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Archiv "Die Bedrohung unserer Kinder durch die Zivilisation" (30.01.1975)

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Wenn der Anfang der Zivilisation darin bestand, daß der Mensch das Feuer entdeckte, Steinwerkzeuge zu schneiden und sich durch Tier- felle vor der Kälte zu schützen lernte, wenn sie also damit begann, daß er sich durch gezielte Überle- gung gegen die Unbilden des Le- bens schützte, so geht daraus her- vor, daß die Zivilisation nicht etwa ein Zustand ist, sondern ein Vor- gang, der sich laufend ändert.

Zweck der Zivilisation ist es, Ge- fahren für das Leben abzuwenden.

Aber der Wunsch nach Verbesse- rung und dann nach mehr Bequem- lichkeit findet kein Ende. Und so ist das Widersinnige eingetreten, daß Entwicklungen entstanden sind, die zwar das äußere Leben erleichtern, deren Erscheinungen aber gerade den Kindern schweren Schaden zufügen können. Die Kinderärzte haben sich seit langer Zeit intensiv mit dem Problem „Kind und Zivili- sation" beschäftigt. Warnungen vor Schäden sind immer wieder ausge- sprochen worden (de Rudder, Bennholdt-Thomsen, Theopold, Hellbrügge), aber sie wurden nicht ernst genommen.

Freilich hat die Zivilisation viele Vorteile und Annehmlichkeiten ge- bracht, auf die niemand mehr ver- zichten möchte; so zum Beispiel Erfolge bei der Bekämpfung der Krankheiten: Die Säuglingssterb- lichkeit verringerte sich von 22 Prozent im Jahr 1900 auf 2,3 Pro- zent im Jahr 1973. Weiter wurden wirksame Vorbeugungsmaßnah- men gegenüber Infektionskrankhei- ten gefunden; oder etwa: Es wur- den ungezählte technische Neue- rungen und Erleichterungen ent- wickelt, die uns in Staunen setzen

und die wir täglich beanspruchen.

— Aber gerade deshalb, weil wir viel Nutzen aus der Zivilisation ge- zogen haben und täglich ziehen, ist es notwendig, auch ihre Nachteile und Auswüchse zu erkennen und zu bekämpfen.

Die Bedrohungen der Kinder durch Zivilisationsmaßnahmen sind kör- perlicher, geistiger und seelischer Natur. Sie überschneiden sich, wie bei biologischen Vorgängen häufig, zum Teil. Hier können nur einige Punkte herausgestellt werden.

Körperliche

Zivilisationsschäden

Verkehr

Exakt belegbar sind vor allem Kör- perschäden durch den modernen Verkehr. 1972 wurden 2114 Kinder durch Verkehrsunfälle getötet und 71 379 verletzt; ein Teil so schwer, daß dauernde körperliche und gei- stige Verkrüppelung zurückbleibt.

Zweidrittel dieser Kinder verun- glückten als Fußgänger und Rad- fahrer durch die Rücksichtslosig- keit von Autofahrern. Es wäre vor- dringlich, daß die verantwortlichen Stellen dagegen energisch ein- schreiten. Den ganzen Schrecken dieser „Zivilisationsseuche" erle- ben nur die betroffenen Familien und die Ärzte, die täglich diese be- dauernswerten Kinder mit ihren schweren Defektzuständen behan- deln und betreuen. Die modernen, außerordentlich kostspieligen Re-

habilitationszentren sind ein schwa- cher Trost. Man würde gerade hierbei besser verhüten als nach- träglich Defektzustände behandeln.

Das Kind gehört in den Mittel- punkt und nicht an den Rand der Gesellschaft. Die Zivilisa- tionsphase, in der wir uns jetzt befinden, scheint bereits in Degeneration und Deka- denz entartet. Sie hat bei Kindern schon schwere Schäden an Leib, Geist und Gemüt verursacht. Die schwersten seelischen Schä- den drohen Kindern durch gestörte Familien. Auch das außerhäusliche Berufsleben der Mutter ist für das Kind nicht zuträglich. In diesen Fällen sind „Tagesmütter"

als Ersatzmütter auch keine akzeptable Lösung.

Wenn von behördlicher Stelle be- tont wird, wie sehr man sich um bessere Verkehrserziehung der Kinder bemühe, da die Kinder „in das Auto hineinlaufen", so ist das ein Trugschluß. Denn der psycho- logisch treffende und sprachlich feine lateinische Hexameter gilt auch heute noch: „Sunt pueri pue- ri, pueri puerilia tractant." Es ist eben unmöglich, daß die Kinder alle Gefahren erkennen können.

Sie können nicht immer abschät- zen, wie schnell ein Auto kommt, und wie häufig kommt es zu schnell! Es gibt enge Grenzen, die durch Alter, Vitalität und Reak- tionsvermögen gesetzt sind. Die Schulung der Kinder ist nur ein kleiner Teil der Bemühungen. Viel dringlicher scheint es, zuerst die Erwachsenen, die „mündigen Bür- ger", einer Schulung zu unterzie- hen.

Ernährung

Körperliche Schäden entstehen auch als Folge einer zivilisations- bedingten falschen Ernährung. In einer Zeit, in der die Ernährungs- wissenschaft besonders intensiv betrieben wird, sollte man glauben, daß diese Schäden nicht mehr auf- treten, doch es ist umgekehrt: In erster Linie ist der unverständliche Rückgang des Stillens der Säuglin- ge zu bemängeln; denn unverän-

Die Bedrohung unserer Kinder durch die Zivilisation

Adolf Windorfer

Aus der Kinderklinik (Direktor: Professor Dr. med. Adolf Windorfer) der Universität Erlangen-Nürnberg

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Aktuelle Medizin

Zivilisationsschäden bei Kindern

dert bleibt die Tatsache bestehen, daß die Muttermilch, zumindest in den ersten Lebensmonaten, für den Säugling die normale Nahrung dar- stellt und damit unersetzlich ist.

Die Flaschennahrung mit Kuh- milchmischungen wird aus Be- quemlichkeit bevorzugt: Der Groß- teil der Kinder kommt in Entbin- dungskliniken zur Welt; dort erleich- tert Flaschenfütterung die Pflege.

Auch zu Hause ist das Herrichten der fast vollständig präparierten Flaschennahrung einfacher und bequemer als das Stillen. Außer- dem haben moderne Mütter Angst, während der Stillperiode zu dick zu werden. Obwohl sich heutzutage Kuhmilchmischungen hinsichtlich Verträglichkeit und Gewichtszu- nahme bewährt haben, ist das Stil- len durch die Mutter notwendig.

Denn auf einmal traten ganz uner- wartet andere Probleme in den Vordergrund: Von psychologischer Seite wird der ungenügende Kon- takt zwischen Mutter und Neugebo- renem schon in der Entbindungs- klinik bemängelt. Deshalb sollten Neugeborene bei den Wöchnerin- nen im Zimmer liegen. Dies ist aber, wenn mehrere Wöchnerinnen.

in einem Zimmer liegen, ausge- schlossen, da sie doch selbst ihre Ruhe brauchen. Es wird ferner gefordert, der Kontakt zum Säug- ling müsse „hautnah" sein. Solange die Mutter ihr Kind stillte, waren diese Forderungen optimal erfüllt und in keiner Weise problematisch.

Die Ernährung von Klein- und Schulkindern wird großenteils von Speisen beherrscht, die nur wenig zum Kauen erfordern, und weiter von zu viel Schleckereien und Sü- ßigkeiten; dem Körper, insbeson- dere dem Mund, wird zu viel Zuk- ker zugeführt. Wie eine Epidemie hat sich auch das unzuträgliche Eisschlecken eingenistet. Eine für die Zähne unsinnige Angewohn- heit. Es entwickelt sich frühzeitig die Zahnkaries. Die Folge ist ein Zahnverfall schon bei Kindern und Jugendlichen.

Ein weiterer Ernährungsfehler bei manchen Kindern ist einfach das

Überangebot. Viele Kinder werden zu dick. Ein ungewolltes Experi- ment zeigte, daß man diesen Scha- den vermeiden kann; während der Kriegs- und Nachkriegszeit gab es keine dicken Kinder. Da die Fett- sucht durch zwei Faktoren hervor- gerufen wird, nämlich durch die in- dividuelle endokrine Disposition und zu vieles Essen, muß man durch Einhalten der entsprechen- den Diät der Adipositas vorbeugen oder sie beheben.

Körperliche Betätigung

Die moderne Lebensführung, be- sonders in den Städten, hat eine ungenügende körperliche Betäti- gung der Kinder zur Folge. Dies führt über Inaktivität zu körperli- cher Verweichlichung. Das Lebens- element der Kinder ist aber die Be- wegung! Doch wo ist sie noch möglich? In den Städten ist der Schulweg eine große unphysiologi- sche Belastung durch Pflastertre- ten, gefährliches Straßenkreuzen und Omnibusfahren; und das in ei- ner mit Autoabgasen angefüllten Luft. Spielen und Turnen wird auch in der Schule meist nicht genü- gend betrieben. Die Kinder müssen in der Schule sitzen, zum Lernen wieder zu Hause sitzen, und sonn- tags sitzen sie in den Autos, weil die Erwachsenen wegfahren wollen.

Wo können sich die Kinder also austoben? Das aber brauchen sie so notwendig wie Essen, Trinken und Schlafen, und zwar täglich.

Spiel und Sport in jeder Form müß- ten allenthalben gefördert werden.

Unsere Schulen trainieren im Ge- gensatz zu den Gymnasien des Al- tertums den Intellekt zu einseitig.

„Mens sana sit in corpore sano."

Das gilt heute noch wie vor 2000 Jahren.

Eine bedauerliche Zivilisationsfol- ge ist die Zunahme mancher orga- nischer Krankheiten, die wir heute behandeln können, die aber dann als Erbleiden weitergegeben wer- den, wie etwa der Diabetes und ererbte Stoffwechselanomalien.

Dieser Umstand, durch die medizi- nische Wissenschaft geschaffen,

ist aber nicht zu ändern, denn es versteht sich, daß alle Mittel ange- wendet werden müssen, um kranke Kinder zu retten. Aber es folgt dar- aus eine eigenartige Situation: zivi- lisatorischer Fortschritt im Einzel- fall und negative biologische Ver- änderung in der Gesamtheit.

Ein weiteres Problem unserer Zeit ist das der angeborenen Mißbil- dungen. Hierbei erhebt sich die Frage, ob sie häufiger geworden sind. Man kann das nicht generell beantworten. Es gibt auch nur we- nig exakte Studien. Vergleicht man die Neugeborenen in geburtshilfli- chen Kliniken aus früheren Jahr- zehnten mit den heutigen, ist zu bedenken, daß in letzter Zeit gera- de wegen des Mißbildungsver- dachts exakter untersucht wird.

Hinzu kommt, daß viele Mißbildun- gen erst nach Monaten oder Jah- ren hervortreten, so daß ein echter Vergleich nicht möglich ist. — In den Kinderkliniken besteht insofern ein Unterschied zu früher, als da- mals aussichtslose Anomalien gar nicht eingewiesen wurden. Heute werden sie alle in Kliniken ge- schickt. Dadurch tritt eine größere Zahl von Mißbildungen in Erschei- nung. Auch in zentralen Stellen, wie etwa in denen der Kinderkar- diologie und Kinderchirurgie, sam- meln sich solche Patienten an. Da sie durch operative Behandlung oft am Leben erhalten werden, erhöht sich ihre absolute Zahl wesentlich.

Eine exakte Untersuchung, die der Kritik standhält, stammt von de Rudder, der die Spaltbildungen der Wirbelsäule von 1936 bis 1958 ver- glich. Danach sind Meningozelen, Myelozelen und Meningomyeloze- len gegenüber den Vorkriegsjahren eindeutig häufiger geworden; be- zogen auf die Gesamtaufnahmen einer Klinik haben sie um das Sie- benfache, nur auf die Säuglings- aufnahmen bezogen, um das 3,4fa- che zugenommen. Das Beispiel ist deshalb bedeutungsvoll, weil diese Anomalien zu keiner Zeit überse- hen wurden und diese Patienten auch immer in die Kinderklinik ein- gewiesen wurden. Insofern hat die- se Untersuchung großen Wert für die Frage einer echten Zunahme

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der Mißbildungen. — Eine weitere Zunahme brachte das Einnehmen der Thalidomidpräparate, wovon Tausende von Kindern betroffen waren. — Einige gesicherte Tatsa- chen und der allgemeine Eindruck sprechen also dafür, daß Mißbildun- gen doch zugenommen haben.

Die Zunahme bösartiger Blutkrank- heiten und Tumoren bei Kindern ist leider gesichert. Die Vermutung liegt nahe, daß bei ihrer Zunahme physikalische und chemische Stof- fe eine große Rolle spielen. Der russische Atomphysiker Sacharow erklärte: „Bekanntlich führt die Ab- sorption radioaktiver Produkte von Kernexplosionen durch die Milliar- den Menschen, die die Erde bevöl- kern, zur Vermehrung einer Reihe von Erkrankungen und Geburtsde- fekten (durch sogenannte unter- schwellige biologische Effekte, wie Schaden an DNS-Molekülen, den Erbträgern). Wenn die radioaktiven Produkte einer Explosion in die At- mosphäre geraten, bedeutet jede Megatonne der Kernexplosion Tau- sende unbekannter Opfer, und jede Testreihe einer Kernwaffe setzt Dutzende von Megatonnen frei, und das bedeutet Zehntausende von Opfern."

In diesem Zusammenhang dürfen wir nicht vergessen, daß seit Jahr- zehnten immer mehr röntgendia- gnostische Methoden angewendet werden. Es ist deshalb richtig, daß hier verschärfte Bestimmungen über die Ausübung der Röntgentä- tigkeit erlassen wurden. Hinzu kommen muß aber die eigene ärzt- liche Verantwortung, ohne die wir trotz strenger Vorschriften nicht auskommen; denn alle Strahlen- schäden können sich bei den Kin- dern auch noch im Laufe ihres Le- bens oder aber später an ihren ei- genen Kindern auswirken.

Schwangerschaftsabbruch

Kinder zu schützen, ist jedermann bereit. Daß man werdende Kinder schützen müsse, wird neuerdings offiziell verneint. Ich kann das neue Gesetz nur folgendermaßen inter- pretieren: Die drei ersten Monate

lang braucht das entstehende menschliche Leben offenbar kei- nen Schutz. Es kann wie eine Ge- schwulst entfernt werden. Wenn es aber drei Monate überlebt, dann muß man es unter Strafandrohung schützen; eine eigenartige Auffas- sung! In Wirklichkeit scheint es doch so zu sein, daß der Eingriff des Schwangerschaftsabbruchs in den ersten drei Monaten für die Mutter relativ ungefährlich ist; des- halb soll er erlaubt sein, später nicht mehr. Aber daß ein sich ent- wickelndes Kind drei Monate lang eine Art Parasit und von da an erst ein menschliches Leben sei, kann doch wohl niemand ernsthaft be- haupten. Die willkürliche Abtrei- bung, die es nun auch bei uns ge- ben soll, ist meines Erachtens das Zeichen des Verfalls von Gewissen und Moral, denn es ist die Tö- tung eines werdenden Menschen.

Natürlich gibt es Ausnahmen: Bei Gefahr für das Leben der Mutter oder bei vorherzusehenden schwe- ren Mißbildungen des Kindes, bei- spielsweise bei Rötelnembryopa- thie, wenn sie von mehreren Ärzten begutachtet ist. In diesen Fällen sollte der Eingriff aus medizini- scher Indikation erlaubt sein. Aber die willkürliche Tötung des heran- wachsenden menschlichen Lebens ist eine Entartung der Zivilisation, die ich als Arzt und Mensch ableh- nen muß.

In einer Zeitung stand zu lesen:

„Kinder mindern den Lebensstan- dard"; offenbar sind sie deshalb unbequem, und man muß sie nach Wunsch beseitigen können. Wo ist hier die Grenze zwischen der ge- sunden Frau, die mit großer Wahr- scheinlichkeit ein normales Kind auf die Welt bringen würde, es aber abtreiben läßt, und zwischen der verzweifelten Mutter, die ihr völlig mißbildetes und idiotisches Kind tötet, weil sie auf Dauer phy- sisch und psychisch nicht in der Lage war, damit fertig zu werden?

Diese Angelegenheit ging durch die Presse. — Täglich hören wir, was alles an sozialen Taten ge- schieht und geschehen soll. Es wäre besser, diesen Müttern, die Kinder haben, mit denen sie — ob

gesund oder krank — in Schwierig- keiten sind und nicht fertig werden

— sozial zu helfen! Hier ist soziale Hilfe, aber nicht ein ärztlicher Ein- griff nötig.

Das Argument aber, durch eine bessere Familienplanung der Über- völkerung vorzubeugen, ist für Deutschland völlig fehl am Platz.

Die Zahl der Neugeborenen geht bei uns rapide zurück. 1964 wurden noch 1 065 000 Kinder geboren;

neun Jahre später (1973) nur noch 630 000, davon 100 000 Ausländer- kinder. Wir haben bereits eine Übersterblichkeit von 96 000 Men- schen im Jahr 1973 gehabt. Es ist aber bekannt, daß die freigegebe- ne Abtreibung überall die Gebur- tenzahl weiterhin erheblich dezi- miert. — Die Pille, die Frauenar- beit, der Wohlstand, die ungünstige Besteuerung der Familien mit meh- reren Kindern und die Abtreibung werden wohl bald dazu führen, daß der Nachwuchs immer weniger wird. Es ist das Signal eines unter- gehenden Kulturvolkes. Auch das sind Gefahren der Zivilisation, die sich auf das Leben unserer Kinder auswirken.

Geistige Zivilisationsschäden Auf dem Sektor der geistigen Zivili- sationsschäden bedrohen unsere Kinder zwei Vorgänge:

0 die zu einseitige Stimulierung aller Prozesse, die vom Gehirn ausgehen,

die „falschen Bilder", also die Lenkung und Ablenkung der Kin- der auf Vorgänge des Lebens, die ihrer Altersstufe nicht entsprechen und die ihnen überhaupt nicht zu- gemutet werden dürfen. Als Stich- worte seien erwähnt: Fernsehen, Plakate, Schundhefte.

Zur zerebralen Überstimulierung ist festzustellen, daß Schulkinder in zweierlei Richtung überfordert wer- den: vielfach durch das Lernpen- sum, das sie bewältigen müssen, so daß sie vor- und nachmittags angestrengt lernen; und zum Teil durch einen übertriebenen Ehrgeiz der Eltern, der von der Umgebung,

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Aktuelle Medizin

Zivilisationsschäden bei Kindern

den Nachbarn und Kollegen sowie leider auch von offiziellen Stellen noch gefördert wird. Es ist unsin- nig, im Sinne der sogenannten

„Chancengleichheit" zu glauben, daß alle Kinder gleich schnell auf- fassen können, das gleiche Ge- dächtnis und dieselbe Kombina- tionsfähigkeit und Kritikfähigkeit besitzen und über denselben Lern- eifer verfügen. Man tut diesen Kindern unrecht, von ihnen zu ver- langen, was sie nicht leisten kön- nen. Daher das berechtigte Aufbe- gehren vieler Eltern gegen die mo- derne Mengenlehre, daher auch der Vorwurf, den wir Kinderärzte gegen die Ganzwortlesemethode erheben. Neue Lernmethoden müs- sen erst erprobt werden, bevor sie allgemein eingeführt werden. Expe- rimente an Schulkindern sollten endgültig unterbleiben, da sie nicht im Interesse der Erziehung sind und Kummer und Ärger in den Fa- milien bereiten. Bei uns Kinderärz- ten erscheinen diese Kinder dann als Patienten. Wir müssen deshalb darauf bestehen, daß Kinderärzte bei derartigen pädagogischen Neu- einführungen zuerst mitgehört wer- den. — Unverständlich ist auch der quasi „moralische Zwang", der auf Kinder ausgeübt wird, das Gymna- sium und möglichst nachher die Hochschule zu besuchen.

„Falsche Bilder", die den Kindern geboten werden, sind ein großer Schaden, den wir der modernen Zi- vilisation anlasten müssen. Was die Kinder alles mitansehen, weil es sich zum Teil als schreiende Re- klame aufdrängt: von den widerli- chen Sexplakaten an Kinos und Litfaßsäulen, an denen die Kinder vorübergehen müssen, über die Schundhefte und Illustrierten, die überall herumliegen, bis zu den kri- minalistischen Fernsehsendungen.

Das beherrschende Thema ist doch immer Überfall und Einbruch, Mord, Vergewaltigung und Gang- stertum. Das alles muß sich auf Geist und Seele der Kinder doch auswirken. Solche „Bilder" sind keine Vorbilder! Vielmehr sind es Dinge, die vermeidbar wären und die man abstellen könnte, wenn man nur ernstlich wollte. Sie sind

keine Errungenschaft der Zivilisa- tion, sondern ein Zeichen von De- kadenz.

Seelische

Zivilisationsschäden

So sind wir beim dritten Problem, der psychischen Gefährdung des Kindes durch die Zivilisation, den Gemütsschäden.

Die größte Gefahr besteht hier durch die gestörte Familie. Im Mit- telpunkt der normalen Erziehung stand eh und je die normale, ge- sunde Familie. Wenn sie verfällt, und wir sind auf dem Wege dazu, verfällt auch die normale Erzie- hung. Die psychische Gesundheit der Kinder leidet aufs schwerste darunter. Zum Fehlen des Vaters kommt oft noch das teilweise oder völlige Fehlen der Mutter hinzu, wodurch ein Mangel an regelmäßi- ger Fürsorge und Betreuung ent- steht. Denn wenn die berufstätige Mutter das Kind erst am Nachmit- tag aus dem Kindergarten oder der Schule abholt und nur am Wochen- ende für die Familie Zeit hat, fehlt den Kindern die Beschützerin und die Nestwärme. Das gilt für Kinder und Jugendliche gleichermaßen.

Das außerhäusliche Berufsleben der Mutter, das nicht immer nur aus Verdienstgründen erfolgt, ist für die Entwicklung der Kinder aus- gesprochen schädlich. Zwar hat es immer arbeitende Mütter gegeben;

aber die arbeitende Frau, sei es als Bauersfrau oder Geschäftsfrau, war immer noch in unmittelbarer Nähe ihrer Kinder. Das ist bei den jetzigen Berufen der Frau nicht mehr möglich. Wie wesentlich die- ses Beieinander von Mutter und Kind ist, hat einmal Pfaundler mit dem drastischen Beispiel kommen- tiert, daß es das letzte Kind am schmutzigen Rockzipfel der Mutter immer noch besser habe als das Einzelkind im saubersten Heim.

Das ist mit einfachen Worten ge- sagt, was jetzt von Psychologen mühsam erforscht wird.

Die Einführung einer „Tagesmut- ter" als Ersatzmutter, wie es jetzt

vorgeschlagen wird, die bis zu drei Kleinkinder zu sich aufnehmen kann und dafür bezahlt wird, muß vom kinderärztlichen Standpunkt aus abgelehnt werden. Kann schon eine Frau auf längere Zeit drei bis vier Kinder in diesem Alter nicht optimal versorgen, so kommt hin- zu, daß jedes Kind zwischen der ei- genen Mutter, bei der es nur kurz ist, und zwischen der Ersatzmutter, die es in Wirklichkeit betreut, psy- chisch hin- und hergerissen wird.

Dieser Versuch sollte besser unter- bleiben.

Viel zweckmäßiger wäre es, den wirklichen Müttern sogenanntes Erziehungsgeld für die ersten Le- bensjahre zu bezahlen und ihnen dadurch zu ermöglichen, ohne Be- rufsarbeit auszukommen. — Wir müssen festhalten: Kind und Mutter gehören zusammen. Es muß alles versucht werden, dies wieder zu erreichen und den Tendenzen der Trennung entgegenzuwirken; denn sie sind Folgen und Auswüchse der Zivilisation in der Industriege- sellschaft.

Unter Einfluß der nicht mehr heilen Familie und der Verstädterung ent- wickelt sich bei Kindern ein Zu- stand psychischer Zerrissenheit mit Unstetigkeit, Unruhe und Ver- einsamung. „Urbanisierungstrau- ma" und „Reizüberflutung" nannte de Rudder das, was die Kinder heute in den Städten miterleben müssen. Wenn man den Schulweg der Kinder beobachtet, sieht man, wie sie sich ängstlich nach allen Seiten drehen und beobachten, ob Fahrzeuge kommen, um dann im Eiltempo über die Straße zu ha- sten. Sie fassen sich gegenseitig an, reißen sich wieder los, weil ei- ner Angst bekommt, laufen teils vor und zurück. Dazu kommen der krank machende, unerträgliche Lärm und die schlechte Luft. Dies alles ist der normale Alltag die- ser kleinen Zivilisationsmenschen.

Wenn die „Heimlosigkeit des Men- schen" noch schlimmere Formen annimmt, kommt es zu den schrecklichsten Folgen: Kindesmiß- handlungen, Drogensucht und Selbstmord von Kindern.

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Wir haben über Kindesmißhandlun- gen zwar keine exakten Zahlen, aber wir wissen, daß bei uns jähr- lich etwa 80 Kinder von ihren El- tern zu Tode geprügelt werden und etwa 6000 Mißhandlungen erfolgen.

Ein Vielfaches davon wird mit Recht vermutet. Es ist eine unvor- stellbare Verrohung der Menschen der Zivilisationszeit. In jeder Kin- derklinik liegen solche kleinen Pa- tienten mit Hämatomen und Schä- delbrüchen, teils bewußtlos ge- schlagen, teils schrecklich ver- ängstigt, weil eines der Eltern sei- ne Wut an dem Kind ausließ. Meist sind es Säuglinge und Kleinkinder in den ersten drei Lebensjahren.

Welch ein Kontrast dazu, wenn man erlebt, wie Zigeuner ihre Kin- der umsorgen und behüten.

Auch die Drogensucht ist eine aus- gesprochene Verfallserscheinung, wobei der Nachahmungstrieb und die Angst, von Gleichaltrigen ver- lacht zu werden, wenn man nicht mitmacht, leider eine große Rolle spielen. Von fremden Ländern im- portiert, hat sie in Windeseile ver- heerend um sich gegriffen. Eine Umfrage unter Zwölf- bis 19jähri- gen ergab, daß elf Prozent Drogen konsumiert hatten; Schüler mit schlechten Leistungen überwogen;

bei ihnen war der Verbrauch von Nikotin und Alkohol höher als bei Gleichaltrigen.

Dadurch entstehen aber nicht nur

„Frührentner", die von der Gesell- schaft unterhalten werden müssen, sondern nun kommen bereits dro- gensüchtige Neugeborene zur Welt. Eine Statistik darüber gibt es nicht; wir haben aber unter unse- ren Frühgeborenen gelegentlich derartige Kinder in der Klinik. In New York wurden im Jahr 1972 etwa 1000 solche Neugeborene be- obachtet. Diesem Vorgang der psy- chischen und physischen Zerstö- rung der Persönlichkeit der Schü- ler und Jugendlichen durch die Drogen müßte ein viel schärferer Kampf angesagt werden, als es zur Zeit der Fall ist.

Auch die Nikotinsucht, die zum Teil bereits bei Zehnjährigen beginnt,

und der Alkoholmißbrauch der Schüler und Jugendlichen sind echte Zivilisationsschäden. Meist sind es Kinder, welche sich viel selbst überlassen sind — Alkohol steht daheim überall herum —, und die persönliche Vereinsamung und Lieblosigkeit erfahren haben.

Schließlich ist in diesem Zusam- menhang das gravierendste Phäno- men, der Selbstmord von Kindern und Jugendlichen, zu nennen. Im Jahr 1970 starben in der Bundesre- publik Deutschland 86 Kinder zwi- schen zehn und 14 Jahren und 427 Jugendliche zwischen 15 und 20 Jahren durch Suizid. Die Zahl der Suizidversuche ist unbekannt, aber sicherlich noch wesentlich höher.

All diese Vorgänge, die unter den Begriff der seelischen Gefährdung der Kinder fallen, haben sich im Laufe der letzten beiden Jahrzehn- te wie fliegende Infektionen von Land zu Land und von Mensch zu Mensch fortgesetzt. Sie vergiften unsere Kinder und Jugendlichen, sie vergiften die Atmosphäre zwi- schen Eltern und Kindern und da- mit das Leben in der ganzen Ge- sellschaft.

Was dagegen zu tun ist? Der italie- nische Philosoph Gioberti des vori- gen Jahrhunderts hat es einmal sehr klar und prägnant formuliert:

„Ihr dürft nicht nur den Geist erzie- hen, sondern ihr müßt auch das Gemüt erziehen; ja das Gemüt müßt ihr noch viel sorgsamer erzie- hen als den Geist!"

Die Zivilisationsphase, in der wir uns befinden, ist eine Überzivilisa- tion, bereits in Degeneration und Dekadenz entartet. Sie bedroht un- sere Kinder nicht nur, sie hat be- reits schweren Schaden gesetzt an Leib, Geist und Seele. Es müssen unverzüglich Maßnahmen geschaf- fen werden, die diesen Zustand be- heben. Das Kind gehört in den Mit- telpunkt und nicht an den Rand der Gesellschaft, wo es jetzt steht.

Anschrift des Verfassers:

Professor

Dr. med. Adolf Windorfer 852 Erlangen

Loschgestraße 15

Therapie

Ein Ulcus pepticum jejuni läßt sich vor allem endoskopisch sicher dia- gnostizieren. Therapeutisches Prin- zip ist die Ausschaltung der ulzero- genen Freisetzung von Magensäu- re, was nur chirurgisch gelingt. In ausgewählten Fällen ist die trans- thorakale Vagotomie indiziert, und zwar bei mehrfach abdominal vor- operierten Patienten mit erneutem Ulkusrezidiv, wenn kaum noch An- trumschleimhaut vorhanden ist.

Stellen sich keine intraabdominel- len Komplikationen ein, die eine abdominale Operation erfordern, kann ebenfalls transthorakal vago- tomiert werden. Dieses Vorgehen ist auch zu empfehlen, wenn man bei der endoskopischen Inspektion an einem kleinen Restmagen in der kleinen Kurvatur keine Antrum- schleimhaut mehr vorfindet. Eine Nachresektion würde in diesen Fäl- len die Funktion verschlechtern. cb (Grotelüschen, B., et al.: Chirurg 45 [1974] 462-464)

Das nephrotische Syndrom bei Kin- dern wird jetzt bevorzugt mit Korti- kosteroiden behandelt. Mit einer täglichen Dosis von zwei Milligramm pro Kilogramm Körpergewicht Prednison gelingt es meist, die Diurese anzukurbeln und die blut- chemischen Werte zu normalisie- ren. Auch die Applikation eines äquivalent dosierten anderen Glu- kokortikoids ist dafür geignet.

Nach rund zehn Tagen sollte auf alternierende Therapie übergegan- gen werden. Die für zwei Tage er- forderliche Dosis sollte am Morgen des ersten Tages auf einmal gege- ben werden. Bessert sich der Zu- stand der Patienten rasch, muß die Kortikoidmenge langsam reduziert werden. Urinkontrollen sind dabei täglich, blutchemische Untersu- chungen monatlich nötig. Will man einem Rezidiv wirksam vorbeugen, muß mindestens drei Monate lang behandelt werden. cb (Clapier, A. J., et al.: Mschr. Kinder- heilk. 122 [1974] 814-825)

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