Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 111|
Heft 31–32|
4. August 2014 A 1337F
ast 30 Prozent unserer gesamten Wirtschaftsleis- tung fließen in den sozialen Bereich. Laut Bun- desarbeitsministerium lag der Zuwachs des Sozialbud- gets vergangenes Jahr erstmals seit 2009 mit einem Plus von 3,4 Prozent wieder höher als der des nationa- len Wirtschaftswachstums.Größere Unruhe über diese Entwicklung ist auf poli- tischer Ebene nicht auszumachen. Im Gegenteil: Für die nächsten vier Jahre erwartet das Ministerium eine stabile Sozialleistungsquote, die weiterhin unter 30 Prozent bleibt – dank gesamtwirtschaftlicher Entwick- lung.
Die Krankenkassen als an diesem Gesamtaufkom- men beteiligte Sachwalter lässt die aktuelle Entwick- lung kalt. Sie reagieren in guten wie in schlechten Zei- ten auf Forderungen – ob berechtigt oder nicht – grund- sätzlich erst einmal mit Beißreflexen. Diese Erfahrung musste Deutschlands Ärzteschaft jetzt wieder machen, als die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) ih- ren anstehenden Honorardiskurs mit dem Spitzenver- band der gesetzlichen Krankenkassen startete.
Lässt der alles überdeckende Grundsatz unbedingter Ökonomisierung unseres Gesundheitswesens seitens der Krankenkassen nichts anderes mehr zu als das stän- dige Spiel mit diesem kategorischen „Nein“?
Vor solchen Hintergründen wird eine berufspoliti- sche Bewertung, wie sie der Präsident der Bundesärzte- kammer, Prof. Dr. med. Frank Ulrich Montgomery, und der KBV-Vorstandsvorsitzende, Dr. med. Andreas Gas- sen, im Interview mit dem Deutschen Ärzteblatt darle- gen, trotz hochmotivierter Ärzte zwangsläufig auch zur Klage des Berufsstandes über unnötige Bürokratie, mangelnde Bewegungsfreiheit und unzureichende Fle- xibilität im Denken und Handeln von Krankenkassen und Verordnungsgebern.
Die jüngst veröffentlichten Beurteilungen des Sys- tems – ob vom Sachverständigenrat oder von der Ge- sundheitsministerkonferenz der Länder – bestätigen in der Regel deutlich die Überlastungs- und Mangelsitua- tionen, die die Ärzte monieren.
Dass man der deutschen Ärzteschaft trotzdem immer wieder bestätigt, qualitativ „einen guten Job“ zu ma- chen, spricht für den Berufsstand, damit aber noch lan- ge nicht gleichermaßen für das System.
Aufhorchen lässt, dass inzwischen selbst Marktgrö- ßen wie die Techniker Krankenkasse sich vorstellen können, Modelle zur Abschaffung von Budgetierungen zu erörtern. Angesichts der in den nächsten Jahren an- stehenden Herausforderungen ist das ein im wahren Sinne des Wortes „merkwürdiges“ Bekenntnis, viel- leicht ein noch kleiner, aber wichtiger Schritt zu neuem, der Komplexität des Gesundheitswesens angepassten Denken und Handeln.
Fest steht: Deutschlands Gesundheitswesen leidet unter dem Widerspruch zwischen medizinischem Fort- schritt, demografisch bedingt steigender Multimorbidi- tät auf der einen und dem politischen Diktum strikter Ökonomie auf der anderen Seite. Die überfällige Kran- kenhausreform wie auch das gezielte Gegensteuern ge- gen etwaige Versorgungsmängel brauchen nicht nur die Zufriedenheit der Ärzte in ihrem medizinischen Han- deln, sondern klar kalkulierbare betriebswirtschaftliche Größen, die eine weiterhin gute medizinische Versor- gung sichern – eben mit dem Einsatz auch künftig hochmotivierter Ärzte.
GESUNDHEITSPOLITISCHER REFORMBEDARF
Komplex denken – flexibel handeln
Egbert Maibach-Nagel
Egbert Maibach-Nagel Chefredakteur