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Strukturreform
Nachkarten und gute
Vorsätze
A
uffallend oft rief Bundes- gesundheitsminister Horst Seehofer beim 96. Deut- schen Ärztetag und bei der Ver- treterversammlung der Kassen- ärztlichen Bundesvereinigung die Ärzte dazu auf, die „Vergangen- heitsbewältigung" jetzt zu been- den. Seehofer meinte damit die Auseinandersetzungen über Zu- standekommen und Folgen des Gesundheitsstrukturgesetzes.In diesem Punkt stimmen die Bonner Parteien im übrigen über- ein. Die Grußworte, die aus den Bonner Fraktionen den Deut- schen Ärztetag in Dresden er- reichten, mahnen die Ärzte, nun wieder an die Zukunft zu denken und gemeinsam neue Wege zu be- schreiten.
Den Politikern scheint die unablässige Unruhe über das GSG lästig zu werden. Es leuchtet auch ein, daß sie am liebsten wieder zur Tagesordnung übergehen würden.
Schließlich wird im nächsten Jahr gewählt. Da macht sich Unruhe unter den Ärzten und Patienten schlecht.
Um zu Seehofer zurückzu- kommen: Sein Interesse am Zu- decken der Vergangenheit ist ge- wiß größer als das der Betroffe- nen, zum Beispiel der Ärzte. Das gab er in Dresden natürlich nicht zu. Statt dessen bot er trickreich den Ärzten an, er, Seehofer, wer- de mit der Vergangenheitsbewäl- tigung aufhören, falls auch die Ärzte Schluß machten.
Das GSG ist nun einmal da, die Folgen sind zu spüren und werden weiter zu spüren sein. Al- le, die darunter zu leiden haben, werden daher auch künftig, auch 1994, darauf hinweisen müssen, wer die Sparpolitik zu verantwor-
ten hat. Seehofer und die ande- ren, die das GSG hinter verschlos- senen Türen ausgeheckt und durch das Parlament hindurchge- trieben haben, werden damit le- ben müssen.
Bei solcher Erinnerung sollte es indes nicht bleiben. In der Tat, Zukunftsgedanken sind angezeigt, um eine sinnvolle Reform des Ge- sundheitswesens einzuleiten.
Denn die hektische Reformiere- rei, das ständige Notbremsen, darf nicht weiter fortgeführt werden.
Insofern hat der Bundesgesund- heitsminister recht, wenn er bei- zeiten ein echtes Reformgesetz auf den Weg bringen will. Er tut auch gut daran, beizeiten die Be- teiligten hinzuzuziehen — und zwar nicht nur die befreundeten Krankenkassen, sondern auch (zum Beispiel) die Ärzte. Die Ärz- te wiederum täten gut daran, ein handfestes, auf einen breiten Konsens gegründetes Konzept vorzulegen. Sowohl die Bundes- ärztekammer wie die Kassenärzt- liche Bundesvereinigung haben dazu gute Vorsätze gefaßt. Sie gilt es, jetzt in die Tat umzusetzen.
Der Bundesgesundheitsmini- ster, ob das demnächst nun See- hofer oder jemand anderer ist, sei herzlich aufgefordert, solche Konzepte im Dialog zu erörtern.
Und nun müssen wir doch noch einmal auf die Vergangenheit zu- rückkommen: Dialog heißt nicht, daß einer redet und der andere überfahren wird. Eine „Gesund- heitsreform" mit den Beteiligten gemeinsam zu entwickeln bedeu- tet nicht, alle gegeneinander aus- zuspielen — während die Politi- ker im stillen wieder das Seeho- fer- oder Dreßler-Süppchen ko- chen. Norbert Jachertz Deutsches Ärzteblatt 90, Heft 19, 14. Mai 1993 (1) A1-1381