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4 Terrorismus heute und aktuelle Herausforderungen

5.6 Auslösende Faktoren der Radikalisierung heute

Bei einer qualitativen Studie des deutschen Bundeskriminalamts zu Biographien von Extremist/innen und Terrorist/innen aus dem Jahr 2010 wird der Prozess der Radikali-sierung erforscht. Danach tragen die RadikaliRadikali-sierung und die damit verbundene Grup-pendynamik – die Einstellungen, Verhaltensweisen und Identitätskonzepte eindeutig vorgibt – dem stark geäußerten Verlangen nach Ordnung, Orientierung und Strukturen Rechnung. Doch nicht nur diese äußeren Faktoren waren für die Radikalisierung der be-fragten Jugendlichen und jungen Erwachsenen maßgeblich, sondern auch aus intrinsi-scher Motivation herrührende Gesichtspunkte wie Abenteuerlust, Risikofreudigkeit und ein eklatanter Hang zur Selbstdarstellung. Es ist kaum ein einzelner Punkt zu erkennen, an dem man den Beitritt zur Gruppe festmachen könnte. Vielmehr steckt ein Prozess da-hinter. Der endgültige Einstieg in die Gruppe ist in einer Lebensphase zu verorten, in der sich die Jugendlichen und jungen Erwachsenen orientierungslos und einsam gefühlt haben. Vor allem das Zusammentreffen mehrerer unglücklicher Ereignisse und die da-durch ausgelösten psychischen Abläufe und Gefühlslagen können als Auslöser des Wi-derstands eines Einzelnen verstanden werden. Für welches Milieu sich die angehenden Extremist/innen und Terrorist/innen entscheiden, also sozialrevolutionärer Terrorismus bzw. Linksextremismus, Rechtsextremismus oder islamistischer Terrorismus, hängt ei-nerseits vom Zufall ab, andererseits von der Verfügbarkeit des revolutionären Umfelds (vgl. Lützinger 2010, S. 69-71). Beispielsweise würde es einem radikalen Islamisten vergleichsweise leicht fallen, eine revolutionäre Situation und eine Veranlassung, eine Idee, für die es sich zu kämpfen lohnen würde, vorzufinden – einfach aufgrund der Existenz des Islamischen Staates (obwohl dieser mittlerweile fast gänzlich bekämpft ist)

und seinen Ideen, für die sich manche Radikale begeistern ließen. Anders bei deutsch-sprachigen Rechtsextremen. Bei welcher Gruppierung, abgesehen von einzelnen Bur-schenschaften oder AfD/FPÖ-Gruppierungen, die rechtsextreme Tendenzen aufweisen, könnten sie andocken? Und vor allem: Welcher großen Idee könnten sie anhängen?

Und die extreme Linke in einer annähernd ideologiefreien, spätkapitalistischen Gesell-schaft Mitteleuropas? Der Kommunismus bzw. real existierende Sozialismus ist in Eu-ropa gescheitert. Dessen große Idee verfängt bei der Bevölkerung nicht mehr. Eine Ge-sellschaft, die ihre Kinder zu Egoismus und Individualismus heranzieht, sieht keine so-zialistische, kommunistische Weltanschauung als Perspektive. Es gibt keine sozialrevo-lutionäre Organisation auf unserem Kontinent, die RAF hat sich 1998 selbst aufgelöst.

Doch politische oder religiöse Überzeugungen sind beim Einstieg in die Gleichaltrigen-gruppen ohnehin kaum maßgebend, wie die Studie zu Extremismus und Terrorismus des Bundeskriminalamts nahelegt. Zum Zeitpunkt der Befragung war die Suche nach sozialer Stütze, Empathie und Struktur entscheidend. Zunächst stand für die Jugendli-chen und jungen Erwachsenen die Erlebnisorientierung im Vordergrund. Erst nach eini-ger Zeit in der Gruppe wurden ihre Einstellungen und Argumentationen politischer. An-ders stellt sich die Situation bei jenen dar, die erst nach dem 28. Lebensjahr den Einstieg in eine radikale Gruppierung fanden (vgl. Lützinger 2010, S. 71). „Bei ihnen waren zum Zeitpunkt der Kontaktanbahnung zu entsprechenden Szenebezügen durchaus klare (po-litische) Konzepte oder Absichten erkennbar“ (ebd., S. 71).

Auch von vielen ehemaligen Terrorist/innen wird die Gruppendynamik als ausschlagge-bend für die eigene Radikalisierung angesehen. So beschrieb Hans-Joachim Klein, Ter-rorist der Revolutionären Zellen (RZ), die Faktoren, die sein terTer-roristisches Potential ausschöpfen ließen: Heimerziehung, Schulschwierigkeiten, gescheiterte Ausbildung und Straffälligkeit in der Jugend. Eine gestörte soziale Entwicklung in der Kindheit und Ju-gend wurde durch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe und die stabilisierte emotionale Bindung an diese etwas kompensiert. Auch sein Mangel an Bildung wurde durch die vielen Diskussionen, Erklärungen und Weltdeutungen innerhalb der Revolutionären Zellen ausgeglichen. Volker Speitel und Michael Bommi Baumann stießen aufgrund ih-rer Orientierungslosigkeit und dem Druck des alltäglichen Lebens zur RAF bzw. zur

Bewegung 2. Juni. In den Terrororganisationen fanden sie Perspektiven, Halt und ge-ordnete Abläufe. Zudem herrschte in den Gruppen ein vereinfachtes Weltbild vor, das Orientierung bot. Viele Radikale hatten das Gefühl, mit dem Status als Kämpfer/in einer politischen Organisation etwas erreicht zu haben – nach Erfahrungen des Scheiterns in der bisherigen Lebensbiographie mit abgebrochenen Ausbildungen und Arbeitsverhält-nissen, Drogenkonsum und Straffälligkeit (vgl. Süllwold 1981, S. 87-88).

5.7 Biographische Auffälligkeiten von Terrorist/innen, die eine Radikalisierung begünstigen

Studien lassen erkennen, dass biographische Auffälligkeiten von Terrorist/innen offen-bar eine Radikalisierung begünstigen. Wichtige Radikalisierungsfaktoren sind Ideologie und Biographie des Individuums. Vor allem bei Rechtsextremist/innen gehen der Radi-kalisierung familiäre Gewalterfahrungen, gescheiterte Schul- und Berufsbiographien, Umgang mit einer bereits radikalisierten Gleichaltrigengruppe oder Hafterfahrung vor-aus (vgl. van Hüllen 2017, S. 98).

Eine Studie des Bundeskriminalamts zu Biographien von islamistischen Extremist/in-nen und Terrorist/inExtremist/in-nen legt nahe, dass der häufige Konsum von Alkohol und Drogen eine Rolle bei der Radikalisierung spielt (vgl. Lützinger 2010, S. 58), anders als bei Ter-rorist/innen, die sich dem sozialrevolutionären Terrorismus verschrieben haben, siehe unten. Darüber hinaus kamen die meisten befragten islamistischen Extremist/innen und Terrorist/innen aus prekären Familienverhältnissen, wo dysfunktionale Bewältigungs-strategien vorherrschten. Dadurch waren die Befragten auf sich selbst gestellt. Die schwierigen familiären Rahmenbedingungen führten in weiterer Folge zu schulischen Problemen oder sozialer Ausgrenzung. Meist war eine emotionale Trennung von der Familie die Folge. Das Wegbrechen des sicheren Hafens Familie führte zum Wunsch, diese Leere zu füllen. An die Stelle der nahen Verwandtschaft trat die Gleichaltrigen-gruppe (vgl. ebd., S. 67-68). „Mangels erlebter Geborgenheit und Orientierung im El-ternhaus war die engere Clique für die Befragten das einzig verfügbare soziale Stützsys-tem“ (ebd., S. 68). In logischer Folge machte sie dies anfällig für gruppendynamische Prozesse. So bekamen die jungen Extremist/innen und Terrorist/innen eine neue soziale Identität, die langsam in Begriff war, ihre Persönlichkeit und die damit verbundenen

schwierigen Verhältnisse im Elternhaus in den Hintergrund zu drängen, was wiederum die Radikalisierung innerhalb der Gruppe begünstigte. Die schwierige Kindheit und die familiären Zerwürfnisse unterscheiden sich zwar von der Durchschnittsbevölkerung, nicht jedoch von jenen anderer delinquenter Jugendlicher, die keinen Radikalisierungs-prozess hin zu Extremismus und Terrorismus durchlaufen haben (vgl. ebd., S. 68).

Die Studie des Bundeskriminalamts legt nahe, dass Radikalisierungsprozesse häufig auf schwierige Familienverhältnisse zurückzuführen sind. Dies gilt insbesondere bei rechts-extremen und islamistischen Gewalttaten, lässt sich aber bezüglich linksradikaler oder kommunistischer Führungsfiguren des 20. Jahrhunderts nicht bestätigen. Zwar ist eine Häufigkeit gestörter Familienverhältnisse bei einigen Staatslenkern auffällig. So hatte Stalin einen gewalttätigen Vater, Lenin hatte den Tod des Vaters sowie die Hinrichtung seines Bruders in seiner Jugend zu verkraften und János Kádár, Generalsekretär der Un-garischen Sozialistischen Arbeiterpartei, war ein uneheliches Kind. Und doch trifft diese Theorie auf viele andere kommunistische Staatslenker wie Walter Ulbricht, Erich Hone-cker, Josip Broz Tito, Enver Hoxha oder Nicolae Ceaușescu nicht zu (vgl. Miliopoulus 2017, S. 110). Trotzdem sagt die Tatsache, dass man nur von einem Elternteil großgezo-gen wurde oder die Eltern nicht verheiratet waren, nur bedingt etwas darüber aus, wie liebevoll man von diesen erzogen wurde. Umgekehrt können auch auf den ersten Blick gewöhnliche Familienbiographien von Kälte, Ablehnung oder Gewalt in der Kindheit geprägt sein. Staatslenker, erst recht diktatorische, geben kaum Informationen über ihre Kindheit preis – und wenn, sind diese oft geschönt.

Während die biographischen Verläufe linker Extremist/innen, Terrorist/innen und Staatsoberhäupter ambivalent sind, geht der Trend bei jenen im rechtsextremen Spek-trum in eine eindeutige Richtung. Faschistische und nationalsozialistische Führungsfi-guren scheinen häufig unter schwierigen Bindungsverhältnissen, auf die Kindheit zu-rückzuführen, gelitten zu haben. So hatten sowohl Adolf Hitler als auch Joachim von Ribbentrop gewalttätige Väter, Benito Mussolini war schulisch auffällig, Hermann Gö-ring lebte in offener Beziehung. Gegenbeispiele gibt es aber auch hier: Heinrich Himm-ler wuchs genauso unter geordneten Familienverhältnissen auf wie etwa Arthur Seyß-Inquart (vgl. Miliopoulos 2017, S. 111-112).

Bei einer gemeinsamen Analyse des Bundeskriminalamts (BKA), des Bundesamts für Verfassungsschutz (BfV) sowie des Hessischen Informations- und Kompetenzzentrums gegen Extremismus über Radikalisierungshintergründe und deren Verläufe von IS-An-hänger/innen, die von Deutschland aus islamistischer Motivation nach Syrien oder in den Irak ausgereist sind oder dies aktiv versucht haben, wurden von 2012 bis 2016 Bio-graphien von 784 IS-Kämpfer/innen ausgewertet. Von diesen waren 79% männlich. Die IS-Anhänger/innen waren durchschnittlich im Alter von 26 Jahren ausgereist, die Al-tersspanne reichte aber von 13 bis 62 Jahren. Die größte Altersgruppe stellten die 22-bis 25-Jährigen dar. Weniger als die Hälfte war zum Zeitpunkt der Ausreise alleinste-hend (44%), 28% waren nach deutschem, 22% nach islamischem Recht verheiratet. Zu-dem hatten 290 der 784 Ausreisenden Kinder. Von den nach deutschem Recht verheira-teten Ehepartner/innen waren nur 4% nicht-muslimischer Herkunft. 61% der IS-Anhän-ger/innen wurden in Deutschland geboren. 62% sind vor ihrem 21. Geburtstag nach Deutschland gekommen, weshalb die politische Sozialisation augenscheinlich in der Bundesrepublik stattfinden musste. Ebenfalls 62% besaßen die deutsche Staatsbürger-schaft, 19% die türkische und 7% die marokkanische. Zusammenfassend hatten 81%

der Ausgereisten Migrationshintergrund (vgl. BKA et al. 2016, S. 12-16).

Bei Linksextremist/innen fallen besonders viele Brüche der Sozialisierung im Jugendal-ter auf. Vor allem unvollständige ElJugendal-ternhäuser traten bei Terrorist/innen der RAF und der Bewegung 2. Juni in Erscheinung. 25% von ihnen waren nach dem 14. Lebensjahr Scheidungskinder, verglichen mit 13% in der Gesamtbevölkerung im Jahr 1979. 5% der Linksterrorist/innen waren Vollwaisen, 15% sind ohne Vater, 6% ohne die Mutter auf-gewachsen oder haben einen Elternteil während der Jugend verloren (vgl. Schmidtchen 1981, S. 29). Wendet man den Blick von den Herkunftsfamilien hin zu den selbst ge-gründeten, fällt auf, dass jede/r zweite Linksterrorist/in verheiratet war oder sich in einer festen Beziehung befand (vgl. ebd., S. 45).

Die Terrorist/innen der Brigate Rosse stammten meist aus katholischem oder kommu-nistischem Elternhaus und sind der Arbeiter/innenklasse zuzuordnen. Ähnlich wie die Extremist/innen der RAF studierten auch die meisten Brigadist/innen, anders als jene arbeiteten letztere hingegen häufig nebenbei in der Fabrik, um sich über Wasser halten zu können. Renato Curcio, einer der drei Gründer/innen der Roten Brigaden, wuchs in

einem katholischen Milieu auf, mit ehemaligen Partisanen in der Familie. Später stu-dierte er in Trento Soziologie und engagierte sich ab 1967 politisch in der Student/in-nenbewegung. Auch seine spätere Ehefrau Mara Cagol stammte aus einem ähnlichen Umfeld. Ein weiterer Gründer der Brigate Rosse, Alberto Franceschini, entsprang einer kommunistischen Arbeiterfamilie. Die erste Generation der Terrorist/innen kam aus dem industrialisierten Norden Italiens. Obwohl spätere Generationen der Brigadist/in-nen aus dem Süden stammten und auch dort Anschläge verübten, blieb der Norden Itali-ens stets das Haupteinsatzgebiet (vgl. Holzmeier/Mayer 2008, S. 283-284).

Der sozialrevolutionäre Terrorismus in der Bundesrepublik Deutschland hat eine so-ziostrukturelle Besonderheit: einen hohen Frauenanteil. 39% der Terrorist/innen der Be-wegung 2. Juni und 34% der RAF waren Frauen. Bei letztgenannter Terrororganisation waren sogar zwei der drei Führungsfiguren der ersten Generation, Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin, weiblich. Auch in der Bewegung 2. Juni nahmen Frauen Führungsposi-tionen ein, so z.B. Inge Viett und Ina Siepmann (vgl. Korndörfer 2008, S. 243).