sinnbefreiung einher. Genau wie der Roten Armee Fraktion fehlte auch den Brigate Rosse letztlich ein ideologisches Gesamtkonzept zur Neuordnung der Gesellschaft. Wie weit man sich davon entfernt hatte, zeigte der Rachemord am Bruder eines Aussteigers sowie die zunehmende Tötung von Gewerkschafter/innen, Arbeiter/innen, Polizist/innen und Militärangehörigen. Es kam zu einer zunehmenden Internationalisierung, die in scharfer Kritik am Imperialismus der Vereinigten Staaten von Amerika sowie an der NATO mündete. Darüber hinaus suchte man verstärkt die Nähe zu anderen sozialrevolutionären Terrororganisationen wie der RAF und der Ac- tion Directe. Gesetzesänderungen in den 1980er-Jahren, die eine Strafmilderung für Ab- schwörer/innen und Reuige vorsahen, leiteten das Ende der Brigate Rosse ein. Trotzdem veröffentlichte die Terrororganisation, im Gegensatz zu ihren westeuropäischen Part- nern, nie ein Auflösungsschreiben (vgl. Holzmeier/Mayer 2008, S. 287-301).

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3.4 Frankreich: Action Directe

Ende der 1970er Jahre gründete sich in Frankreich die AD (Action Directe) aus mehre- ren schon Jahre zuvor aktiven Organisationen wie der GARI (Groupes d'action révolu- tionnaire internationaliste), deren Mitglieder in Toulouse kämpfende spanische Gegner der Franco-Diktatur waren (vgl. Gursch 2008, S. 178). Die Action Directe konzentrierte sich, worauf der Name auch anspielt, auf die „direkte Tat“, nicht auf ideologische Schriften oder verschriftliche revolutionäre Begründungen (vgl. ebd., S. 186).

Als ab 1981 der Sozialist Miterrand Frankreich regierte, wurde den Häftlingen der Ac- tion Directe eine Amnestie gewährt. In den beiden vorangegangenen Jahren verübte die AD mehrere Terroranschläge gegen Ministerien und sonstige öffentliche Einrichtungen.

Unter anderem wurde das Entwicklungshilfeministerium mit Maschinenpistolen be- schossen. Ab 1982 steigerte die Action Directe die Spirale der Gewalt, indem sie im Land mit libanesischen und palästinensischen Terrororganisationen zusammenarbeitete.

Zu Beginn des Jahres wurde bei einem Anschlag der Militärattaché der US-Botschaft sowie der ein leitender Mitarbeiter der israelischen Botschaft in Paris erschossen. Be- gründet wurde der Anschlag von der AD-Führung mit der Situation im Libanon. Als die Action Directe 1982 verboten wurde, ging sie in den Untergrund. Gleichzeitig fand eine Europäisierung des Terrorismus statt. Die Action Directe kooperierte von nun an mit einer Abspaltung derBrigate Rosse.Vier Mitglieder der beiden Organisationen erschos- sen in Paris zwei Polizisten. 1984 wurde schließlich eine Kooperation mit der RAF ver- kündet. Diese beabsichtigte, eine revolutionäre antiimperialistische westeuropäische Front aufzubauen. Tatsächlich bestand die Partnerschaft hauptsächlich in der Unterstüt- zung in logistischen Aufgaben. Doch es kam auch zu Bombenanschlägen gegen militä- rische Einrichtungen und die Rüstungsindustrie. In einer abgesprochenen Aktion ermor- deten 1985 die AD den französischen General Audran und die RAF den Vorsitzenden der Motoren und Turbinenunion (MTU) sowie den Präsidenten des Bundesverbandes der Luft- und Raumfahrtindustrie. Im August des selben Jahres kam es zu einem ge- meinsamen Anschlag der beiden linksterroristischen Gruppen auf die Rhein-Main-Air- base in Frankfurt. Doch die extremistische Haltung der RAF und deren Avantgardean- spruch verhinderten eine dauerhafte, langfristige Kooperation. Eine solche suchte die Action Directe mit einer Annäherung an die belgische CCC (Cellules Communistes

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Combattants). Doch 1987 wurden die Führungsfiguren der AD verhaftet. Damit löste sich die Terrororganisation auf (vgl. Gursch 2008, S. 178-183).

3.5 Belgien: Kämpfende Kommunistische Zellen

Die Kämpfenden Kommunistischen Zellen, kurz CCC (Cellules Communistes Combat- tants) waren eine Terrororganisation, die in den Jahren 1984 und 1985 24 Spreng- stoffanschläge in Belgien verübten. Den Anlass dafür sahen die kommunistischen Kämpfer/innen im NATO-Doppelbeschluss, der eine Stationierung US-amerikanischer Atombomben in Westeuropa, unter anderem auch in Belgien, vorsah. Laut Umfragen waren zwei Drittel der belgischen Bevölkerung gegen dieses Vorhaben. Der Unmut dar- über wurde auch in Massenprotesten geäußert (vgl. Fendt/Schäfer 2008, S. 199). Bei ei- nem Anschlag gegen den US-amerikanische Rüstungskonzern Litton Industries verloren zwei Feuerwehrmänner (vgl. ebd., S. 198) ihr Leben. Die Ideologie war marxistisch-le- ninistisch und antiimperialistisch und richtete sich vor allem gegen Einrichtungen der NATO. Sie sahen sich als orthodoxe Marxist/innen, die ihre Ideologie durch etliche Veröffentlichungen von Schriften zu legitimieren versuchten. Das Ziel der CCC war die Einführung des Kommunismus in Belgien. Die Führungsfigur der CCC war Pierre Carette, ein ehemaliges Mitglied der Action Directe, der sich nach Belgien abgesetzt hatte (vgl. ebd., S. 189-190). Die Zusammenarbeit der CCC mit der RAF beruhte aus- schließlich auf Logistik und war aufgrund von ideologischen Differenzen nur von kurz- er Dauer (vgl. ebd., S. 195).

3.6 Österreich: Terroranschläge von links und rechts

Der sozialrevolutionäre Terrorismus der 1970er- und 1980er-Jahre erfasste auch Öster- reich. Am 21. Dezember 1975 überfielen Terrorist/innen unter der Führung eines Vene- zolaners und unter Beteiligung zweier deutscher Mitglieder der linksextremistischen Revolutionären Zellen (RZ) eine Konferenz der OPEC (Organization of the Petroleum Exporting Countries/Organisation erdölexportierender Länder) in ihrem Hauptquartier in Wien. Dabei wurden drei Menschen getötet und 60 Geiseln genommen, vor allem Öl- minister und deren Mitarbeiter/innen. Sie flogen nach Algier, wo die Hälfte der Geiseln befreit wurde. In Libyen gelangten weitere Geiseln in Freiheit. Die Terroristen flogen zurück nach Algier und bekamen dort Asyl (Dietl et al. 2006, S. 362).

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In den 1990er-Jahren kam dann der Terror von rechts. Der aus dem südsteirischen Gralla stammende Franz Fuchs experimentierte bereits im Alter von zwölf Jahren mit Sprengstoff. Unter der BezeichnungBajuwarische Befreiungsarmee (BBA) wurden zwi- schen 1993 und 1996 insgesamt 25 Briefbomben- und drei Rohrbombenanschläge ver- übt. Vier Menschen wurden durch diese Terrorattentate getötet, vor allem Minderheiten und Migrant/innen sowie in der Öffentlichkeit stehende Personen, die sich für sie ein- setzten. Unter ihnen war der damalige Wiener Bürgermeister Helmut Zilk, dem die lin- ke Hand in Stücke gerissen wurde. In den Bekennerschreiben, die nach fast jedem An- schlag publik wurden, kam die rechtsextreme Gesinnung der BBA zum Ausdruck. Als Franz Fuchs im Jahr 1997 bei einer Verkehrskontrolle aufgehalten wurde, zündete er ei- nen Sprengsatz, der seine beiden Hände abriss. Danach versuchte er zu flüchten, konnte aber festgenommen werden. Bei der Verhandlung im Gerichtssaal brüllte er seine rechtsextremen Parolen, die sich gegen Ausländer/innen richteten, lautstark heraus. Der kleine Mann mit Hitlerbärtchen wurde 1999 zu lebenslanger Haft verurteilt, im Jahr dar- auf tötete er sich in seiner Zelle selbst. Franz Fuchs war von Lebensenttäuschung und Ausländer/innenhass geprägt und war Einzeltäter (vgl. Dietl et al. 2006, S. 291-293).

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Terrorismus heute und aktuelle Herausforderungen

Terrorismus heute unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht vom Terrorismus der 1970er- und 1980er-Jahre. Während damals in erster Linie der sozialrevolutionäre Terrorismus vorherrschte, ist es heute der religiös-islamistische. Dieser unterscheidet sich vom links- extremistischen Radikalismus durch die Durchführungsform. (Flugzeug-)Entführungen sind selten geworden, dafür hat die Anzahl an Selbstmordattentäter/innen zugenommen.

Ein weiter Unterschied zwischen sozialrevolutionärem und islamistischem Terrorismus besteht in der Quantität der Opferzahlen, die bei einem einzigen Anschlag getötet wer- den. Während in den 1970er- und 1980er-Jahren meist (wirtschaftstreibende oder in Po- litik und Justiz einflussreiche) Einzelpersonen Ziele eines Anschlags waren, oft auch de- ren Begleiter/innen, Personenschützer/innen und sonstige Unbeteiligte, treffen die isla- mistisch motivierten Terroranschläge meist tausende (11. September 2001), hunderte (Sri Lanka 2019) oder zumindest dutzende (London 2005) Schutzlose und Unbeteiligte.

Qualitativ besteht eine Differenz hinsichtlich der Organisationsstruktur, die bei sozialre- volutionären Terrororganisationen – im Gegensatz zu islamistischen – streng hierar- chisch gegliedert ist (vgl. Straßner 2008, S. 9-10).

4.1 Aktuelle Herausforderungen: Demonstrationen und Streiks in EU- Ländern

Eine Protestbewegung ist in der europäischen Öffentlichkeit seit Monaten präsent. Es ist die Bewegung der Gelbwesten in Frankreich. Sie ist durch soziale Netzwerke organi- siert, in Stadt und Land aktiv und wird von den Protestierenden selbst getragen. Es gibt keine eindeutigen Anführer/innen, keine dahinterstehenden Gewerkschaften oder politi- schen Parteien. Jedes Wochenende wird protestiert. Im Spätherbst 2018 nahmen bis zu 300.000 Demonstrant/innen pro Samstag daran teil. Dabei kommt es immer wieder zu Ausschreitungen, zur Blockaden von Straßen und Autobahnen, zum Anzünden von Au- tos. Die wichtigsten Forderungen der Gelbwesten sind Steuersenkung sowie Anhebung des Mindestlohns und der Pensionen. Die Proteste begannen im November 2018, in Er- wartung des baldigen Inkrafttretens der Erhöhung der Ökosteuer auf Diesel und wegen der hohen Treibstoffpreise. Der Adressat des Unmuts ist der liberale Präsident der Gran- de Nation. Die Protestierenden skandieren „Macron démission“, also „Macron Rück-

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tritt“. Die Bewegung hat einen Rat der Sprecher/innen eingerichtet, bestehend aus acht Mitgliedern der Bewegung, die mit der Regierung verhandeln (vgl. Stern 2018).

Die Bewegung der Gelbwesten entspringt einer Wut auf die Gesellschaft, die schon vor mehr als 20 Jahren in Frankreich kochte. Zu Beginn der 1990er-Jahre fuhr der französi- sche Soziologe Pierre Bourdieu in die Provinz, um die Lebenslagen der Menschen vor Ort zu erforschen. Er traf auf arbeitslose, abgehängte Menschen, die an schlechter Infra- struktur und der Schließung staatlicher Einrichtungen litten. Daraus entstand „Das Elend der Welt“, eine Sammlung von Portraits jener oft hoffnungslosen Menschen, die Bourdieu mit seinen Doktorand/innen besuchte. Der Zorn der Bevölkerung, von denen sich immer mehr eine Gelbweste überzogen, entlud sich im Herbst 2018 vor allem an den Treibstoffpreisen, die sich innerhalb eines Jahres um ein Viertel erhöhten. Doch weil Bahn- und Buslinien zunehmend geschlossen bzw. deren Fahrpläne ausgedünnt wurden, blieb den Menschen nur mehr das Auto, um am gesellschaftlichen Leben zu partizipieren. Die Wut der eher bildungsfernen Schicht hatte vor allem einen Adressa- ten: Emmanuel Macron. Vor der Wahl hatte er große Hoffnungen geschürt, immerhin hieß sein Wahlkampfbuch „Revolution“. Doch nach der Wahl entpuppte sich der junge Aufsteiger schnell als wirtschaftsliberaler Präsident – mit all den bekannten Folgen ei- ner solchen Politik. Diesmal haben sich die Protestierenden keiner Gewerkschaft oder Opposition zugewandt, sondern ihr Schicksal selbst in die Hand genommen und sich gelbe Westen übergezogen (vgl. Minkmar 2018). Die Bewegung der Gelbwesten schrumpft, seit Emmanuel Macron mit einer landesweiten, zwei Monate andauernden

„Großen Debatte“ gegenzusteuern versucht. Doch die Gewalt bleibt. Macron polarisiert wie andere Präsidenten vor ihm auch, aber bei ihm geht es in die Extreme: extreme Wut, extremer Hass auf der einen Seite und extreme Euphorie und Zuneigung auf der anderen (vgl. Heyer 2019, S. 80-81).

4.2 Terrorismus heute: Der IS und sein Ende

Zum aktuellen Zeitpunkt beherrscht vor allem eine Terrororganisation die Schlagzeilen:

der Islamische Staat (IS). Den Zenit hat diese Terrormiliz schon überschritten, weil sie vor allem von Kurd/innen, der Türkei, Russland, dem staatlichen syrischen Militär so- wie den USA erfolgreich zurückgedrängt werden konnte. Den Höhepunkt erreichte der

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IS im Jahr 2014, als im von ihm kontrollierten Gebiet in Syrien und im Irak das Kalifat ausgerufen wurde. Besonders zu diesem Zeitpunkt zog es viele europäische IS-Anhän- ger in diese beiden Länder. Daraufhin sanken die Ausreisezahlen dank der militärischen Erfolge der Allianz. Die Ausrufung des Kalifats hatte für Islamist/innen, besonders aber für Salafist/innen eine starke Mobilisierung zur Folge (vgl. BKA et al. 2016, S. 4-5). „In Deutschland nutzen vor allem salafistische Einrichtungen und Akteure den Konflikt in Syrien sowie dem Irak, um ihre extremistische Ideologie zu verbreiten und neue Anhän- ger zu rekrutieren“ (ebd., S. 5).

Der Islamische Staat wurde bereits 2003 im Irak als Folge des völkerrechtswidrigen Krieges der USA mit ihren Verbündeten, allen voran Großbritannien und 14 weiteren (jetzigen) EU-Staaten, u.a. Spanien, Niederlande und Polen, gegründet. Der IS ist aller- dings nur eine jihadistische Gruppierung von vielen. Die Anzahl der Kämpfer/innen al- leine beim Islamischen Staat wird auf 50.000 geschätzt (vgl. Ruf 2016, S. 75-76). „Was die USA vorrangig interessierte, waren die Marktöffnung und die Kontrolle über das irakische Öl. Die verordnete konsequente Liberalisierung der Ökonomie führte zur Pri- vatisierung zahlreicher Staatsbetriebe [...]“ (ebd., S. 77). Mit der von den USA er- wünschten Konfessionalisierung des politischen Systems gingen die Auflösung des staatlichen Gewaltmonopols und das Zusammenbrechen kritischer staatlicher Infra- struktur einher. Dies führte vier Jahre nach dem Beginn des Krieges zu zwei Millionen Flüchtlingen, die vor allem nach Syrien flohen, und zu weiteren zwei Millionen Binnen- flüchtlingen (vgl. ebd., S. 81).

Die Ideologie des IS kennzeichnet eine fundamentalistische Auslegung des Koran. Ein- zelne Glaubenssätze werden als Gebote dargestellt und als gottgegeben und daher ewig gültig vermittelt. Das sich daraus ableitende Gesetz, die Scharia, muss bedingungslos eingehalten werden, denn das zu errichtende Kalifat erfordert absoluten Gehorsam. Un- gläubige haben zu konvertieren, sich zu unterwerfen, werden versklavt und schließlich wird gegen sie Krieg geführt (vgl. Ruf 2016, S. 83). Viele Jihadist/innen erliegen dem Glauben, dass sie ins Paradies kommen, wenn sie bei Kämpfen für den Glauben ums Leben kommen. Der Islamische Staat missbraucht den Islam als Religion als Argumen- tation für das Köpfen von Menschen, für Versklavung und Massenmord (vgl. ebd., S. 85-87).

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Radikalisierung

Niemand wird als Terrorist/in geboren. „In Wirklichkeit ist Radikalisierung ein oft lang- wieriger Prozess, bei dem eine Vielzahl von Faktoren und Einflüssen zusammenkom- men und an dessen Ende Extremismus steht“ (Neumann 2016, S. 29). Die Verfügbarkeit eines revolutionären Umfeldes, das Eintreten einer revolutionären Situation und der Zu- fall entscheiden darüber, in welchen Zug potentielle Terrorist/innen einsteigen, also ob es in Richtung sozialrevolutionärem, rechtsextremistischem oder islamistischem Terro- rismus geht (siehe Kapitel 5.6).

Man kann kriminelles, also abweichendes Verhalten nicht ausschließlich auf bestimmte Wesenszüge oder konkret vorherrschende soziale Begebenheiten zurückführen. Viel- mehr liegt abweichendes Verhalten in einer diffizilen Abfolge von Einstellungsänderun- gen begründet. Trotzdem müssen bestimmte charakterliche und intellektuelle Voraus- setzungen gegeben sein, die in bestimmten sozialen Situationen unter gewissen Zufällen zu Aktionen und Reaktionen führen und mitunter in terroristischen Handlungen gipfeln (vgl. Eckert 2012, S. 231). Diese charakterlichen Voraussetzungen beziehen sich bei- spielsweise auf unsichere Menschen. „Radikalisierung bringt einem verunsicherten Menschen Stabilität. Das ist natürlich nur eine Scheinstabilität, aber es ist eine Stabili- tät. Weil es ein ganz einfaches Muster bringt, eine ganz einfache Orientierung und es bringt die maximale Opposition zur Herkunftsfamilie“ (Saimeh 2017). Die Familie spielt also eine große Rolle bei jungen Erwachsenen mit terroristischem Potential. Hat man gar keine oder eine schlechte Bindung zu den Erziehungsberechtigten, fungiert oft die Gruppe als eine Art Familienersatz. Die während einer Radikalisierung stattfindende Gruppendynamik führt, ideologisch untermauert, zu tiefgreifenden Entfremdungserleb- nissen. Viele Extremist/innen haben das Gefühl, in einer Gesellschaft zu leben, in der vieles oder nahezu alles falsch läuft. Deshalb lohnt es sich nicht, sich für diese Welt zu engagieren. Dieses Gefühl der Hilflosigkeit führt in vielen Fällen zu depressiven Ver- stimmungen (vgl. Schmidtchen 1981, S. 48). Wenn sich Gesellschaftsgruppen radikali- sieren, gehen diesem Prozess meist gewisse Erfahrungen wie Diskriminierung, Herab- würdigung, Bedrohung oder Besatzung voraus (vgl. Eckert 2012, S. 284).

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5.1 Gesellschaftliche und politische Ereignisse, die Radikalisierung auslösen

In der Zeitgeschichte gab es gesellschaftliche bzw. politische Ereignisse, die eine Radi- kalisierung vieler Protestierender begünstigten. „Nicht Einstellungen produzieren Ge- walt, sondern Gewalt erzeugt Einstellungswandel“ (Eckert 2012, S. 265). Die Gewalt- anwendung der Polizei und der persischen privaten Schlägertrupps des Schahs, der am 2. Juni 1967 in Berlin weilte, führten zu einer zunehmenden Radikalisierung der Kund- gebungsteilnehmer/innen. Dieser Radikalisierungskreislauf, der durch die Rigidität des ursprünglichen Konflikts ausgelöst wurde, wird durch zusätzliche Bedingungen wie der Identifikation mit einer Gruppe oder dem weiteren Verlauf der Ereignisse und ihrer me- dialen Darstellung in Gang gesetzt, wie sich an der Berichterstattung über diesen Tag zeigt. Gewaltereignisse erhöhen die Geschwindigkeit des Ablaufs der Vorgänge im Kreislauf (vgl. ebd., S. 265). Die marxistisch-leninistische Bewegung des SDS sah sich in ihrer Theorie, „der zufolge der Kapitalismus unausweichlich zum Faschismus führe“

(Eckert 2012, S. 269), bestätigt.

In Deutschland driftete die sich langsam auflösende Student/innenbewegung Anfang der 1970er-Jahre in drei verschiedene Richtungen ab. Die Gruppe der Reformist/innen ver- suchte, die kapitalistischen Auswüchse mithilfe der Institutionen, in die sie drängten, zu mildern. Die Revolutionär/innen waren für die Infrastruktur für eine bevorstehende Re- volution zuständig und rekrutierten das terroristische Personal. Die Terrorist/innen soll- ten schließlich die Revolution durchführen. Ihnen fehlte es aber an einer revolutionären Situation, an einer handfesten Krise des Kapitalismus, die laut Marx aber Vorausset- zung für eine gelingende Revolution ist. Vielmehr versuchten die Untergrund- kämpfer/innen, eine solche Situation herbeizuführen (vgl. Eckert 2012, S. 239-240).

Dies führt in der Regel allerdings zu einem gegenteiligen Effekt, der Solidarisierung mit den staatlichen Institutionen, weshalb Terrorismus als revolutionäre Strategie in Deutschland gescheitert ist (vgl. ebd., S. 242).

In Italien sind zwei gesellschaftspolitische Ereignisse entscheidend für die Entstehung der Terrororganisation Brigate Rosse. Einerseits arbeiteten und agierten die radikale Ar- beiterbewegung und die Student/innenbewegung in den Jahren 1968 und 1969 zusam-

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men. Die Arbeiter/innen protestierten gegen die desolaten Arbeitsbedingungen im in- dustriell geprägten Norden Italiens, die Student/innen wurden aufgrund der vielen nicht ihrem Ausbildungsniveau entsprechenden Arbeitsverhältnissen zu intellektuellem Prole- tariat (vgl. Holzmeier/Mayer 2008, S. 277-278). Andererseits war die Gründung der BR eine Reaktion auf das erste große Attentat neofaschistischer Gruppen im Dezember 1969 auf der Piazza Fontana in Mailand, bei der 16 Menschen ihr Leben verloren und 88 verletzt wurden. Auf den rechtsextremen Gewaltakt folgten restriktive Maßnahmen der ermittelnden Polizei, die auch die Arbeiter- und Student/innenbewegung trafen. All- mählich zerfiel die Bewegung aufgrund des zurückgehenden Protestpotentials. Eine Gruppe spaltete sich ab und radikalisierte sich: Die Brigate Rosse. Die Radikalisierung der Mitglieder äußerte sich in einem 1969 verkündeten Gebot, dass der bewaffnete Kampf und ein militärisches Vorgehen die Lösung der Probleme der Arbeiterklasse sei- en (vgl. Holzmeier/Mayer 2008, S. 279-280). Der „Imperialistische Staat der Multinati- onalen Konzerne/Stato Imperialista Multinazionale (SIM)“ wurde immer mehr zum Feindbild. Damit waren Bedingungen gemeint, die die USA, die BRD und der Internati- onale Währungsfonds dem Staat Italien im Umgang mit der Kommunistischen Partei auferlegten sowie die Finanzierung der Christdemokraten durch die USA. Wie auch die RAF rechtfertigten die Brigate Rosse Banküberfälle zur Geldbeschaffung mit Enteig- nungen durch das Proletariat (vgl. ebd., S. 286).

5.1.1 Der 2. Juni 1967 als Wendepunkt

Ähnlich wie in Italien waren auch in Deutschland Student/innenproteste ausschlagge- bend für die Gründung sozialrevolutionärer Terrororganisationen. Die Geschichte der RAF begann mit der Außerparlamentarischen Opposition (APO) ab Mitte der 1960er- Jahre. Diese wurde vom Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) gestützt. Ihre Aktivitäten richteten sich vor allem gegen die seit 1966 regierende Große Koalition aus CDU/CSU und SPD. Im Parlament war die FDP die einzige Oppositionspartei, weshalb die beiden Großparteien Notstandsgesetze einfach erlassen konnten. Die APO kritisierte das Hochschulsystem sowie die Vätergeneration, den Nationalsozialismus aus dem Be- wusstsein verbannt zu haben. Die Ausrichtung war sozialistisch-revolutionär, es wurden mehr grundsätzliche gesellschaftliche Reformen in diese Richtung gefordert (vgl. Dietl et al. 2006, S. 70). Am 2. Juni 1967 demonstrierten knapp vierhundert Menschen gegen

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den Besuch des Schahs von Persien in Westberlin. Die Demonstrant/innen wurden beim Empfang vor dem Rathaus Schöneberg von Mitgliedern des persischen Geheimdienstes mit Metallstangen und Holzknüppeln niedergeprügelt, während die Polizei tatenlos zu- schaute. Als diese nach mehreren Minuten einschritt, verhaftete sie einige Protestieren- de. Stunden später wurde vor der Deutschen Oper erneut demonstriert. Diesmal ging die Polizei mit Gummiknüppeln gegen die Mitglieder der Student/innenbewegung vor, sie schlug zu. Immer mehr Demonstrant/innen flüchteten vor der gewalttätigen Polizei.

Schließlich wurde in einem Hinterhof der 26-jährige Student Benno Ohnesorg von ei- nem Polizeibeamten erschossen. Der Todesschütze wurde später vom Landgericht Ber- lin freigesprochen. Am nächsten Tag trafen sich die Studierenden an der Freien Univer- sität zu Diskussionen, die voller Wut gegen die Springerpresse, die eine kritische Hal- tung gegenüber den Demonstrant/innen einnahm, und des Westberliner Senats waren.

Auch in anderen Städten der BRD kam es zu Trauerfeierlichkeiten. Der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) erlebte einen starken Zuwachs an Mitgliedern. Wäh- rend der Diskussionen in den westdeutschen Universitätsstädten berieten die Student/in- nen, ob Gewalt und Widerstand legitime Mittel des Protests wären und wenn ja, in wel- cher Form. Der Vorsitzende des SDS, Rudi Dutschke, regte Provokationen an (vgl.

Peters 2004, S. 89-94).

Die Vorgänge des 2. Juni waren Schlüsselerlebnis für den Linksterrorismus. Ab diesem Zeitpunkt sank die Hemmschwelle für gewaltsame Aktionen gegen den Staat und die Gesellschaft. Die Student/innenbewegung radikalisierte sich und agierte vor allem ge- gen den Springer-Verlag, dem die Bild-Zeitung angehört. Zehn Monate nach dem Tod Benno Ohnesorgs wurde der als charismatisch beschriebene Anführer des SDS und der Student/innenproteste, Rudi Dutschke, von einem Rechtsextremen angeschossen. Dieser überlebte schwerverletzt, allerdings verstarb er 1979 an den Spätfolgen seiner Verlet- zungen. Dies führte zu schwersten Krawallen und Ausschreitungen. Der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) teilte sich nach 1968 in unterschiedlich ausgerichtete linke Fraktionen auf. Eine davon war die von Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Ul- rike Meinhof gegründete RAF, die den bewaffneten Kampf zum Ziel erklärt hatte (vgl.

Dietl et al. 2006, S. 71-72). „Auch für Ensslin, Baader und Proll ist dieser 2. Juni ein Wendepunkt in ihrem Leben, der zu einer Radikalisierung führt“ (Peters 2004, S. 94).

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Noch am selben Abend forderte Gudrun Ensslin die Bewaffnung der Gruppe. Eine an- dere setzte diese Forderung im Jahr 1972 um – die Bewegung 2. Juni gründete sich in Berlin (vgl. Peters 2004, S. 94-95).

5.2 Radikalisierung gestern: Die Rekrutierung von Terrorist/innen durch das Sozialistische Patientenkollektiv

Nachdem der 2. Juni 1967 ins Land gezogen war, hatten sich Terrororganisationen in der BRD gegründet, allen voran die RAF. Diese rekrutierte ihre Terrorist/innen vorran- gig aus zwei Vorfeldorganisationen: dem Sozialistischen Patientenkollektiv (SPK) so- wie der Roten Hilfe, die in den nächsten beiden Teilkapiteln beschrieben werden. Um Zugang zum terroristischen Nachwuchs zu bekommen, organisierten die Extremist/in- nen unter Führung von Baader, Meinhof und Ensslin sogenannte Heimkampagnen in Jugendheimen.

Eine wesentliche Organisation zur Rekrutierung von Terrorist/innen war das sogenannte Sozialistische Patientenkollektiv (SPK). Dr. Wolfgang Huber, Assistenzarzt an der Psychiatrischen Klinik der Uni Heidelberg, gründete es 1970 an besagter Universität, die ihrerseits Räume dafür zur Verfügung stellte. Ziel war es, aus der Krankheit eine Waffe zu machen. In den Jahren 1971 und 1972 stießen die Terrorist/innen Klaus Jünschke, Gerhard Müller, Sieglinde Hofmann, Hanna Krabbe, Elisabeth von Dyck und Margit Schiller (vgl. Röhl 2018, S. 467) und ca. sechs weitere (vgl. Peters 2004, S. 239) vom SPK zur RAF. Huber attestierte der spätkapitalistischen Leistungsgesellschaft der BRD, krank zu sein und dass eine Revolution nur noch eine Frage der Zeit wäre. Er wollte seelisch erkrankte Menschen auf anderen Wegen behandeln. Das SPK gab auch eine Agitationsschrift, diePatienten-Infos, heraus. Vier Arbeitskreise wurden gebildet:

Sprengtechnik, Fototechnik, Funktechnik (zum Abhören des Polizeifunks) sowie Judo/Karate. Dem Sozialistischen Patientenkollektiv gehörten bald mehr als 300 Mit- glieder an. Im Juli 1971 löste sich das SPK durch die Verhaftung der führenden Kräfte nach einer Schießerei bei einer Verkehrskontrolle auf (vgl. Peters 2004, S. 239-241).

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5.3 Radikalisierung gestern: Rote Hilfe

Eine weitere Organisation, die die RAF unterstützte, war die Rote Hilfe. Diese aus der Außerparlamentarischen Opposition heraus entstandene Gruppe wurde 1975 auf Initiati- ve der KPD gegründet mit dem Ziel, linken Aktivist/innen wie Beschuldigten, Ange- klagten und Straftäter/innen juristisch Beistand zu gewähren (vgl. Bötticher/Mareš 2012, S. 368).

Das RAF-Terrorist/innenpaar Angelika und Volker Speitel trat Mitte der 1970er-Jahre in die Rote Hilfe ein. Dessen Sohn Grischa Speitel gab tiefere Einblicke in über den Eintritt seines Vaters in die Rote Hilfe in einem Interview mit der Zeit (2019, S. 13):

„Mein Vater hatte, nachdem er aus dem Heim draußen war, die Nähe zur Roten Hilfe gesucht. Diese Gruppe wurde über die Stuttgarter Kanzlei des Anwalts Klaus Croissant organisiert und setzte sich für eine Erleichterung der Haftbedin- gungen von RAF-Terroristen ein. […] Die Kanzlei [war] aber auch eine Art Re- cruiting-Agentur für den RAF-Nachwuchs. Mein Vater wurde zum Vermittler zwischen den Gefangenen in Stammheim und den RAF-Leuten draußen. Er hat regelmäßig Kassiber, also schriftliche Mitteilungen der Gefangenen, aus der Haft- anstalt herausgeschmuggelt“.

Im selben Interview spricht Speitel über die Radikalisierung seiner Mutter in der Roten Hilfe (ebd., S. 13):

„Ja, die Rote Hilfe und die Kommune, das waren die beiden Orte, an denen sich meine Mutter radikalisiert hat. […] Ich erinnere mich, wie in diesen Diskussions- runden einzelne Leute unter Druck gerieten und irgendwann wie zum Befreiungs- schlag sagten: Ich gehe jetzt in den Untergrund! Es erhöhte den Gruppendruck noch, dass die meisten mit ihren Familien gebrochen hatten“.

Auch aus diesem Interview geht hervor, dass eine teilweise unkontrollierbare Gruppen- dynamik Menschen, die teilweise schon extremistische Tendenzen aufweisen, radikali- siert und in den Untergrund treibt. Auch der Bruch mit der Familie und deren Substituti- on durch die Gruppe wird angesprochen. Selbst eine Anwaltskanzlei diente in jener Zeit als Ort der Radikalisierung und Rekrutierung. Die Radikalisierten arbeiteten den inhaf- tierten Terrorist/innen zu, erleichterten so deren Agitation und ermöglichten das Auf- rechterhalten terroristischer Aktivitäten trotz Inhaftierung.

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5.4 Pädagog/innen des Proletariats: Die Heimkampagne

Der allmähliche Zerfall der Student/innenbewegung und der Außerparlamentarischen Opposition (APO) brachte die angehenden Terrorist/innen der Baader-Meinhof-Gruppe dazu, sich ein anderes politisches Betätigungsfeld zu suchen. Pädagogikstudent/innen in Frankfurt am Main nahmen sich vermehrt Heimkindern an. Sie kritisierten die erzieheri- schen Methoden in Kinderheimen und brachten die Zöglinge gegen die ihnen zugemute- ten Umstände und gegen die Leitungen der Erziehungsheime auf. Die Terrorist/innen schlossen sich den Pädagogikstudent/innen an und fanden damit ihr neues Betätigungs- feld, die Sozialpädagogik. Im Jahr 1969, kurz nach ihrer Freilassung, fuhren die drei späteren Terrorist/innen Baader, Ensslin und Proll zum Erziehungsheim Staffelberg in Nordhessen, wo 150 Lehrlinge lebten. Die drei brachten Fahnen und Spruchbänder mit und protestierten mit Hilfe von Megaphonen. Bei einer darauffolgenden erzwungenen Versammlung diskutierten sie mit den Heimzöglingen und der Heimleitung über Verän- derungen. Die Diskussion drehte sich vor allem um die von den Erzieher/innen verhäng- ten Strafen, die Verletzung des Briefgeheimnisses durch selbige sowie das Verbot von Mädchenbesuchen. Als Folge gründete sich im Heim eine „Basisgruppe“, der sich bald darauf vierzig Lehrlinge anschlossen. Über dreißig von ihnen kamen schließlich in Wohnungen, Wohngemeinschaften sowie Kommunen unter. Baader und Ensslin verhal- fen ihnen durch Verhandlungen mit dem Frankfurter Jugendamtsleiter dazu, der Ensslin ein echtes pädagogisches Interesse an den Jugendlichen attestierte. Einige der Jugendli- chen plünderten Wohnungen, andere wiederum fanden Arbeit. Einige gingen auf den Strich (vgl. Peters 2004, S. 123-124). Der Terrorist Thorwald Proll, der aktiv an der Heimkampagne mitwirkte, dazu später: „[Einige] sind in den Bahnhof gerannt und ha- ben wieder die Schwulen geklatscht, was sie schon vorher gemacht hatten und weshalb sie auch ins Heim gekommen waren“ (zit.n. Peters 2004, S. 124-125).

Baader und Ensslin übernahmen schnell die Leitung der Heimkampagne. Sie besetzten u.a. das Büro des Frankfurter Jugendamtsleiters, gingen zu Demos, verteilten Flugblät- ter und gingen zu Partys. Baader las den Jugendlichen im Park aus der Mao-Bibel vor.

Die späteren Terrorist/innen sammelten bei Linken und Liberalen Geld für ihre Heim- zöglinge – und zahlten ihnen fünf Mark am Tag aus. Vom Rest der Spenden lebten sie selbst. Rund 40 Jugendliche schlossen sich der Heimkampagne an, darunter viele, die aus anderen Heimen abgehauen waren. Einer dieser Lehrlinge war der damals 17-jähri-

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