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6. Ökonomische Konvergenz kraft EuGH: Theory of Bunny and the Dirty Swine (BADS)

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257 6. Ökonomische Konvergenz kraft EuGH: Theory of Bunny and the Dirty

Swine (BADS)

Auf Plattdeutsch (Low German) heißt das famose Märchen: „De Has un de Swinegel“

(„The bunny and the dirty swine“). Auf Hochdeutsch lautet der Titel weniger hässlich: „Der Hase und der Igel“ („The bunny and the hedgehog“). Im einleitenden Satz des Märchens ist zu lesen: „Die Geschichte ist eigentlich gelogen, aber wahr ist sie doch, denn (…) sonst könnte man sie ja nicht erzählen“. Warum steht ausgerechnet ein von den Gebrüdern Jacob

& Wilhelm Grimm für die Nachwelt konserviertes, volkstümliches Märchen als Pate für eine europäische Theorie im Rampenlicht, die den definitiven, zur Neutralität verpflichten- den und am geltenden Recht orientierten Mediator zwischen den Mitgliedstaaten der Euro- päischen Union, den EuGH, im Visier? Die an zu zeigenden EuGH-Effekten angelehnte BADS-Theorie will heißen: Bei diesem bösen Märchen findet ein unfair inszenierter Wett- lauf oder Wettbewerb zwischen Igel und Hase statt. Am Ziel steht stets der kurzbeinige, stachelige und listige Igel vor dem langbeinigen und sympathischen Hasen als Sieger des Wettbewerbs fest: „Ich bin schon da“, heißt es vom doublierten Igel in seinem frivolen Kommentar nach dem Wettkampf im Ziel. Der Wettbewerb zwischen beiden ungleichen Kontrahenten endet mit dem wettbewerblich induzierten Tod des favorisierten Hasen, wäh- rend der strategisch agierende Igel als Gewinner die zuvor ausgelobten Golddukaten und eine Flasche Branntwein als Anreiz des Siegers erhielt. Und die retardierte Moral von der Geschichte lautet: „Bunny, don`t trust the hedgehog!“

Wie in diesem gesellschaftlich bösen Märchen setzt sich auch die reale Welt aus sehr unterschiedlichen gesellschaftlichen Akteuren und Institutionen zusammen, die unter- einander im Wettbewerb stehen und egoistisch nach ihren Vorteilen streben. Der wehrhaft tückische Igel symbolisiert das überall präsente supranationale System des unverfälschten, dominanten Wettbewerbs als zentralen Faktor des europäischen Binnenmarktes (ökonomi- sche Integration), während der sich der aktuellen Herausforderung stellende Hase als Inkar- nation sympathischen Wohlgefühls sozialpolitisch formulierte Arrangements (politische Integration) sowohl der Mitgliedstaaten als auch der EU symbolisiert. In diesem realen europäischen Märchen ist stets der widerborstige, gut gerüstete und wehrhafte und offen- sichtlich wettbewerbserprobte Igel mit seinem personell doublierten Privileg als Erster im Ziel. Er dominiert das Szenario. Im Ergebnis ist der Wettbewerb permanent präsent, privi- legiert und dominant und verspricht Trophäen, also hier die Wohlfahrt. Der freundlich naive Hase als im Vorfeld determinierter Sieger gerät mangels Kenntnis wettbewerblicher Finessen dabei automatisch ins Hintertreffen. Das supranationale Freihandelssystem mit seinem institutionell gut gerüsteten Wettbewerb, wobei die gegen Fressfeinde gerichteten Stacheln des Igels diesen Schutz vorzüglich symbolisieren, ist stets schon mit seinen positi- ven Effekten zur Stelle, bevor das sozialpolitische System selbständige Ansprüche erheben kann und andere Bedingungen zum Verlauf des Wettbewerbs stellt. Im Transfer bedeutet diese märchenhafte Metapher: Das auf den vier Grundfreiheiten beruhende Freihandelssys- tem mit seinem inhärenten System des unverfälschten Wettbewerbs sowie dem allgemeinen Diskriminierungsverbot verfügt über einen prädominanten Charakter, während Verfäl-

K. Zapka, Binnenmarkt ohne Wohlfahrt?, DOI 10.1007/978-3-531-19212-3_6,

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schungen jeglicher Art von richterlichen Entscheidungen umgehend absorbiert werden. Mit wettbewerblichen Argumenten pflastert die EU ihren steinigen Weg zur Vollendung des supranationalen Freihandelssystems. So fabuliert frohlockend der EuGH-Richter in all seinen fallbezogenen Urteilen stets: „Der Wettbewerb ist schon da.“ Und am Schluss auch von modernen, realpolitischen Märchen heißt es: Wenn die EU nicht an multipel metasta- sierten Symptomen einer competitive disease gestorben ist, dann lebt sie trotz morbider Erscheinungen noch heute.

6.1 Wettbewerb, Rechtsfortbildung und Binnenmarkt als Referenzwert richterlicher Entscheidungen

Im allgemeinen Ergebnis legen Verfassungsgerichte den konstitutionellen Ordnungsrahmen einer Gesellschaft in demokratischen Rechtsstaaten, der von einem legislativen Framework vorgegeben wird, mit letzter Verbindlichkeit fest. Es sind nicht mehr die dafür legitimierten und zuständigen Parlamente der Nationalstaaten. In der Literatur werden Verfassungsge- richte wegen ihres „juridicized policy-making process“ (Stone 1992, 119ff) zur „Nebenre- gierung“, als „Dritte Parlamentskammer“ („third chamber model“) (Stone 1992, 209ff;

Stone Sweet 2000, 61) geadelt bzw. getadelt und/oder gelten als nicht unerheblicher politi- scher „Veto-Player“ (Hönnige/ Gschwend 2010, 508). Oder präziser: Ein Verfassungsge- richt fungiert als ordnungspolitischer Veto-Player mit letztinstanzlicher Macht, um bei Bedarf parlamentarische Maßnahmen zu korrigieren. Ein Bedarf liegt in der Regel dann vor, wenn legislative Maßnahmen mit Grundrechten oder Grundsätzen als konstitutive Merkmale eines Gemeinwesens kollidieren. Was für den richterlichen Veto-Player auf der nationalen Ebene gilt, trifft auch für die europäische Ebene zu. Mit anderen Worten defi- niert der politisch unabhängige EuGH in der Regel letztlich en detail den ordnungspoliti- schen Rahmen, wobei aber auch faktische, politische Grenzen zu nennen sind, wie an ande- rer Stelle am Beispiel des „irischen Wegs“ (Abtreibung als Dienstleistung) gegen den EuGH zu zeigen sein wird.

Das im Folgenden zu diskutierende und mit gewaltigen Emotionen besetzte Kon- fliktszenario bezieht sich auf die interdependenten, zentralen integrationspolitischen Fakto- ren Wettbewerb, Grundfreiheiten sowie politische Machtverschiebung durch richterliche Rechtsfortbildung. Dem europäischen Richter ist ein bestimmter Kontext für seine Ent- scheidungen vorgegeben, den er wegen seiner konzeptionellen Zielsetzung nicht über- schreiten darf. Er hat sich prinzipiell an geltendes Recht zu orientieren, das er im Rahmen normativer Auslegung aber durchaus dehnen oder legitimerweise erweitern kann. Inwieweit eine Rechtsfortbildung vorgegebener Normen bereits den Tatbestand einer unzulässigen Rechtsauslegung (Walter 2009) erfüllt, scheint offensichtlich nicht eindeutig beantworten werden zu können. Eine richterliche Rechtsfortbildung liegt per definitionem vor, wenn

„Richterrecht eine Anreicherung des Primär- oder Sekundärrechts hervorbringt, die über die Füllung von sowohl systemwidrigen als auch gegen die Intentionen des Gesetzgebers be- stehenden Rechtslücken hinausgeht“ (Höpner 2010b, 5). Diese diffuse Definition lässt aber zentrale Merkmale offen, wo eine Rechtslücke konkret begrenzt ist. Es fragt sich, ob Inten- tionen des Gesetzgebers wirklich stets verfassungskonform und im Zweifel mit systemwid- rigen Merkmalen ausgestattet sind. Rechtliche Lücken werden vom Gesetzgeber vorsätzlich geschaffen, um sie bei Bedarf im konkreten Einzelfall zu schließen. Hjalte Rasmussen spricht von judical activism (Rasmussen 1998, 26f).

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Festzuhalten ist zunächst: Rechtsfortbildung erfolgt auf supranationaler Ebene als eine nicht legitimierte Politikgestaltung per Rechtsprechung, die im strategisch perfekt geführten „Blitzkrieg“ nationales Terrain okkupiert und politische Kompetenzen nationaler Regierungen besetzt. Von Bedeutung ist die Grenzüberschreitung der legitimen Überbrü- ckung von Rechtslücken im Rahmen der rechtlichen Auslegungsmethoden. Gemeinsames Ziel aller Mitgliedstaaten gilt der primären Errichtung eines funktionierenden Binnenmark- tes, der den tatsächlichen Erfordernissen eines Freihandelssystems entspricht. Und eben mit diesem zentralen Ziel eröffnet sich zugleich eine riesige Lücke, die en detail mit kon- kreter Phantasie und sensibler Weitsichtigkeit geschlossen werden muss. Dieser komplexe Tatbestand kann in dieser plakativ artikulierten Zielgröße erst in dem Augenblick erfüllt sein, wenn Handelshemmnisse total aufgelöst sind und konvergente (Wettbewerbs- )Bedingungen sowohl auf allen Ebenen als auch in allen Mitgliedstaaten bestehen. Ein solches Unterfangen schließt auch solche Politikbereiche nicht vorm (un-)mittelbaren Ein- fluss der EU aus, die ihr explizit primärrechtlich entzogen sind. Einfluss soll/kann auch bedeuten, dass die Mitgliedstaaten eigenständige Korrekturen in ihren Systemen vorneh- men, die den Freihandel in irgendeiner Form nachteilig berühren könnten.

Grundlegend: Der primär auf Prinzipien des Freihandelssystems basierende euro- päische Binnenmarkt besteht als einheitliches Konglomerat aus drei Komponenten: 1) den Grundfreiheiten, 2) dem System des unverfälschten Wettbewerbs und 3) den allgemeinen Diskriminierungsverboten. Primär wird der Sicherung und dem Schutz des Wettbewerbs als multipel zentrales Anliegen, das in den Artt. 3-6 EUV, Art. 119 AEUV sowie Art. 26 AEUV (ex-Artt. 2, 3 Abs. 1 lit. g EGV, ex-Art. 4 Abs. 1 sowie Art. 14 EGV) eine markt- wirtschaftliche Ordnung determiniert, extraordinäre integrationspolitische Bedeutungen zugesprochen. Ein System unverfälschten Wettbewerbs soll den europäischen Binnenmarkt vor Asymmetrien, Hemmnissen jeglicher Art oder lokalen Privilegien jeglichen Inhalts schützen, wobei aber nicht per se deregulative Effekte verbunden sind. Eine marktwirt- schaftliche Wettbewerbsordnung entsteht aber weder von allein noch erhält sie sich von selbst. Eine Wettbewerbsordnung verlangt daher einen wirksamen Schutz gegen ihre Aus- höhlung durch private Akteure (Reinstadler 2005, 480f), für die primär der EuGH als „neut- rale“ Institution zuständig ist. Art. 3 EUV (ex-Art. 2 EGV) setzt als generellen Rahmen den Binnenmarkt mit seinen gesamten wettbewerbsneutralen Implikationen als grundlegendes Ziel der Europäischen Integration für richterliche Eingriffe und setzt zugleich rechtliche Grenzen und damit einzulösende Erfordernisse für die Rechtsprechung fest. Von überra- gender Bedeutung ist die Integration der nationalen Märkte, sprich: die „Verhinderung von Handelsschranken zwischen den Mitgliedstaaten, die durch Vereinbarungen oder Verhal- tensweisen von Unternehmen herbeigeführt werden“ (Everling 1990, 1009). Dieses integra- tionspolitische Anliegen wird in den europäischen Wettbewerbsregeln normativ konstatiert.

Sie stehen in unmittelbarer und unzertrennlicher Beziehung zu den vier Grundfreiheiten (Faktormärkte Kapital und Arbeit, Gütermärkte Waren und Dienstleistung/ Niederlassung).

Die Freiheit wirtschaftlicher Betätigung und des Wettbewerbs konstituiert sich zum hand- lungsleitenden Paradigma des gemeinschaftlichen Binnenmarktes (Kerber 1993, 288) und damit zur Leitidee der Europäischen Integration. Das ultimative Ziel der gemeinschaftli- chen Wettbewerbskonzeption beinhaltet die Schaffung eines einheitlichen Marktes: „Der Gemeinsame Markt ist Ausgangspunkt aller Entwicklungen in der Gemeinschaft. (...) Si- cherung und Ausbau des Gemeinsamen Marktes ziehen sich deshalb wie ein roter Faden durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs“ (Everling 1990, 1000). Damit erweist sich der

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EuGH dann in vielen Bereichen „häufig als Quelle von Liberalisierungsimpulsen“ (Welfens 2008, 734), wenn solche Liberalisierungen verhindert werden.

Im Sinne des supranationalen Freihandelssystems stellt der EuGH in ständiger und stoischer Rechtsprechung darauf ab, dass die integrationspolitischen Ziele gemäß EG- Vertrag nur über einen effektiven Wettbewerb im Rahmen des Freihandelssystems erreicht werden können: „Der (...) unverfälschte Wettbewerb setzt das Vorhandensein eines wirk- samen Wettbewerbs (workable competition) auf dem Markt voraus; es muß also soviel Wettbewerb vorhanden sein, daß die grundsätzlichen Forderungen des Vertrages erfüllt und seine Ziele, insbesondere die Bildung eines einzigen Marktes mit binnenmarktähnlichen Verhältnissen, erreicht werden“ (EuGH, Urteil vom 25. 10. 1977, Metro SB-Großmärkte GmbH & Co. KG gegen Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Rs. 26/76, Slg.

1977, 1875-1933, Leitsatz 4). Ein „wirksamer Wettbewerb“ gilt mithin als handlungslei- tende Referenznorm, an der supranationaler Wettbewerb zu messen ist. Danach soll gemäß der Europäischen Kommission der Wettbewerb zur bestmöglichen Nutzung der Produkti- onsfaktoren führen, die stetige Anpassung der Angebots- und Nachfragestrukturen erleich- tern und die Leistungsfähigkeit der Unternehmen verbessern (Kerber 1993, 289). Grundla- ge des vor Verfälschungen zu schützenden gemeinschaftlichen Wettbewerbs gilt der Selb- ständigkeit unternehmerischer Entscheidungen und der freien, ungehindert zugänglichen Wahlmöglichkeit der Verbraucher zwischen Erzeugnissen und Dienstleistungen. In der Sicherung der unternehmerischen Autonomie wird auch ein wesentlicher Sinn und Zweck des europäischen Kartellverbots gesehen (Bleckmann 1997, Rz. 1793). Die vier Grundfrei- heiten und der inhärente wirtschaftliche Wettbewerb mit seinen allgemeinen Diskriminie- rungsverboten werden als Garanten des wohlfahrtsökonomischen Erfolges der Europäi- schen Union bewertet (Sturm 2003, 385), so wie es die neoklassische Wirtschaftslehre mit ihrem Modell des vollkommenen Marktes in lehrbuchhafter Präzision antizipiert.

Die grundlegenden Prinzipien der europäischen Wettbewerbspolitik konnten be- reits in den Römischen Verträgen gelegt werden. Bereits der EWG setzte die normative Verpflichtung fest, gemäß Art. 2 EWGV einen Gemeinsamen Markt zu schaffen. Nach Art.

3 lit. f EWGV sollte die „Errichtung eines Systems“ veranlasst werden, das „den Wettbe- werb innerhalb des Gemeinsamen Marktes vor Verfälschungen schützt.“ Art. 3 lit. g EWGV ermöglicht der Gemeinschaft, die „Anwendung von Verfahren, welche die Koordi- nierung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaten und die Behebung von Störungen im Gleichgewicht ihrer Zahlungsbilanzen ermöglichen“. Zudem wird gemäß Art. 3 lit. h EWGV eine Angleichung der innerstaatlichen Rechtsvorschriften (Harmonisierung) inten- diert, „soweit dies für das ordnungsgemäße Funktionieren des Gemeinsamen Marktes er- forderlich ist“ (Mische 2002, 143). Konkretisierungen erfahren diese Vorschriften sowohl im zweiten Teil, den „Grundlagen der Gemeinschaft“ und im dritten Teil, der „Politik der Gemeinschaft“ des EWGV. Der erste Teil der „Grundlagen der Gemeinschaft“ beinhaltet die Regulierung des freien Warenverkehrs durch Abschaffung der Zölle. Die Wettbewerbs- politik ist in den Art. 107 AEUV (ex-Art. 81-89 EGV) verortet. Die Vorschriften der euro- päischen Wettbewerbspolitik haben sich seit Gründung der EWG kaum geändert (Sturm 2003, 386). Folglich steht auch die unveränderte Frage im Raum, unter welchen Bedingun- gen der Wettbewerb gestört ist. Oder in welchem Ausmaße benötigt die EU für sämtliche Akteure geklonte Parameter für ihren wirksamen Wettbewerb?

Zwei Paradigmen beherrschen die Wettbewerbspolitik als integrationspolitisches Anliegen (Schmidt 2001, 366ff). Als erstes Paradigma ist die Instrumentalisierung der Wettbewerbspolitik zur Erfüllung der integrationspolitischen Ziele der Gemeinschaft zu

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nennen. Der europäische Wettbewerb gilt nicht als Selbstzweck, sondern fungiert vielmehr als Mittel zur Erreichung der in Art. 3 EUV (ex-Art. 2 EGV) formulierten allgemeinen Vertragsziele. Nach diesen Zielen wird die Wettbewerbspolitik hauptsächlich als Instru- ment zur Errichtung eines Gemeinsamen Marktes genutzt. Von entscheidender Bedeutung für die Europäische Integration sind unstreitig die Integration der nationalstaatlichen Märk- te und damit zugleich die normative Verhinderung desintegrierender Handelsschranken zwischen den Mitgliedstaaten. Daher fordert Art. 3 lit. g EGV die Errichtung eines Sys- tems, „das den Wettbewerb innerhalb des Binnenmarktes vor Verfälschungen schützt.“ Die wesentliche Funktion der supranationalen Wettbewerbspolitik zielt auf die Wahrung der Einheit des europäischen Binnenmarktes. Es ergibt keinen integrationspolitischen Sinn, wenn im gleichen Atemzug Handelsschranken wie Zollabbau demontiert werden und zu- gleich Akteure der Mitgliedstaaten nationale Märkte über staatliche Beihilfen und Wettbe- werbsbeschränkungen wieder gegenseitig abschotten könnten. Folglich bemüht sich die Gemeinschaft um drei wettbewerbspolitische Ziele, die in unmittelbarer Beziehung zu den vier Grundfreiheiten stehen (Schmidt 2001, 366): Öffnung der nationalen Märkte, Beseiti- gung bestehender Wettbewerbsverfälschungen und Förderung eines wirksamen Wettbe- werbs als Steuerungsinstrument des binnenmarktlichen Geschehens. Kurz: Gemeinschaftli- che Wettbewerbspolitik gilt primär als Integrationspolitik (Schmidt 2001, 367).

Das zweite Paradigma instrumentalisiert die gemeinschaftliche Wettbewerbspoli- tik zur Erreichung außerwettbewerblicher Ziele. Die Berücksichtigung struktur- und regio- nalpolitischer Zieldimensionen galt von Anfang an als gleichwertig gegenüber dem Para- digma der Marktöffnung (Schmidt 2001, 376). Die Instrumentalisierung der supranationa- len Wettbewerbspolitik zur Erreichung außerwettbewerblicher Ziele heißt, dass die Europä- ische Kommission in ihrer Entscheidung neben der wettbewerblichen Zielkategorie auch außerwettbewerbliche Ziele der Industrie-, Regional-, Sozial-, Verbraucherschutz-, Be- schäftigungs-, Technologie- und Umweltpolitik einzulösen hat (Berthold/ Hilpert 1996, 85f; Berg/ Schmidt 1998; Hellmann 1994). Allerdings steht dieses komplexe Anliegen unter Vorbehalt des dominanten Wettbewerbs. Das zweite Paradigma darf gemäß EuGH nicht zu einer „Abschwächung des Wettbewerbs“ und damit den Zielsetzungen des Ge- meinsamen Marktes zuwiderlaufen (Schmidt 1999, 137). Wenn alle europäischen Akteure gleich hohen wohlfahrtsökonomischen Standards folgen müssen, dann besteht innerhalb des europäischen Kontextes zunächst keine interne Abschwächung des wettbewerblichen Paradigmas. Zugleich wird das zweite Paradigma der EU eingelöst, nämlich wohlfahrtöko- nomische Effekte gemeinschaftsweit durchzusetzen. Schon die Europäische Kommission brachte das holistisch zu bewertende Selbstverständnis der Gemeinschaft zum Ausdruck, der zufolge die Herstellung gleicher Wettbewerbsmerkmale sowie die Herstellung sozialer Fortschritte zwei Seiten einer Medaille sind. Diese Perspektive entspricht dem normativen Erfordernis nach Art. 3 EUV (ex-Art. 2 EGV). Problematische Dimensionen innerhalb der EU entfalten sich jedoch bei ökonomisch weniger leistungsstarken Akteuren, die bei Erfül- lung wohlfahrtsökonomischer Perspektiven der EU über deutlich geringere Wettbewerbs- chancen verfügen. Komparative Vorteile werden gerade in volkswirtschaftlich weniger entwickelten Mitgliedstaaten durch materiell geringer ausgestattete nicht tarifäre Standards ermöglicht. Im Rahmen der Lissabon-Strategie aber strebt die Union ausdrücklich an, zur dezidiert wettbewerbsfähigsten Region der Welt aufzusteigen (Zapka 2008). Mithin drängt sich notwendig der Effizienzfaktor in den handlungspolitischen Vordergrund. Erst im glo- balen Kontext wird das Erfordernis des EuGH, den Ausschluss einer Abschwächung des Wettbewerbs zu beachten, für sämtliche Akteure auch aus dieser postsupranationalen Per-

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spektive virulent. Wie dieser selbst inszenierte Trade-off gelöst wird, ist Gegenstand der folgenden Ausführungen.

6.1.1 Prinzipalität (supra-)nationaler Richter, Binnenmarkt als unbestimmter Rechts- begriff und politische Justiz versus BVerfG als finaler Veto-Player

Die systematische Reichweite supranationaler Rechtsnormen auf bestimmte Bereiche in- nerstaatlicher Rechtsetzung gilt als eindeutig. Nach Art. 24 Abs. 1 GG kann der deutsche Nationalstaat per Gesetz bestimmte Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Institutionen transferieren. In den Worten des BVerfG heißt es: „Art. 24 Abs. 1 GG ermöglicht es, die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland derart zu öffnen, daß der ausschließliche Herrschaftsanspruch der Bundesrepublik Deutschland für ihren Hoheitsbereich zurückge- nommen und der unmittelbaren Geltung und Anwendbarkeit eines Rechts aus anderer Quelle innerhalb dieses Hoheitsbereichs Raum gelassen wird“ (BVerfGE 73, 374). Dieser Sachverhalt führt zu entsprechenden Folgen für die Mitgliedstaaten durch die europäische Rechtsprechung. Um im Folgenden keine Missverständnisse bezüglich des Impact-Faktors supranationaler Rechtsprechung keimen zu lassen: Der EuGH mit seiner weitreichenden richterlichen Definitionsmacht gilt nicht nur in Deutschland als gesetzlicher Richter, seine Entscheidungen lösen mithin direkte Rechtswirksamkeit aus. Für die Gültigkeit dieses (rechts-)politischen Tatbestands räumte keine geringere Institution als das BVerfG (BVerf- GE 73, 339ff) in seinem Solange II-Beschluss bereits vom 22. Oktober 1986 alle Zweifel aus (Scholz 1990, 53). Im Leitsatz 1a des Urteils vom BVerfG steht: „Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften ist gesetzlicher Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Er ist ein durch die Gemeinschaftsverträge errichtetes, hoheitliches Rechtspflegeorgan, das auf der Grundlage und im Rahmen normativ festgelegter Kompetenzen und Verfahren Rechtsfragen nach Maßgabe von Rechtsnormen und rechtlichen Maßstäben in richterlicher Unabhängigkeit grundsätzlich endgültig entscheidet.“ Die Grundlagen, sprich: „Anwen- dung“, „Auslegung“ und „Wahrung des Rechts“ des europäischen Richterrechts werden in Art. 19 EUV (ex-Art. 220 EGV) geregelt (Calliess 2005). Der EuGH „verhilft einer europä- ischen Rechtsordnung zur Wirksamkeit und reichert diese im Wege der Rechtsfortbildung durch Grundsätze und Regeln an“ (Zuleeg 2001, 205). Diese begrifflich doch eher defensiv formulierte Anreicherung von Recht ist zwar völlig akzeptabel, doch sie verschleiert die wahre integrationspolitische Potenz des EuGH. Die Reichweite des Europäischen Gerichts- hofes lässt erheblich umfassendere politische Effekte zu: „The European Court of Justice (…) possesses the legal right to strike down both EU and national laws it deems irreconci- lable with treaty provisions“ (Hong 2010, 695). Fritz Scharpfs artikulierte und nicht mehr junge Warnung sollte deshalb mit entsprechender Achtsamkeit gefolgt werden: „Aufgrund der damit einhergehenden gewaltigen institutionellen Definitionsmacht des EuGH ist es dringend geboten, die richterrechtliche Durchsetzung europäischer Politik sehr ernst zu nehmen“ (Scharpf 1996, 109). Ein angemessener Ratschlag aber begründet sich eher in der dringenden Forderung nach politischer Kontrolle des EuGH, wenn er politische Vereinba- rungen der Mitgliedstaaten missachtet. Aus politischer Perspektive endet die richterliche Macht des EuGH im Augenblick des Überschreitens vereinbarter integrationspolitischer Grenzen durch das grundlegende Primärrecht, während sie andererseits auf der rechtlichen Ebene im Rahmen der Auslegung politisch vereinbarter Normen erheblich umfassender wirkt.

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Nicht nur auf eben dieser politisch akzeptierten Grundlage höchstrichterlicher Rechtsprechung gelingt es dem EuGH, seiner – zumindest von den Nationalstaaten explizit geförderten und mitgliedstaatlich notwendigerweise gebilligten – „Selbstautorisierung“ als

„Verfassungsgericht“ (Höreth 2009, 166) sein institutionelles Profil zu verleihen. Auch resultiert aus dem gemeinschaftlichen Recht eine eigenständige und unmittelbare Anwen- dung. In ständiger Rechtsprechung verdeutlicht der EuGH, dass die Union über bestimmte Zuständigkeiten verfügt und in diesem definierten Bereich unabhängig und autonom han- deln kann. Beim supranationalen Recht und nationalen Recht bestehen im rechtsdogmati- schen Verständnis - und zweifellos auch aus selbstlegitimatorischen Motiven - des EuGH

„zwei selbständige, voneinander verschiedene Rechtsordnungen“, die der Gemeinschaft gegenüber dem Nationalstaat grundsätzlich einen unabhängigen, gleichwohl strikt begrenz- ten Handlungsraum zusichert. Das Gemeinschaftsrecht fließt aus „einer autonomen Quel- le“, nämlich aus dem von allen Mitgliedern unterzeichneten Gründungsvertrag. Es waltet das Prinzip unmittelbarer Wirkung mit gemeinschaftsrechtlicher Vorrangswirkung, das eine entscheidende und notwendige Basis für integrationspolitische Effekte in den nationalen Rechtssystemen und mithin für die unmittelbare Umsetzung der im EG-Vertrag verorteten Grundfreiheiten bildet. Es fungiert als unabdingbares Agens zur Gestaltung und Verfesti- gung der Europäischen Integration (Wolf-Niedermaier 1997, 74-108).

Diese vom EuGH verfügte rechtspolitische Konstellation hat politisch ursprüng- lich nicht intendierte und mittlerweile aber deutliche praktische Konsequenzen: In Deutsch- land ist es nur dem BVerfG gemäß §§ 13, 31 BVerfGG gestattet, ein nationales Gesetz bei Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz aufzuheben. Nach § 31 Abs. 2 BVerfGG beinhalten Entscheidungen des BVerfG ausdrücklich „Gesetzeskraft“. Die EU bietet dagegen normati- ve Substanz mit effizienteren Möglichkeiten, geltendes Recht im Nationalstaat aufzulösen.

Über die europäische Ebene kann sogar ein nationaler zivilrechtlicher Richter der ersten Instanz (Amts-, Arbeits-, Sozial-, Verwaltungsgericht) der Gerichtsbarkeit ein nationales Gesetz über ein Vorabentscheidungsersuchen mittels Vorrangswirkung eines supranationa- len Rechts für nichtig erklären. Folglich agiert ein nationaler Richter als juge communau- taire de droit commun (Skouris 2008, 20). Auch ein nationaler Richter fungiert faktisch als supranationaler Richter, der den generellen und umfassenden (Vorrangs-)Kompetenzen eines EuGH-Richters nicht nachsteht.

Gegenüber dem argumentativen Duktus des EuGH als verselbständigter Akteur bleiben hinreichende politische Vorbehalte anzumerken: Beide Rechtssysteme gelten nur de jure oder rechtsdogmatisch als autonome Institutionen. Aus politischer Perspektive kann sich das supranationale System gegenüber dem nationalen Recht im Sinne des geltenden Art. 2 AEUV (ex-Art. 2 EGV) ausschließlich zur Erzielung wohlfahrtsökonomischer Effek- te legitimieren und mithin eineindeutig nur als ergänzendes, kompensatorisches System fungieren. Nicht nur das supranationale Rechtssystem, sondern die EU insgesamt verlieren ad hoc ihre Legitimations- und langfristig ihre Integrationskraft, wenn sie mit negativen gesamtgesellschaftlichen Effekten wohlfahrtsökonomische Präferenzen des Nationalstaates eliminiert.

Im Unterschied zum außereuropäischen Völkerrecht erfasst das Gemeinschafts- recht nicht nur alle Mitgliedstaaten, sondern auch deren Bürger. Nach Spruch des EuGH gilt der einzelne Bürger der Europäischen Union als Subjekt der rechtlichen Ordnung (Hö- reth 2009, 167). Der Europarechtler Ulrich Haltern unterstreicht die eigenständige Wirkung europäischer Rechtsanwendung: „Mit der Ausnahme von Richtlinien erzeugt das EG-Recht sowohl in vertikaler Hinsicht, also im Verhältnis zwischen Staat und Bürgern, als auch in

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horizontaler Hinsicht, also in den Beziehungen der Bürger untereinander, gerichtlich durch- setzbare Rechte und Pflichten. Innerstaatliche Gerichte sind verpflichtet, dieses Recht durchzusetzen und Schutz zu gewährleisten, als ob es sich um innerstaatliches Recht hande- le“ (Haltern 2005, 402). Die zitierten Erkenntnisse in Rechtsprechung und Literatur überra- schen keineswegs, denn diese auf die Mitgliedstaaten und ihre Bürger gerichteten Effekte entsprechen der trivialen Logik des zwischen allen Mitgliedstaaten verabredeten Freihan- delssystems, primär seiner Vollendung des Binnenmarkts nebst Abbau aller erdenklichen Handelshemmnisse und damit den politischen Intentionen der Europäischen Integration.

Ohne diesen verbindlichen subjektiven Impactfaktor bleiben die vertragsrechtlich formu- lierte Integration und damit die EU im programmatischen Stadium oder in unverbindlichen Erklärungsabsichten stecken.

Der EWG-Vertrag wurde in Rom einst als völkerrechtlicher Vertrag geschlossen, ohne dass sich daraus subjektive Ansprüche für wirtschaftliche Akteure ableiten ließen.

Zahlreiche rechtliche Grundsätze resultieren direkt aus der Rechtsprechung des EuGH, wie der Vorrang und die Direktwirkung des europäischen Rechts auf private Akteure. Martin Höpner bewertet dieses Phänomen als unzulässigem Akt der „Rechtsfortbildung und – schöpfung“, die sich „im Ergebnis nicht von politischen Vertragsrevisionen unterscheidet“

(Höpner 2010b, 1). Zwar gilt dieser Sachverhalt der vorrangigen Anwendung theoretisch als ungeklärt, doch aber zugleich auch als „unhinterfragt“: „Die Frage ist weder im europäi- schen Primärrecht (…) noch im Grundgesetz geregelt“ (Franzius 2010a, 438). Schon zu Beginn der 1960er Jahre entwickelte der EuGH das verbindliche Rechtsinstitut einer unmit- telbaren Wirkung europäischer Rechtsnormen gegenüber den Mitgliedstaaten, die in späte- ren Entscheidungen bekräftigt werden (Höpner 2009, 408). In seinen Urteilen „van Gend &

Loos gegen Niederländische Finanzverwaltung“ (EuGH 1963) und „Costa-ENEL“ (EuGH 1964) entwickelte der EuGH folgerichtig das Dogma von der Direktwirkung (Franzius 2010b, 38ff; Haltern 2007, 320ff) und damit den inhärenten Vorrang des Gemeinschafts- rechts vor nationalem Recht (Höreth 2009, 168ff). Der Gemeinschaftsvertrag gilt danach als selbständige Rechtsordnung und wird damit vom Recht der Mitgliedstaaten losgelöst.

Supranationale Normen müssen aus dem Gemeinschaftsrecht selber heraus ausgelegt wer- den. Sie „müssen weder vollständig noch partiell auf das jeweilige einzelstaatliche Rechts- verständnis verweisen“ (Franzen 2009, 149). Auch der Rechtswissenschaftler Michael Potacs entlarvt im EuGH-Urteil zum uneingeschränkten Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor staatlichem Recht „deutliche Spuren von Rechtsfortbildung“ durch den Gerichtshof (Potacs 2009, 483). Damit emanzipierte sich das „Europarecht vom Völkerrecht und leitete die Konstitutionalisierung der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ein“

(Höpner 2008, 12). So urteilt der EuGH am 5. Februar 1963 in einer Vorabentscheidung zu

„van Gend & Loos“: „Die „Europäische Wirtschaftsgemeinschaft stellt eine neue Rechts- ordnung des Völkerrechts dar, zu deren Gunsten die Staaten, wenn auch in begrenztem Rahmen, ihr Souveränitätsrecht eingeschränkt haben; eine Rechtsordnung, deren Rechts- subjekte nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch die Einzelnen sind“ (Leitsatz 3 des Urteils).

In den Römischen Verträgen haben sich die Signatare politisch zwar nicht explizit über die Nachrangigkeit nationalen Rechts verständigt, jedoch billigend in Kauf genom- men. Auch in anderen Entscheidungen bekräftigt der EuGH, dass seinen Urteilen unmittel- bar Folge zu leisten ist, deren nationale Implementation offensichtlich erfolgt (Wolf- Niedermaier 1997, 64ff, 78ff). Auf diesen Grundsätzen der unmittelbaren Wirkung wird der Vorrang der in den Römischen Verträgen verankerten Grundfreiheiten frühzeitig dogma-

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tisch gefestigt (Höpner 2009, 409f). Nach Wertung des EuGH ergibt sich aus dem Römi- schen Vertrag, „dass dem vom Vertrag geschaffenen, somit aus einer autonomen Rechts- quelle fließenden Recht (…) keine wie immer gearteten innerstaatlichen Vorschriften vor- gehen können, wenn ihm nicht sein Charakter als Gemeinschaftsrecht aberkannt und wenn nicht die Rechtsgrundlage der Gemeinschaft selbst in Frage gestellt werden soll“ (EuGH 1964, 1269). Das Prinzip unmittelbarer Wirkung des gemeinschaftlichen Rechts erstreckt sich nach EuGH-Urteilen später notwendigerweise auch auf das Sekundärrecht, mithin auf die unmittelbare Wirkung nicht nur der im Primärrecht politisch definierten Vertragsbedin- gungen, sondern auch auf die Rechtssetzung durch gemeinschaftliche Organe sowie auf EG-Abkommen (Höpner 2009, 408). Dass die Römischen Verträge über die üblichen Ef- fekte völkerrechtlicher Verträge hinausgehen, liegt im erklärten Willen der Signatare der Gemeinschaftsverträge und damit im eineindeutigen Ermessen aller politischen Entschei- dungsträger.

Aus den zitierten Indikatoren folgert Marcus Höreth unter direkter Berücksichti- gung der aus der Wirtschaftswissenschaft entlehnten Principal-Agent-Theory eine weitrei- chende „Selbstautorisierung“ des europäischen Gerichts. Die Theorie, der zufolge der Eu- ropäische Gerichtshof als „bloßer Diener der mitgliedstaatlichen Regierungen“ (Höreth 2009, 194) fungiere, sei nicht haltbar. Der EuGH könne sich den politischen Akteuren ent- ziehen, der EuGH sei keineswegs als „Agent“ der Mitgliedstaaten zu bezeichnen (Höreth 2009, 195).

Ein professioneller Richter agiert in einem politisch aseptischen Raum, als Bürger lebt er jedoch in keiner politischen Quarantäne. Ein Richter ist nicht nur beruflich soziali- siert, sondern auch gleichzeitig ein politischer Mensch, der mit bestimmten gesellschaftspo- litischen Perspektiven ausgestattet ist. Ein Richter bemüht sich wie andere Akteure um berufliche Anerkennung. Eine Anerkennung aufgrund seiner nationalen Verdienste ist die Berufung an den EuGH. So kann die Prinzipal-Agent-Theorie auch als Hebammen-Theorie bezeichnet werden, weil sie jedem Mitgliedstaat mit entsprechend professioneller Richter- hilfe bei anstehenden Urteilen zur Geburt nutzenbringender Urteile verhelfen soll. Zur Geburt eines EuGH-Aktes aber steht stets ein größeres Ensemble (Kammer) zur Verfügung, deren einzelne Mitglieder cum grano salis nur im Ausnahmefall allesamt identische Inte- ressen verfolgen. Einzelne Richter als de jure unabhängige Institutionen samt ihrer spezi- fisch gesellschaftspolitischen Orientierungen, die den Status ihrer rechtlich gesicherten Unabhängigkeit jedoch faktisch unterwandern, werden auf ausdrücklicher Empfehlung von ihren Mitgliedstaaten in das elitäre Amt geleitet und haben nach dieser Theorie im Sinne der do-ut-des-Strategie offensichtlich als Hebammen der chauvinistischen Aufgabe nach- zukommen, ihren nationalen Fürsprechern als faktische Gegenleistung zu erwarteten Effek- ten zu verhelfen. Dabei verfügt dieser Nutzeneffekt über eine sehr breite Palette richterli- cher Auslegung von europäischen Normen, die einerseits im Sinne des Freihandelssystems extrem weit, andererseits im Sinne faktischer Protektionismen aber auch äußerst eng defi- niert werden können.

Mit seiner „Politisierungshypothese“ unterstreicht Martin Höpner im Zuge der Prinzipal-Agent-These die europäische Rechtsprechung als verselbständigte Institution. So seien „zahlreiche europarechtliche Grundsätze selbst Schöpfungen des EuGH.“ Dazu zäh- len der institutionelle Vorrang und die Direktwirkung des europäischen Rechts, wobei er dessen „unmittelbare Drittwirkung auf Private (…), die normative Signifikanz der Grund- freiheiten als Beschränkungsverbote (statt lediglich: Diskriminierungsverbote) und europäi- sche Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze der Gemeinschaft“ (Höpner 2010b, 5)

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betont. Folglich mutiere der EuGH vom „Hüter der Verträge“ zum „Motor der Integration“

(Streinz 2010, 27f) und betreibe „Rechtsfortbildung und -schöpfung, die sich im Ergebnis nicht von politischen Vertragsrevisionen unterscheidet“ (Höpner 2010b, 5).

Um das gemeinschaftlich definierte Ziel in allen Mitgliedstaaten durchzusetzen, ist die Erstellung einheitlicher Bedingungen im Binnenmarkt unabdingbar. Ohne expliziten Vorrang und Direktwirkung europäischer Normen bleiben protektionistische Verhaltens- weisen unter nationalem Nutzenaspekt mit großer Wahrscheinlichkeit erhalten, wie an diversen Beispielen richterlicher Entscheidungen zum letztlich untauglichen Versuch pro- tektionistischer Maßnahmen von Nationalstaaten nachgewiesen werden kann. Exemplarisch dafür gilt der Likör-Fall „Cassis de Dijon“ bezüglich seines Alkoholgehalts (Streeck 1998, 374; Höpner 2010b, 16), das Urteil zum Reinheitsgebot des deutschen Bieres oder die fast satirisch anmutende Entscheidung zur belgischen Verpackungsverordnung für Margarine.

Das belgische Gesetz ließ nur in Würfelform abgepackte Margarine zum Verkauf zu (Weindl 1996). Diese Urteile verifizieren nicht die Agenten-Theorie, da sämtliche Klagen gegen den Prinzipal entschieden wurden.

Die aus dem wirtschaftswissenschaftlichen Theorierepertoire abgeleitete Principal- Agent-Theory als Element der Neuen Institutionenökonomik (Erlei et al. 2007) gilt als Mo- dell, welches Handlungen von Akteuren zu deuten versucht. Dieses Modell unterstellt bei allen involvierten Akteuren in ihren jeweiligen Subsystemen opportunistisches Verhalten.

Es geht von einem Auftraggeber (Prinzipal) aus, der einen Auftragnehmer (Agent) mit einer bestimmten Aufgabe oder Funktion betraut. Beide Akteure (Institutionen) handeln aber nach diesem Modell im eigenen Interesse. Der Prinzipal (Mitgliedstaat) fungiert als inter- gouvernementaler Akteur, der Agent (EuGH) als supranationaler Akteur. Die Ziele beider Institutionen weichen mithin per se voneinander ab, so dass es notwendig zu Konflikten kommen kann. Anliegen aber des Prinzipals ist es, den Agenten für eigene Ziele zu nutzen.

Um den Agenten für seine eigenen Ziele und zur Vermeidung von Agenturkosten zu in- strumentalisieren, benötigt der Prinzipal insbesondere ein überzeugendes Anreizsystem (Erlei et al. 2007, 103ff) für den Agenten. Vorausgesetzt, ein Mitgliedstaat wäre Monopo- list in der EU, dann wäre eine nutzenorientierte Kooperation zwischen beiden Institutionen angemessen und sinnvoll. Allerdings ist ein Mitgliedstaat, der zugleich nur einen richterli- chen Agenten im kollegial agierenden Organ des EuGH einnisten kann, kaum in der Lage, mit entsprechenden Anreizsystemen seine politischen Intentionen durchzusetzen. Auf der europäischen Ebene intendieren derzeit 27 nationalstaatliche Prinzipale, die nach diesem Modell ihren Nutzen durch die Auswahl parteipolitischer Präferenzen ihrer 27 verschiede- nen, richterlichen Agenten entsprechende Kostensenkung zu maximieren versuchen. Die personelle Zusammensetzung des Gerichts nach Art. 253 AEUV (ex-Art 223 EGV) ist normativ so organisiert, dass alle drei Jahre eine teilweise Neubesetzung des EuGH erfolgt.

Mit diesem stetigen, partiellen Revirement erfährt selbst eine intendierte Bildung parteipo- litischer Fraktionen am Gerichtshof nahezu einen totalen Ausschluss oder zumindest eine starke Behinderung. Die komplexe Struktur des EuGH schließt im Sinne der Principal- Agent-Theory eine politische Instrumentalisierung eines Richters nahezu völlig aus.

Als kollegiale Institution entscheiden nach der Verfahrensordnung (EuGH VerfO) die Kammern des EuGH obligatorisch mit einfacher Mehrheit der Richter. Art. 27 § 5 Abs.

1 EuGH VerfO legt fest: „Die Meinung, auf die sich die Mehrheit der Richter nach der abschließenden Aussprache geeinigt hat, ist für die Entscheidung des Gerichtshofes maß- gebend.“ Solche Mehrheitsbeschlüsse beinhalten in der Regel notwendig Kompromisse zwischen den Richtern, zumal die Auslegung vieler Vertragsvorschriften eine erhebliche

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Konkretisierungsleistung in der richterlichen Entscheidungspraxis verlangt (Danwitz 2008, 773, 780). Für den EuGH besteht die besondere Herausforderung in der Substantiierung diffuser Rechtsbegriffe, die von den politisch verantwortlichen Entscheidungsträgern zur richterlichen Konkretisierung hinterlassenen werden. In Urteilen unterlegene Richter verfü- gen dabei nicht über die – beim US-Supreme Court bestehende - Möglichkeit, eine dissen- ting opinion zu veröffentlichen (Danwitz 2008, 778).

Der EuGH verfügt über verschiedene Spruchkörper. Nach der Verfahrensordung des EuGH (Art. 16 Abs. 4 EuGH-VerfO) tagt das Plenum mit seinen 27 Richtern wegen der numerischen Erschwernis zur richterlichen Entscheidung nur in Ausnahmefällen. Solche schwerwiegenden Fälle beziehen sich auf Verfahren zur Amtsenthebung oder zur Sanktio- nierung von Pflichtverletzungen des Bürgerbeauftragten, der Mitglieder der Europäischen Kommission und des Rechnungshofes (Haltern 2007, 174 Rn. 305). Ansonsten tagt der EuGH grundsätzlich in Kammern. Zu entscheidende Rechtssachen ohne besondere Schwie- rigkeiten werden von der Großen Kammer mit 13 Richtern (Art. 16 Abs. 2 VerfO) besetzt.

In der Praxis entscheidet die Große Kammer über 12,5% der Rechtssachen, den Rest ent- scheiden Kammern (Art. 16 Abs. 1 VerfO), die mit drei Richtern (ca. 25%) oder mit fünf Richtern (ca. 60%) agieren (Danwitz 2008, 777). Mindestens drei Richter müssen bei dem Urteil zustimmen. Einzelrichter sieht Art. 50 VerfO des EuGH auch vor, jedoch sind dafür bislang (Stand 2011) noch keine Ausführungen in der VerfO ergangen.

Die Union gibt mit ihrer „Politik der kleinen Kammern“ die einst intendierte und für die Europäische Integration notwendige Repräsentation einer allen nationalen Rechts- kulturen gerechten europäischen Ordnung auf. Mit dieser institutionellen „kleinen“ Ord- nung als richterliche Lösungsstrategie nimmt die EU nolens volens in Kauf, parteipolitisch akzentuierte Entscheidungen zu fördern. Zumindest aber ermöglicht sie die Förderung solcher rechtsstaatlich bedenklichen Entscheidungen, wie an exemplarischen Urteilen (La- val etc.) an anderer Stelle nur vermutet werden kann. Je nach nationalspezifischer personel- ler Besetzung der kleinen Kammern und den am Verfahren beteiligten Klägern und Beklag- ten kann eine normative Auslegung exzessiv im Sinne eines totalen Freihandelssystems oder moderat unter Respektierung nationaler Besonderheiten erfolgen. Bei letzterem wird ein gewisses Maß an Protektionismus in Kauf genommen. Wenn auch Richter ihrem selbstverständlichen Gelöbnis zur Unabhängigkeit verpflichtet sind, so sind sie deshalb noch lange nicht in ihren faktischen Auslegungskonstruktionen vom nutzenbasierten Stre- ben eines jeden anderen homo oeconomicus emanzipiert. Die supranationale Justitia bleibt nur de jure eine Heilige, während sie faktisch der legalen Prostitution oder Protektion nachgehen kann. Entscheidungen des EuGH nehmen in vielen Fällen einen nur trinationa- len bzw. multinationalen und keinen supranationalen Charakter an. Nach der europäischen Verfahrensordnung gelten drei Richter als Mindestmaßstab, die einem Urteil zustimmen müssen. Die Einsetzung großer oder gar größerer Kammern garantiert eher tatsächliche supranationale Entscheidungen, auch wenn dabei unter den entscheidenden multinationa- len Richtern ein Konsens erschwert wird. Die politischen Kosten für konsentierte Urteile aber sind als sehr gering anzusetzen, wenn das integrationspolitische Ziel auf Entscheidun- gen mit optimierter Gerechtigkeit fokussiert ist.

Im Vergleich zu Verfahrensverordnungen deutscher Gerichte bei der Zuweisungs- und Verweisungspraxis besteht beim EuGH kein vorab festgelegter Geschäftsverteilungs- plan im Sinne des deutschen Verfassungsgerichtsrechts nach § 21e Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 3 GVG (Pechstein/ Köngeter/ Kubicki 2007, Rz. 99) für den EuGH: „Für die Ver- teilung der Rechtssachen gibt es keine verbindlichen Regeln“ (Schulze/ Zuleeg/ Kadelbach

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2010, $ 4 Rz. 7). Diese rechtsstaatlich problematische Regelung (Danwitz 2008, 776ff) lässt spezifischen personellen Einsatz zugunsten einer Geschäftsverteilung zu, die vor allem Richtern in kleinen Kammern zu einer faktisch klientelistischen, parteipolitischen Recht- sprechung animieren können - wie an anderer Stelle eine solche Protegierung zu zeigen ist und zwar anhand der EuGH-Urteile Laval, Rüffert und Viking Line. Tagt der EuGH im Plenum, das heißt alle 27 Richter nehmen gemeinsam an einer Entscheidung teil, reduziert sich diese rechtsstaatliche Gefahr durch eine gesamtheitliche Richterschaft in erheblichem Maße.

Die Richterschaft des EuGH setzt sich aus nationalen Berufsrichtern, Rechtswis- senschaftlern, Verwaltungsbeamten und Inhabern politischer Ämter zusammen (Danwitz 2008, 778), die zum einen normalerweise nicht aus den höchsten Gerichten ihrer Mitglied- staaten stammen und zum andern teils über keine richterliche Erfahrungen verfügen (Vau- bel 2007, 85). Aus meiner persönlich erfolgten Auszählung der beruflichen Verteilung des supranationalen Rechtsstabes anhand der im Internet öffentlich zugänglichen Biographien, dessen Amtszeit bis 2012 bzw. 2015 terminiert ist, dominiert eindeutig die Spezies profes- soraler Rechtswissenschaftler, die zuvor als Hochschullehrer an Universitäten ihre berufli- che Tätigkeit ausübte. Von den 27 Richtern übten zuvor dreizehn Richter (48%) einen Be- ruf als Hochschullehrer aus. Ein signifikant hoher Anteil europäischer Richtern verfügt mithin weniger über richterliche Erfahrungen an nationalen Gerichten, sondern mehr über einen wissenschaftlichen Hintergrund. Die Rechtsprechung ist mithin stark von sich oft selber positionierenden Rechtswissenschaftlern ausgeformt worden. Wie in allen wissen- schaftlichen Disziplinen bestehen unterschiedliche Perspektiven oder theoretische Ansätze, die zu entsprechend abweichenden Auslegungen von Rechtsnormen auch in der Rechtspre- chung führen. Wirtschaftsrechtlich mehr zur neoklassischen Lehre tendierende Juristen werden das Gemeinschaftsrecht mit ihren zentralen Paradigmen, den normativen Prämis- sen, zur Vollendung des Binnenmarktes, dem Freihandelssystem, den vier Grundfreiheiten und seinem Dogma des unverfälschten Wettbewerbs, normativ cum grano salis sehr exten- siv auslegen.

Nur sechs Richter (22,2%) fungierten als Berufsrichter bzw. als Präsident eines Gerichtes, fünf Richter (14,8%) entstammen der ministeriellen Verwaltung (Staatsanwalt, Attorney General, Abogado del Estado, Staatssekretär, Botschafter) und drei Richter (11,1%) hatten sich im politischen Amt als (Justiz-)Minister zu verantworten. Gewertet wurde nur die zuletzt ausgeübte berufliche Tätigkeit. Wie aus den von EU veröffentlichten Kurz-Biographien hervorgeht, besetzte ein Teil dieser Richter in ihrer Karriere unterschied- liche Positionen. So agierte der luxemburgische Richter Jean-Jacques Kasel zunächst als Maréchal de la Cour (Präsident des Gerichtshofs), später vertrat er sein Land als Botschaf- ter. Andere Richter arbeiteten längere Zeit als Berufsrichter, bevor sie Hochschullehrer wurden. Alle Richter verfügen über eine juristische Qualifikation in Form eines rechtswis- senschaftlichen Studiums. Allerdings bestehen aufgrund der verschiedenen Berufsausübun- gen auch signifikant unterschiedliche berufliche Sozialisationen, die teils unter diktatori- schen Machtverhältnissen in den ost- und südosteuropäischen Staaten erworben wurden.

Inwieweit die berufliche Biographie tatsächlich einen nachweisbaren Einfluss auf die Rechtsprechung des EuGH ausübt, ist nicht bekannt. Es ist jedoch davon auszugehen, dass kein Richter in einem politisch abstinenten Raum aufwächst. Soziale oder politische Wert- haltungen werden bei normativen Angelegenheiten folglich vom Richter in Urteilen ein- fließen. Ob dies vorsätzlich oder nicht vorsätzlich geschieht, spielt dabei keine Rolle.

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Im Rahmen der Wahrnehmung richterlicher Entscheidungspraktiken bestehen zwei kontroverse Schulen: Die Internalisten konstatieren die richterliche Unabhängigkeit des europäischen Richters, er unterliegt keinen Weisungen der Mitgliedstaaten. Die Externa- listen vertreten die Ansicht, dass das europäische Gericht in seinen Urteilen nicht allzu weit von der „herrschenden Mehrheit“ abweichen darf. Bezogen auf den EuGH bedeutet das:

Jeder Mitgliedstaat verfügt über das Recht, einen „verdienten“ Richter vorzuschlagen. Die- ser Richter sei faktisch gezwungen, die Interessen seines Mitgliedstaates parteipolitisch zu berücksichtigen (Windolf 2000, 40f). Eine institutionelle Unabhängigkeit der Gerichte scheint aber auch auf nationaler Ebene zweifelhaft zu sein (Schütz 2005). Vor allem bei Verfassungsgerichten wird nicht ausschließlich Sachkompetenz erwartet, sondern auch eine bestimmte politische Haltung, eine „gewisse“ Affinität gegenüber seinem Dienstherrn.

Seit dem Inkrafttreten des Lissabonner Vertrages bereiten dazu nach Art. 252 AEUV (ex-Art. 222 EGV) statt vormals acht nun elf unparteiische Generalanwälte, die selbst als Richter fungieren, Entscheidungen des EuGH vor. Sie gehören jedoch nicht zum Spruchkörper, sie formulieren Vorschläge für ein Urteil des EuGH in Form von begründe- ten „Schlussanträgen“. Die Richter des EuGH sind an einer Übernahme ihrer Schlussanträ- ge aber nicht verpflichtet. Etwa 85% ihrer Anträge werden vom EuGH unbeanstandet über- nommen. Auch Generalanwälte werden von nationalen Regierungen vorgeschlagen und nach gleichen Verfahren wie die Richter ernannt, ihre sechsjährige Amtszeit kann für sechs weitere Jahre verlängert werden. Die fünf größten Mitgliedstaaten (Deutschland8, Frank- reich, Großbritannien, Italien, Spanien) verfügen über einen ständigen Generalanwalt, wäh- rend die kleineren Staaten an einem Rotationsprinzip teilnehmen (Hellmann 2009, 47ff).

Ob eine kurzfristige, informelle Bildung richterlicher Netzwerke innerhalb des supranationalen Subsystems des EuGH aus Gründen der politischen Couleur stattfindet, kann trotz ständigen Revirements theoretisch keineswegs ausgeschlossen werden. In Ab- hängigkeit vom Einzelfall kann ein richterlicher Agent den Erwartungen seines nationalen Prinzipals scheinbar systematisch nachkommen, ohne jedoch das relevante Ergebnis der Entscheidung planen zu können. Solch intrasystemische Bildung informeller Netzwerke kann durch analoge Interessen von mitgliedstaatlichen Richtern entstehen, die aus volks- wirtschaftlich oder wohlfahrtsökonomisch ähnlich strukturierten Mitgliedstaaten stammen.

Dabei können Normen durch den entscheidenden Richter durchaus zum Nutzen seines Herkunftslandes durch entsprechende Auslegung begründet werden. Eine notwendig erfor- derliche personale Netzwerkbildung wird aber durch permanente Neuvergabe richterlicher Mandate erschwert. Die Europäische Union ist durch ihre ständigen Erweiterungen wohl- fahrtsökonomisch und politökonomisch sehr heterogen strukturiert, der entsprechende Inte- ressenkonflikte inhärent sind. Zu unterscheiden sind dabei zum einen wohlfahrtsökono- misch hoch standardisierte Staaten wie Dänemark, Deutschland, Frankreich, Großbritan- nien, Italien, Österreich oder Schweden, zum zweiten die ökonomisch etwas geringer stan- dardisierten Staaten um Griechenland, Malta, Portugal oder Spanien, zum dritten die wohl- fahrtsökonomisch hochsignifikant vom europäischen Median abweichenden osteuropäi- schen Mitgliedstaaten wie Estland, Litauen, Polen sowie zum vierten die weiter davon abfallende Kategorie marginal wohlfahrtsökonomisch geprägten südosteuropäischen Staa- ten wie Bulgarien und Rumänien.

8 Die Europarechtlerin Juliane Kokott, zuletzt Professorin an der Universität St. Gallen/Schweiz, fungiert seit dem Jahr 2003 als deutsche Generalanwältin am EuGH.

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Gleichwohl erscheint das materielle und immaterielle Anreizsystem (incentive sys- tem) für Richter möglicherweise als geeignet zu sein, um politisch akzentuierte Urteile zum Vorteil des Herkunftslandes zu fällen. Der hauptsächlich immaterielle Anreiz für einen EuGH-Richter besteht in der sechsjährigen Verlängerung seiner Tätigkeit in einer renom- mierten Institution der EU als Maximierung seines persönlichen Images. Aber ob diese befristete Verlängerung um nur sechs Jahre als hinreichender Anlass zu bewerten ist, den politischen Interessen seines Prinzipals zu folgen, hinterlässt empirisch eine unbeantwortete Frage. Ein Anreiz zum politischen Opportunismus aber könnte durchaus im ungewöhnlich hohen Einkommen vom EuGH-Richter liegen. Es beträgt im Jahr 2010 etwa 20.000 € pro Monat bei außergewöhnlich günstigen Steuerregelungen, die von der nationalen Besteue- rung zum Vorteil der EU-Beschäftigten erheblich abweichen.9 Allerdings besteht für Rich- ter auf der europäischen Ebene keine ergebnisorientierte Vergütung, was die Principal- Agent-Theorie befruchten könnte. Ob der Nationalstaat zusätzliche Anreize nach dem Aus- scheiden eines EuGH-Richters aus seinem Amt bietet, ist nicht bekannt. Andererseits be- steht ein nicht kalkulierbares Risiko, richterliche Parteinahme oder Korruption bei politisch motivierten Entscheidungen zu entlarven. Letztlich herrscht die richterliche Unabhängigkeit als fundamentales Merkmal einer politisch nicht gebundenen Justiz vor. Inwieweit und ob diese verfassungsrechtlich gebotene Unabhängigkeit zum Vorteil politischer Interessen eines Prinzipals aufgegeben wird, also eine Steuerung richterlicher Entscheidungspraxis damit einhergeht, bedarf einer grundlegenden und methodologisch möglicherweise proble- matischen Klärung. Der von etlichen Autoren auf der justiziellen Ebene artikulierte, kon- struierte oder vermutete Zusammenhang zwischen richterlicher Unabhängigkeit und der Principal-Agent-Theory trägt verborgene Züge einer politischen Justiz, die integrationspoli- tisch unheilvolle Ziele verfolgt und die Demokratie gefährdende Assoziationen in Form höchst nutzen-orientierter Identität zwischen Politik (Prinzipal) und Justiz (Agent) weckt, wie sie in historischen Epochen (DDR, Drittes Reich) zur Durchsetzung einer spezifisch herrschenden political correctness an der Tagesordnung war.

Begrifflich assoziiert oder impliziert Selbstautorisierung politische Rechtspre- chung. Inwieweit ein europäisches Organ als gefälliger Diener einer einzelnen national- staatlichen Regierung in Erscheinung tritt, korreliert deutlich mit der politischen Erwartung eines Staates. Ohne einen näheren Nachweis zu erbringen, dürften mehr konservative, der neoklassischen Wirtschaftslehre verwandten Regierungen den EuGH bei Urteilen zur Aus- dehnung des Freihandelsprinzips durchaus als ihren Diener zum nationalen Politikwechsel willkommen heißen (venue shopping), um Urteile als Katalysator für ausstehende, polit- ökonomisch problematische Reformen zu adaptieren. Dagegen werden ordnungspolitisch davon abweichende Staaten (Regierungen) den EuGH als Feind im eigenen Haus „outen“.

Die Europäische Union verfügt nur insofern über ein autonomes Rechtssystem, weil es nicht auf Institutionen und Verfahren der Mitgliedstaaten zurückgreifen muss. Exe- kutieren kann der EuGH aber keine Urteile, hier muss er auf die unbedingte Kooperations- willigkeit der Institutionen und Verfahren von Mitgliedstaaten zurückgreifen. Die EU ist lediglich eine juristische Konstruktion, sie besitzt keine Verwaltung mit exekutiver Kraft nach Maßgabe der Nationalstaaten. Innerhalb „gewisser Grenzen“ darf der EuGH zwar die Integration der EU vorantreiben (Windolf 2000, 46), aber - plakativ formuliert - nicht cont- ra legem, was aber hier als System zu verstehen ist. Dem Rechtswissenschaftler Christian

9 Im Vergleich liegt das höchste Grundeinkommen für Richter an obersten Gerichten in Deutschland bei etwa 11.500 € (Präsident), ein deutscher Hochschullehrer bezieht ein Grundgehalt von ca. 5.400 €.

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Calliess zufolge darf keine richterliche Entscheidung gegen „objektivierbare Rechtsgrund- lagen“ (Calliess 2005a, 932), also nicht auf die Korrektur von Gesetzen zielen und damit nicht contra legem agieren. So besteht Calliess zufolge „Einigkeit (…) zwar darüber, dass die Grenze legitimer richterlicher Rechtsfortbildung dort verläuft, wo es um Politik und Sozialgestaltung geht“. Im gleichen Satz widerruft er unter expliziten Hinweis auf die Not- wendigkeit des Einsatzes von Generalklauseln oder unbestimmter Rechtsbegriffe „im mo- dernen Industriestaat“ seine Ansicht: „Ein hoher Grad an Unbestimmtheit [bedeutet] immer auch eine Delegationsentscheidung an die Exekutive und Judikative“ (Calliess 2005a, 932).

Zugleich fasst Calliess drei nicht näher substantiierte und damit äußerst diffuse Ziele rich- terlicher Rechtsfortbildung zusammen, die dennoch als theoretische wie praktische Vorga- ben zum contra legem einladen: „Die Gemeinschaft stärken, die Wirksamkeit und den Aufgabenbereich des Gemeinschaftsrechts vergrößern sowie die Kompetenzen der EG- Institutionen erweitern“ (Calliess 2005a, 931). Ob diese scheinbar positiv konnotierten Verweise gewünschte Effekte (Kontrolle) erzeugen können? Stärkung der Union bedeutet generell Europäisierung, um damit vor allem nicht-wirtschaftliche Angelegenheiten deregu- lativ durch den supranationalen Freihandelsvirus heilen zu wollen. Stärkung der Gemein- schaft kann nach den dominanten ökonomischen Paradigmen der Integration in der richter- lichen Praxis nur die logische Konsequenz haben, das Freihandelsprinzip respektive das allgemeine Diskriminierungsverbot sowohl für Güter- auch für Faktormärkte so weit aus- zudehnen, bis es dem Ideal des Ricardo-Modells entspricht und vor allem die letzte offene Lücke zur Vollendung des Binnenmarktes freihandelspolitisch „gewürdigt“ wird. Mit einer solch primärrechtlichen Stärkungskultur werden sodann durch richterliche Rechtsfortbil- dung notwendig auch marktkorrigierende Effekte gelöscht, die den hegemonialen Grund- freiheiten widersprechen sollten und als Defacto-Protektionismen ausgelegt werden.

Der EuGH hat bereits frühzeitig die noch heute aktuell praktizierte Perspektive vertreten, der zufolge er auch in Fällen, in denen sich das „Primärrecht als unvollständig darstellt“, zu einer Entscheidung verpflichtet sei, „um sich nicht dem Vorwurf einer Rechts- verweigerung auszusetzen“ (Dobler 2008, 522). Nach Hinweis des Rechtswissenschaftlers Philipp Dobler (Dobler 2008, 522) ist dieses Institut der romanisch-französischen Rechts- kultur des Art. 4 Code Civil entlehnt: „Le juge qui refusera de juger, sous prétexte du silen- ce, de l`obscurité ou de l`insuffisance de la loi, pourra être poursuivi comme coupable de déni de justice.“ In einem Urteil des EuGH vom 12. Juli 1957 (EuGH 1957, 118) heißt es folgerichtig, falls im Gemeinschaftsvertrag keine Lösungen verankert sind: „Um sich nicht den Vorwurf einer Rechtsverweigerung auszusetzen, ist der Gerichtshof daher verpflichtet, diese Frage von sich aus unter Berücksichtigung der Gesetzgebung, Lehre und Rechtspre- chung der Mitgliedstaaten anerkannten Regeln zu entscheiden.“ An diesen ehernen Grundsätzen der Frühzeit der europäischen Integration aber sollte sich der Gerichtshof nicht immer orientieren – wie zu zeigen sein wird.

Ob der EuGH tatsächlich ein politisches „Gouvernement des juges dans les Com- munautés Européennes“ (Colin 1966) im teils rabulistischen Sinne einer „möglichst ge- meinschaftskonformen Handhabung nationaler Kompetenzen und entsprechenden Ausle- gung des nationalen Rechts“ sowie gemäß dem diffusen „Auslegungsgrundsatz in dubio pro communitate“ (Ipsen 1964, 342) realisiert, dürfte eher bezweifelt werden. Ob ein sol- cher Zweifel völlig auszuschließen ist, bedarf anhand solider Referenzwerte einer näheren Prüfung des Primär- und Sekundärrechts sowie der darauf rekurrierenden EuGH-Urteile.

Der dem Recht und keinem „Zweifel“ unterliegende Richter folgt keiner eigenständigen, verselbständigten Vision von Europa, sondern er folgt vereinbarten Zielen der von allen

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Mitgliedstaaten einvernehmlich getragenen Gründungsverträge (Wolf-Niedermaier 1997, 252f). Inwieweit ein Richter der spekulativ diffusen These zur Selbstautorisierung einer

„idée de l`Europe“ (Wolf-Niedermaier 1997, 252) anhängt, ist mangels Evidenzen nur wenig aussagekräftig. Aufgrund ihres hohen Abstraktionsgrades oszilliert diese These zwi- schen dem von Charles de Gaulle präferierten Status l`Europe des patries und dem von Winston Churchill visionierten Status United States of Europe, über den aber definitiv weder ein einzelner Richter noch das gesamte richterliche Kolleg des EuGH entscheiden kann.

Wenn Richter des EuGH in ihrer Entscheidung „van Gend & Loos“ der okku- pablen Ansicht sind, der zufolge die Gemeinschaft nach deren Ermessen eine „neue Rechtsordnung des Völkerrechts darstellt, zu deren Gunsten die Staaten ihre Souveränität eingeschränkt haben“ und damit zugleich „selber eine souveräne Autorität über den EWG- Vertrag beanspruchte – und diese in gleichem Maße den Mitgliedstaaten als den eigentli- chen ‚Herren der Verträge’ absprach“, dann habe sich der EuGH nach Auffassung von Marcus Höreth „gewissermaßen von seiner mitgliedstaatlichen Herkunft und Bestimmung befreit“ (Höreth 2009, 167f). Mit diesen „quasi-souveränen Qualitäten der europäischen Rechtsordnung“ verbinde sich ein „Anspruch des Gerichtes auf eine ‚Kompetenz- Kompetenz’ (…) So gesehen hat sich der EuGH selbst vom ‚Hüter’ zum „Herrn der Ver- träge“ aufgeschwungen“ (Höreth 2009, 176). Daraus ergibt sich der logische Schluss, dem zufolge „im Grunde (…) hier von einem Akt der Selbstautorisierung gesprochen werden“

(Höreth 2009, 175) könne.

Offensichtlich ist sich Marcus Höreth in der Formulierung seiner Gedanken selber nicht sicher, indem er eine imperative Aussage vermeidet und zugleich das begriffliche Relativ „im Grunde“ als kontingente Klammer seiner These vorweg setzt. Zum andern verlangt die unterstellte adaptierte Kompetenz-Kompetenz durch den EuGH doch erheblich weitergehende systemische Voraussetzungen. Ein Richter ist in einem Rechtsstaat zu keiner Kompetenz-Kompetenz ermächtigt, allenfalls besitzt er eine umgrenzte Bemächtigung. Wie der nationale Richter nach Art. 97 GG so unterliegt auch der europäische Richter einer Gesetzesbindung. So bindet die Pflicht auch einen EuGH-Richter, seine Entscheidungen anhand überprüfbarer Maßstäbe in einem legitimierten Normkontext hinreichend zu be- gründen. Solange er diesen normativen Kontext nicht überschreitet, solange besteht viel- leicht eine politisch, nicht aber unbedingt eine dezidiert rechtlich zu reklamierende Rechts- fortbildung. Gleiches gilt auch für die richterlich abgeleitete Kompetenz-Kompetenz: Auf politischer Ebene besteht sie und ist reklamabel, rechtlich dagegen aber offensichtlich nicht.

Stattdessen ist aufgrund sowohl des Bestandes abstrakter Normen als auch imperativer Grundfreiheiten von einer systemisch-legitimen Rechtauslegung auszugehen. Inwieweit Ultra-vires-Rechtsakte (beyond the power) als instrumentalisierbarer Maßstab zur Begren- zung richterlicher Rechtsfortbildung gelten können (Ohler 2010, 163ff), ist angesichts der Vollendung des Binnenmarktes als sehr dehnbarer Rechtsbegriff nur entsprechend abstrakt festlegbar. Als Grenze der Judikatur des EuGH gilt nach Ermessen von Philipp Dobler die systemisch konnotierte „Akzeptanzfähigkeit der Ergebnisse als Richtschnur“ (Dobler 2008, 559). Eine grundsätzliche Befugnis zur Rechtsfortbildung wird nach einer fehlenden sub- stantiierten Begründung von Philipp Dobler vom „rechtswissenschaftlichen Schrifttum, (…) von den Mitgliedstaaten und den nationalen Gerichten anerkannt“ (Dobler 2008, 525).

Freilich dürften die bislang blass und kaum überzeugend formulierten Vorausset- zungen zur allgemeinen Akzeptanz richterlicher Fortbildung so mannigfaltig sein wie es unterschiedliche Experten gibt. Hierbei aber drängt sich sowohl politisch als auch rechtlich

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die zentrale Frage auf, wer denn überhaupt „akzeptanzfähig“ ist: Der Mitgliedstaat als abs- trakte Institution, der politisch vielschichtige nationale Demos, das in seiner partei- und personalspezifischen Konfiguration stetig politischen Konjunkturen ausgesetzte nationale Parlament, somit der personell kontinuierlich variierende Europäische Rat oder der perso- nell fluktuierende Ministerrat, vage ökonomische Erfordernisse des auf Effizienz begründe- ten Binnenmarkts oder doch nur der EuGH angesichts seines autonomen Wirkens zur euro- päischen Rechtseinheit? Sämtlich getroffene Entscheidungen von diesen zitierten Instituti- onen können relativ schnell revidiert werden. Ein unsicheres Fundament ist mit der poten- tiellen Auswahl zufälliger, möglicherweise politisch konjunkturell abhängiger Referenz- werte zur Messung richterlicher Grenzüberschreitungen evident. Mehr Stabilität aber ist dennoch nicht ausgeschlossen, wenn nämlich nationale Verfassungsgerichte kraft ihrer systemisch absoluten Definitionsmacht entscheiden. Auch in gerichtlichen Institutionen vollzieht sich ein stetiger personeller Wechsel. Beim BVerfG dauert die Amtsdauer eines Richters maximal zwölf Jahre, eine Verlängerung ist ausgeschlossen. Gerichtliche Ent- scheidungen bieten gegenüber den zitierten Akteuren den großen (rechts-)politischen Vor- teil, dass sie in der Regel auf Kontinuität beruhen. Kontinuität bedeutet zugleich definitive Sicherheit für betroffene Bürger, wenn in Deutschland das BVerfG kraft seiner autoritati- ven Macht solche Grenzziehungen vornimmt.

Im sogenannten Kloppenburg-Beschluss (BVerfG 2 BvR 687/85, Kloppenburg- Beschluss, BVerfGE 75, 223 (243f)) aus dem Jahre 1985 erkannte das BVerfG mit allge- meinen Worten durchaus eine Rechtsfortbildung des EuGH an, deren Kompetenzen aber keinesfalls „beliebig“ erweitert werden dürfen (Dobler 2008, 526). Ein europäischer Rich- ter agiere nie nur als „la bouche qui prononce les paroles de la loi“. Das gesamte Recht wie das Römische Recht, das englische common law, das Gemeine Recht gelten weithin als Produkte richterlicher Rechtsschöpfungen. Die Gemeinschaftsverträge sind auch im Kon- text „gemeineuropäischer Rechtsüberlieferungen und Rechtskultur zu verstehen“. Das BVerfG erklärt aus deutscher Perspektive nicht nur die Zulässigkeit richterlicher Fortbil- dung, sondern setzt zugleich ihre ultimativen Grenzen. Als ausschließlich geeigneter und bislang noch ausstehender konkreter Referenzwert zur Messung unzulässiger Rechtsfortbil- dung kann nur ein verbindliches Veto eines politisch entscheidungsrelevanten Gerichtes des Nationalstaates sein. Legitimität richterlicher Spruchpraxis existiert bis zu dem exekutier- baren Moment, in dem der Supreme Court of the United Kingdom, der dänische Hojesteret, das deutsche BVerfG, der österreichische Verfassungsgerichtshof, der italienische Corte Costitutionale, der französische Conseil constitutionnel, das Tribunal Constitucional de España oder Verfassungsgerichte anderer Mitgliedstaaten (Hönnige 2008) vom verabrede- ten Primär- oder Sekundärrecht abweichende europäische Akte konkret als legitimations- oder rechtswidrig mangels bewilligter Kompetenz erklären.

Jeder Mitgliedstaat wie Deutschland schließt mit seinem Beitritt zur Europäischen Integration einen völkerrechtlichen Vertrag. Allein aufgrund des Zustimmungsgesetzes als rechtlicher Integrationshebel gewinnt der Gemeinschaftsvertrag seine Rechtsverbindlichkeit (Kirchhof 1994, 17). Das BVerfG verteidigt im Maastricht-Urteil primär den demokrati- schen Faktor: „Im Zustimmungsgesetz (…) ruht die demokratische Legitimation als auch Befugnisse zu Mehrheitsentscheidungen, die die Mitgliedstaaten binden“ (Kirchhof 1994, 18). Nach Art. 24 Abs. 1 GG kann der Deutsche Bundestag durch ein einfaches Gesetz gewisse Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen. Damit wird ver- mieden, dass das deutsche Grundgesetz materiell verändert wird. Art. 24 Abs. 1 GG erlaubt keine Verfassungsdurchbrechungen. Das rechtliche Territorium oder die rechtliche Zu-

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griffstiefe der EU wird durch definierte Kompetenzen begrenzt, die gemäß Gemeinschafts- vertrag von den Mitgliedstaaten an die europäischen Organe übertragen worden sind. Jen- seits davon „beginnt die Souveränität der Nationalstaaten“ (Windolf 2000, 43). Das BVerfG betont in seinem Maastricht-Urteil, dem zufolge allein und ausschließlich der Deutsche Bundestag die gewünschte Tiefe des europäischen Integrationsprogramms hinrei- chend bestimmbar festzulegen habe, wobei die verbleibende Souveränität Deutschlands hinreichend zu sichern sei. Dem Deutschen Bundestag dürfen Aufgaben und Befugnisse von substantiellem Gewicht nicht genommen werden. Folglich findet die europäische Steu- erung dort ihre Grenzen, wo in den Grundbestand rechtsetzender und politisch gestaltender Aufgaben des Deutschen Bundestages eingegriffen wird. Allerdings lässt das BVerfG die Grenze offen (Kirchhof 1994, 17, 38). Das BVerfG definiert die Gemeinschaft als Staaten- verbund. Dieser vom BVerfG konstruierte, artifizielle Terminus beinhaltet unstreitig und eineindeutig und nicht nur de jure die zu sichernde Souveränität des Nationalstaates. Das BVerfG zeichnet deutlich ein Bild der Gemeinschaft im Sinne Charles de Gaulles l`Europe des patries (König 1994, 33). Deutschland bleibt somit als einer der „Herren der Verträge“, die über die anzustrebende Tiefe der Integration alleine entscheiden. Über eine Aufgabe seiner Souveränität kann der deutsche Staat schon aufgrund der Ewigkeitsgarantie nicht entscheiden, Deutschland kann sich mit verfassungsrechtlichen Mitteln nicht abschaffen.

Der in der Kompensationsthese formulierte Verbleib souveräner Nationalstaaten in der Union bedeutet: Entstehende Verluste staatlicher Souveränität und Kompetenzen wer- den durch die nationale Einflussnahme auf den deliberativ organisierten Willensbildungs- prozess der Union kompensiert. Die Tiefe oder die politische Reichweite des europäischen Integrationsprozesses wird im Europäischen Rat gemeinsam primärrechtlich definiert und später sekundärrechtlich en detail in etlichen Ausschüssen der Union konkret verhandelt.

Die Souveränität und damit die Letztentscheidung bleiben in der sichtbaren Hand des je- weiligen Mitgliedstaates. Dem EuGH als politischer „Motor der Integration“ in Form dy- namischer Vertragsauslegung werden damit doppelte Grenzen gesetzt. Wo diese Grenzen aber genau liegen, zieht in der politischen Praxis allein und ausschließlich das BVerfG durch Vorbehalt seines Letztentscheidungsrechts, indem es die Auslegung europäischer Kompetenznormen im Zusammenhang mit den Vereinbarungen nach dem Zustimmungsge- setz in Augenschein nimmt. Das BVerfG stellt drastische Konsequenzen im Falle von Kompetenzüberschreitungen in Aussicht, die gar den Zusammenhalt der Union durchaus gefährden könnten (König 1994, 46). Wann ein solcher Tatbestand erreicht ist, bleibt man- gels Konkretion offen.

Der Nationalstaat bleibt trotz seiner Abgabe hoheitlicher Kompetenzen souverän.10 Er entscheidet mit Letztbegründung die Grenze, wo der Transfer nationaler Kompetenzen endet und wo supranationale Herrschaft auch in Form richterlicher Gewalt endet. Seit dem Jahr 1922 heißt es bereits im Sinne vom Staatsrechtler und „Kronjuristen des Dritten Rei- ches“ Carl Schmitt: Souverän ist ein Staat, wenn er über den Ausnahmezustand verfügt (Schmitt 2008). Selbst bei kühnster dialektischer Konstruktion und sophistischer Argumen- tation verbleibt diese Kompetenz beim Nationalstaat. Das bedeutet auch, dass Deutschland als souveräner Staat seine Zugehörigkeit zur EU – unter Beachtung völkerrechtlicher Prä- missen - jederzeit wieder beenden kann, gleich wie hoch die politischen Kosten auch betra-

10 Dass Deutschland in diesen Angelegenheiten offensichtlich einer Laisser-faire-Methode nachkommt, geht aus einem Bericht (Lorz 2010) hervor. Danach greifen deutsche Akteure kaum in rechtliche Verfahren während ihres Entstehungsprozesses ein. In der Regel enthalten sie sich ihrer Stimme. In Brüssel hat sich deshalb ein sarkasti- sches Bonmot gebildet – „German Vote“.

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