Hierzu gehört auch die Freiheit der Option für private Versicherungen wie die Freiheit zur Information durch Experten. Nur der Kunde ist zufrieden, der als Kunde ernst ge- nommen wird, von den Anbietern und Lieferanten nämlich der von ihm gewünschten und gebrauchten Ge- sundheitsgüter.
Ist die Kundensouveränität auf den freiheitssichernden Staat gerich- tet und die Kundenzufriedenheit auf die bedürfnisorientierten Anbieter des Gesundheitsmarktes, dann wird sich aus den rechtsverdichteten und sanktionsbewehrten, funktionärsver- cliquten und rationierungsverengten Festungen des Sozialstaats und seiner Verbände die Kundenpersönlichkeit verlebendigen, die zur freien Markt- wirtschaft und zum liberalen Staat gehört. Nicht Rationierung des Ange- bots an Gesundheitsleistungen ist meine Folgerung, sondern Rationali- sierung der Nachfrage durch die Bedürfnissteuerung seitens der Ver- sicherten mit dem Ziel der Kundenzu- friedenheit. Es ist nichts anderes als die sozialpolitische Konsequenz aus einer von den Soziologen beschriebe- nen Entwicklung der Individualisie- rung der Werteinstellungen und der Pluralisierung der Lebensstile. Ge- sundheit ist nur ein bestimmter Aus- druck persönlicher Lebensqualität und das Risiko der Krankheiten die Forderung nach selbstverantwort- licher und sozialverträglicher Vor- und Mitsorge zum Risikoschutz des Lebens. Wir brauchen hierfür keinen Sozialstaat als Gesundheitsstaat, kei- ne Zwangsorganisationen und keine Gesundheitsmonopolberufe, sondern Bürger mit Lebensfreude und Le- benssinn – freilich auch mit finanziel- ler Selbstverantwortlichkeit in den Krisen ihrer Lebenslagen.
Anschrift des Verfassers:
Prof. Dr. med. Horst Baier
Sozialwissenschaftliche Fakultät der Universität Konstanz
Lehrstuhl für Soziologie Postfach 55 60 D 28 78434 Konstanz
A-2686 (36) Deutsches Ärzteblatt 93, Heft 42, 18. Oktober 1996
T H E M E N D E R Z E I T AUFSÄTZE/BERICHTE
Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 1996; 93: A-2683–2686 [Heft 42]
M
it der Einführung der Schu- lung zur Insulintherapie in die ambulante vertragsärzli- che Versorgung lassen sich erhebliche stationäre Behandlungsko- sten bei Diabetikern vermeiden. In Deutschland wurde bisher eine sehr große Zahl von Typ-II-Diabetikern zur Einleitung der Insulintherapie hospita- lisiert. Solche Klinik- oder Kurklinik- aufenthalte sind ein deutsches Spezifi- kum. Die ambulante Einleitung der Therapie, die im Ausland seit der Ein- führung des Insulins die Regel ist, wur- de in Deutschland seltener praktiziert.Dies ist nicht verwunderlich, da in an- erkannten Lehrbüchern für Innere
Medizin, wie zum Beispiel dem von Rudolf Gross und Paul Schölmerich herausgegebenen Werk, „in der Regel eine stationäre Erst- und Neueinstel- lung“ empfohlen wurde (1). Ein weite- rer Grund dafür ist, daß die Erstein- stellung in der ambulanten ärztlichen Versorgung einen erheblichen Auf- wand erfordert. Daß diese Leistung im Gegensatz zur strukturierten Schulung von Typ-II-Diabetikern ohne Insu- lintherapie (2, 3) bisher nicht honoriert wurde, ist unverständlich. Die notwen- dige Unterrichtung des Patienten im Gebrauch des Insulins, der Therapie und Prävention von Hypoglykämien, der notwendigen Stoffwechselselbst- kontrolle und der Abstimmung der Kost mit der Insulintherapie bedarf mehrerer Stunden strukturierten Un- terrichts. Diese erstmalige Schulung des Patienten überschreitet erheblich den zeitlichen Aufwand, der bei der folgenden Langzeitbetreuung und Be- ratung anfällt.
Erstmals wurde die Vergütung für die strukturierte Schulung für mit Insulin therapierte Typ-II-Diabetiker im Bereich der Kassenärztlichen Ver- einigung Brandenburg eingeführt.
Nicht nur in Schwerpunktpraxen zur Diabetikerbetreuung (die dort zeit- gleich auch zur Betreuung und Schu- lung von Diabetikern eingeführt wur- den), sondern auch in Praxen von All- gemeinärzten und Internisten, die sich
Typ-II-Diabetes
Erfolgreiche ambulante
Schulung zur Insulintherapie
Bereits in vier Bundesländern können Allgemeinmediziner und Internisten nach entsprechender Fortbildung ambulante Patientenschulung für Typ-II-Diabetiker mit konventioneller Insulintherapie abrechnen. Eine Studie der Universitätskli- nik Jena zeigte, daß mit einem ambulanten strukturierten Therapie- und Schu- lungsprogramm eine Behandlungsqualität erreichbar ist, die der Qualität einer stationären Therapie in einer Universitätsklinik gleichwertig ist. Eine Studie im Bereich der Kassenärztlichen Vereinigung Brandenburg belegte, daß strukturier- te Schulungen von Typ-II-Diabetikern nach Einführung der Honorierung durch die Kostenträger erfolgreich in die ambulante Versorgung implementierbar sind.
Abb. 1
Schulungsmaterial
in Fortbildungsseminaren qualifizier- ten, wurde eine Patientenschulung über fünf Doppelstunden für Typ-II- Diabetiker mit konventioneller Insu- lintherapie möglich. Das Fortbil- dungsseminar umfaßt einen Tag für Praxisinhaber und Arzthelferinnen, an dem Referententeams das Pro- gramm vorstellen und Fragen zur In- sulintherapie diskutieren. Dazu kom- men eineinhalb Tage Lehrverhaltens- training mit den Arzthelferinnen.
Voraussetzung zur Teilnahme an den Seminaren ist es, daß die Praxen be- reits an Seminaren zum bundesweit abrechenbaren Programm für nicht mit Insulin therapierte Typ-II-Diabe- tiker teilgenommen haben (2, 3).
Die Praxen erhalten umfangrei- ches Schulungsmaterial (Schautafeln für den Patientenunterricht, Unter- richtskarten für die Schulungskraft, Nahrungsmittelabbildungen in Ori- ginalgröße, Abbildung 1) (4, 5). Auch das Verbrauchsmaterial (Abbildung 2) einschließlich eines Informations- buches für die Patienten (6) wird von den Kostenträgern erstattet, die sich den entsprechenden Vereinbarungen angeschlossen haben. Das Programm wurde von der Arbeitsgruppe Prof.
Dr. med. Michael Berger (Klinik für Stoffwechselkrankheiten und Er- nährung der Universität Düsseldorf) in Zusammenarbeit mit der III. Medi- zinischen Abteilung des Krankenhau- ses München-Schwabing (Prof. Dr.
med. Eberhard Standl, Prof. Dr. med.
Hellmut Mehnert) entwickelt.
Der Patientenunterricht kann mit bis zu vier Patienten durchgeführt werden. In Brandenburg wird ein Kurs mit vier Patienten über fünf Un- terrichtseinheiten mit 1 000 DM ver- gütet (je Patient und Unterrichtsein- heit 50 DM). Als strukturierte Maß- nahme der Sekundärprävention er- folgt diese Vergütung als Einzellei- stungsvergütung außerhalb der Ge- samtvergütung. Zur Zeit ist für dieses Programm mit verschiedenen Kosten- trägern eine Abrechnung in den Be- reichen der Kassenärztlichen Vereini- gungen Brandenburg, Mecklenburg- Vorpommern, Sachsen-Anhalt und Thüringen für entsprechend qualifi- zierte Allgemeinärzte und Internisten möglich. Anmeldungen zu Seminaren nehmen die Kassenärztlichen Vereini- gungen dieser Länder entgegen.
Außerdem kann dieses Programm in Schwerpunktpraxen im Bereich der Kassenärztlichen Vereinigungen Nie- dersachsen, Sachsen und Westfalen- Lippe abgerechnet werden.
Evaluation abgeschlossen
Zwei Studien zur Evaluation des Programms wurden abgeschlossen. In Brandenburg wurden alle Praxen, die in den ersten sechs Monaten an einem Fortbildungsseminar nach Abschluß der Vereinbarung teilgenommen hat-
ten, standardisiert befragt. 90 Prozent der Ärzte waren mit dem Seminar sehr zufrieden; 95 Prozent beurteilten die Schulungsmaterialien als gut bis sehr gut. Eine Stichprobe der Praxen wurde von Mitarbeitern des Zentral- instituts für die kassenärztliche Ver- sorgung (ZI), Köln, aufgesucht, um Patientendaten zu erheben. Dabei zeigte sich an 243 Patienten einer Ver- minderung des HbA1c von initial 9,5 Prozent auf 7,9 Prozent nach im Me- dian sechs Monaten nach Teilnahme am Schulungskurs (7).
In Brandenburg ist es in kurzer Zeit gelungen, ein flächendeckendes Angebot für diese neue Schulungs- möglichkeit sicherzustellen.
Ambulante Schulung und Ein- stellung älterer Typ-II-Diabetiker war auch Thema einer auf der 32. Jah- restagung der Europäischen Diabe- tesgesellschaft (EASD) vorgestellten Studie. Die Arbeit wurde an der Me- dizinischen Universitätsklinik Jena
(Priv.-Doz. Dr. med. Ulrich Alfons Müller) durchgeführt und vom Ge- sundheitsministerium des Landes Thüringen gefördert (8). In diese pro- spektive, kontrollierte Untersuchung wurden 140 Typ-II-Diabetiker einbe- zogen. Die Hälfte der Patienten wur- de ambulant durch entsprechend fort- gebildete Allgemeinärzte und Inter- nisten in fünf Doppelstunden ge- schult. Ihre Ergebnisse wurden nach einem Jahr mit der gleich großen Kontrollgruppe verglichen, die sta- tionär in der Medizinischen Univer- sitätsklinik Jena an dem gleichen Pro- gramm teilgenommen hatte. Ein Un- terschied zwischen ambulanter und stationärer Behandlung bestand bei Nachuntersuchung nicht: Das HbA1c fiel, ausgehend von initial 10,1 Pro- zent (oberer Normalwert 5 Prozent des Gesamt-Hb), in beiden Gruppen um rund 2 Prozent ab. Blutglukose- Selbstmessungen erfolgten in beiden Gruppen in über 80 Prozent. Die Au- toren folgern, daß durch das struktu- rierte Therapie- und Schulungspro- gramm eine hohe Behandlungsqua- lität in der Arztpraxis erreicht wird.
In Deutschland werden zur Zeit etwa 800 000 Typ-II-Diabetiker mit Insulin therapiert. Allein durch das steigende Alter der Bevölkerung wird diese Zahl bald eine Million über- schreiten. Bei diesen Patienten Hos- pitalisierungen zu vermeiden ist nicht nur ein Gebot des Kostenbewußt- seins: Wenn diese älteren Patienten in ihrer gewohnten Umgebung haus- ärztlich betreut werden können, ist dies auch ein erheblicher Gewinn an Lebensqualität.
Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis im Sonderdruck, anzufordern über die Verfasser.
Anschriften der Verfasser:
Dr. med. Viktor Jörgens
Klinik für Stoffwechselkrankheiten und Ernährung der Heinrich-Heine- Universität, WHO Collaborating Center for Diabetes (Direktor:
Prof. Dr. med. Michael Berger) Moorenstraße 5, 40225 Düsseldorf Dr. med. Monika Grüßer
Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung
Herbert-Lewin-Straße 5, 50931 Köln
A-2688 (38) Deutsches Ärzteblatt 93, Heft 42, 18. Oktober 1996
T H E M E N D E R Z E I T BERICHTE
Abb. 2
Verbrauchsmaterial für Patienten