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Archiv "Freiheit im Beruf: Gewissensentscheidung im Parlament" (24.07.1980)

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Aufsätze - Notizen

THEMEN DER ZEIT

Es sei ja schön und gut, aber mehr als politische Lyrik sei es nicht. So und so ähnlich tönte es mir oft ent- gegen, wenn ich in öffentlichen Dis- kussionen die Behauptung zurück- wies, die Abgeordneten des Bundes- tags seien schließlich doch nur Par- teisoldaten und ihrem Fraktions- zwang untertan. Der Vorwurf der po- litischen Lyrik galt in derlei Diskus- sionen meinem besten und stärk- sten Argument, dem Artikel 38 des Grundgesetzes (GG).Er ist ein Juwel unserer Verfassung. Er bestimmt die verfassungsrechtliche Position der Mitglieder des Deutschen Bundes- tags klar, knapp und schön: „Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht ge- bunden und nur ihrem Gewissen un- terworfen."

Der Satz steht auf dem Artikel 21 der Weimarer Reichsverfassung. Und dieser wiederum auf der 200jährigen Tradition des repräsentativen Parla- mentarismus. Seine Aufnahme in das GG war von zwei Seiten umstrit- ten. Der spätere Staatssekretär im Bundesjustizministerium, Walter Strauss (CDU), hielt die Bestimmung für überflüssig, denn sie sei selbst- verständlich. Walter Strauss mußte sich noch im Parlamentarischen Rat eines anderen belehren lassen. Die SPD-Abgeordneten Heiland und Frau Dr. Seibert lehnten den Artikel ab. Er würde nur Abgeordnete schützen, „die aus dunklen Motiven den Fraktionszwang brechen wollten."

Der entscheidende Beitrag des § 38 Grundgesetz

Der Bundestag sah sich nicht veran- laßt, jemals in eine Diskussion dar- über einzutreten. Er blieb insoweit

bei dem strengen Personalismus, der sich in Artikel 38 GG kundtut.

Dieser schließt den Fraktionszwang als Rechtsinstitut nicht nur aus, er macht ihn und das imperative Man- dat unzulässig, verfassungswidrig.

Der Schutz, der damit der Gewis- sensentscheidung des Abgeordne- ten zuteil wird, ist optimal. In Man- goldts berühmtem Grundgesetz- kommentar heißt es dazu: „Wech- selt der Abgeordnete seine Partei oder Fraktion, wird er von dieser ausgeschlossen oder wird gar seine Partei verboten, so verliert er da- durch sein Abgeordnetenmandat nicht, und zwar selbst wenn er sei- ner Partei vorher für diesen Fall eine Verzichtserklärung abgegeben ha- ben sollte." Im Fall eines Parteiver- bots hat das Bundesverfassungsge- richt später freilich entschieden, daß damit auch ihre Mandate erlöschen.

Von diesem außergewöhnlichen Fall abgesehen, bietet der Artikel 38 GG der Gewissensentscheidung des Ab- geordneten einen durchgreifenden rechtlichen Schutz. Er nimmt den- selben Abgeordneten aber auch in strenge Pflicht. Und zwar in zweifa- cher Hinsicht:

Er impliziert, daß die parlamenta- rische Einlassung und Entschei- dung des Mitglieds des Bundestags gewissenhaft erfolgt. Das ist nicht in einer Mußvorschrift im GG niederge- legt, aber es ist der Geist, aus dem der Artikel geboren ist. Er ist mithin keine ästhetisch-moralische Rand- verzierung unseres GGs oder unse- rer parlamentarischen Demokratie.

Er ist ihr kategorischer Imperativ.

49 Es ist kein ungebundenes Gewis- sen, von dem in diesem Artikel 38 GG die Rede ist, sondern ein gebun- denes Gewissen. Der Bundestag

kennt zwar nicht wie manches ande- re Parlament die eidliche Verpflich- tung seiner Mitglieder als solcher.

Das GG setzt stillschweigend vor- aus, daß der Gewählte mit der An- nahme des Mandats aus freien Stük- ken zu erkennen gibt, daß er dieses Mandat loyal auszuüben gedenke.

Zu dieser Loyalität gehört z. B. — um bei dem Artikel 38 GG zu bleiben —, daß sich der Bundestagsabgeordne- te grundsätzlich als das versteht, als das er nach dem Willen des GG ge- wählt ist, nämlich als „Vertreter des ganzen Volkes." Es wäre mithin nicht nur unkorrekt, es wäre verfas- sungswidrig, wenn sich ein Mitglied des Hauses in seinem parlamentari- schen Verhalten und in seiner Stimmabgabe etwa allein von den regionalen Interessen seines Wahl- kreises oder, aktueller, von den Wünschen und Erwartungen des In- teressenverbandes leiten ließe, dem er angehört oder dessen Initiative er sein Mandat hauptsächlich ver- dankt. Die gewissenhafte Entschei- dung, die unsere Verfassung dem Mitglied des Deutschen Bundesta- ges abverlangt und die es schützt, muß auch ohne Eid vor „dem Wohle des deutschen Volkes", des ganzen Volkes und nicht nur eines seiner Teile verantwortet werden.

Selbstverständlich bin ich darauf ge- faßt, nach dieser Vergegenwärti- gung der Rechtslage und ihrer staat- lichen Voraussetzungen das skepti- sche Wort von der politischen Lyrik wieder zu hören. Schon Herr von Mangoldt hat in seinem frühen Kom- mentar des GGs gemeint, daß „aller- dings die politische Wirklichkeit in einem gewissen Gegensatz zu die- ser gesetzlich festgelegten Un- abhängigkeit des Abgeordneten"

steht. Ich bedauere, das bestätigen zu müssen. Ich tue es jedoch, ohne ein Jota von dem zu streichen, was ich mir zur Rechtslage zu sagen er- laubte. Ich möchte dem kategori- schen Imperativ unserer repräsen- tativen Demokratie auch nicht nur eine mit Nachsicht ausgestattete Tatbestandsaufnahme an die Seite stellen. Ich möchte vielmehr an eini- ge Notwendigkeiten unseres Parla- mentarismus erinnern und Mißver- FREIHEIT IM BERUF

Gewissensentscheidung im Parlament

Eugen Gerstenmaier

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Heft 30 vom 24. Juli 1980 1855

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Aufsätze • Notizen

Gerstenmaier: Gewissensentscheidung im Parlament

ständnisse abwehren, die in der öf- fentlichen Diskussion immer wieder begegnen.

Kompromißbereitschaft — Basis des Parlamentarismus Der Personalismus des Artikels 38 GG ist mißverstanden und mißdeu- tet, wenn er als kompromißfeindli- cher rigoroser Individualismus be- griffen wird. Unser Bundestag be- steht zwar aus mehr als 500 Mitglie- dern (mindestens 100, wahrschein- lich aber 200 zuviel). Jedes von ih- nen hat seinen eigenen Kopf. Aber keiner dieser Köpfe richtet irgend etwas von Belang aus, wenn es ihm nicht gelingt, andere Köpfe für das zu gewinnen, was er für politisch notwendig oder geboten hält. Das heißt, der Kompromiß und die Be- reitschaft zum Kompromiß ist das A und 0 des freiheitlichen Parlamenta- rismus.

Die Akklamations-Institute der totali- tären Staaten verdienen schon des- halb nicht den Namen Parlament, weil ihnen das Reden, das kritische, das kontroverse freie Reden abgeht.

Den Kompromiß kennen sie nicht.

Für die Akklamation braucht man ihn nicht.

Was rechtlich unkorrekt als Frak- tionszwang bezeichnet wird, erweist sich in unserer parlamentarischen Praxis als das drängende Bemühen, den objektiv notwendigen Konsens der Fraktion in vertretbaren Kom- promissen handlungsfähig zu erhal- ten.

Die Suche nach dem Kompromiß vollzieht sich in der Regel — aber keineswegs immer — in der Beschäf- tigung, man könnte auch sagen, in der Konfrontation mit der Vor- lage, die verabschiedet werden soll. Selbstverständlich sollte dabei die Sachgerechtigkeit, die optimale sachliche Angemessenheit, das Ziel der Diskussion sein. Daß darüber die Meinungen weit auseinandergehen können, ist tägliche Erfahrung. Den- noch wird die Mehrzahl der Geset- zesvorlagen im Bundestag einver- nehmlich oder mit Mehrheiten ver-

abschiedet, die über die Regie- rungskoalition oder Opposition hin- ausgreifen. Gesetze zur Wasserwirt- schaft, zum Umweltschutz, zur Ver- kehrsregelung usw. stehen meist unter dem Diktat technischer oder situationsbedingter Notwendigkei- ten. Schon deshalb hat eine Vielzahl von Gesetzentwürfen die Aussicht, einvernehmlich verabschiedet zu werden.

Ein denkwürdiges Beispiel dafür ist das 1. Gesetz zum sozialen Woh- nungsbau. Der Wohnungsmangel vor 30 Jahren war so groß, daß sich keiner den Kompromissen der ge- setzlichen Regelung entziehen woll- te, auch wenn sie ihn nicht in allem befriedigte. Schwieriger ist es, in den Gebieten zu vertretbaren Kom- promissen zu kommen, in denen festgegründete Glaubensansichten, weltanschauliche Vorgegebenhei- ten, ideologische Positionen, kurz in das Irrationale greifende Elemente den Ausschlag geben. Beispiel: die soziale Indikation und die Familien- politik überhaupt. In diesen Berei- chen, aber auch in solchen der durchaus rationalen politischen Ent- scheidung kann es auch innerhalb einer Fraktion zu Kontroversen kom- men, die durch Kompromisse kaum lösbar werden. Das Ja oder Nein zu den Ostverträgen und zum Atom- sperrvertrag blieb z. B. in der CDU bis in die Plenarabstimmung hinein kontrovers. Es war zur Gewissens- entscheidung geworden.

Gewissensentscheidung — eher selten als häufig

Sie ist in der parlamentarischen Pra- xis jedoch eher selten als häufig.

Schon die nicht zu vermeidende Ar- beitsteilung im Parlament bringt es mit sich, daß sich die Gesamtheit einer Fraktion auf die von ihren Ar- beitskreisen jeweils vorgeschlage- nen Voten in der Regel einigt, eini- gen muß. Jeder hat zwar im Frak- tionsplenum und auch vor dem gan- zen Haus die Möglichkeit, zu einem solchen Votum Stellung zu nehmen, aber es wäre eine Illusion, anzuneh- men, daß jeder Abgeordnete auch die Möglichkeit hätte, sich zu jeder

Entscheidung, die ihm im Bundes- tag abverlangt wird, ein eigenes, sel- ber gewissenhaft erarbeitetes Urteil zu bilden. Er muß sich in der Mehr- zahl der Fälle darauf verlassen, daß das von seiner Fraktion akzeptierte Votum auch sein eigenes wäre, hätte er sich sachverständig damit befas- sen können. Dieses Vertrauen ist ein entscheidendes Constituens für das Zusammenwirken einer Fraktion im vielgestaltigen, arbeitsteiligen parla- mentarischen Alltag von heute.

Schon mit seinem Arbeitsstil unter- scheidet er sich von dem Honoratio- renparlament früherer Zeiten. Des- sen Mitglieder hatten ihre Mandate mehr ihrem Namen als ihrer Partei zu verdanken. Sie waren denn auch mehr als heute von dem Zwang frei- gestellt, auf die Machtbedürfnisse ihrer Partei Rücksicht zu nehmen.

Im heutigen Parlamentarismus ist der Gewissenskonflikt vermutlich weniger aus sachlichen Meinungs- verschiedenheiten geboren als aus einem Loyalitätskonflikt zwischen dem, was ein Abgeordneter für sach- lich geboten, und dem, was seine Fraktion oder Partei für politisch notwendig oder vorteilhaft hält. Die Vokabel politisch steht dabei zu- meist verschämt für populär oder — dezenter — für „mehrheitsfähig".

Konflikte dieser Art können zu durchaus schmerzhaften Auseinan- dersetzungen werden. Auch der spe- zielle Sachverstand kann davon nicht freistellen. Die Schwierigkeit liegt in solchen Fällen in der Regel darin, daß überzeugende Harmoni- sierungen sich nicht immer ergeben und die Parteien nur ungern Einsät- ze wagen, die als unpopulär gelten und die möglicherweise aus der Macht tragen oder den Zugang zur Macht im Staat versperren können.

Man kann indessen nicht sagen, daß das Machtkalkül unerlaubt sei. Man muß dem Politiker, man muß dem Parlamentarier vielmehr zugeste- hen, daß es ein erlaubter Teil auch seiner gewissenhaften Entschei- dung ist. Die Macht in der Gestalt hinreichender Mehrheiten ist schließlich die Grundbedingung der politischen Verwirklichung. Die Dis- kriminierung der Macht, der Macht-

1856 Heft 30 vom 24. Juli 1980 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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Aufsätze • Notizen

Gerstenmaier: Gewissensentscheidung im Parlament

erlangung und d. h. des Kampfes um die Macht ist eine gedankenlose und wertlose Moralisiererei. Der Kampf um die Mehrheit ist legitim, jeden- falls solange er zwar hart, aber fair geführt wird.

Fraktionszwang — Fraktionsdisziplin

Der Artikel 38 GG impliziert eine Rangordnung der Werte, die für die Orientierung des einzelnen im Loya- litätskonflikt von entscheidender Bedeutung ist. Der Abgeordnete sei nur seinem Gewissen unterworfen.

Das heißt, er ist zwar ein Repräsen- tant, aber er ist kein Funktionär, we- der seiner Partei noch seiner Wäh- ler. Spätestens seit Burke ist das herrschende Meinung im freiheitli- chen Rechtsstaat. Selbstverständ- lich behält die Stimmung und Mei- nung seiner Wähler für den Abge- ordneten eine gewichtige politische Relevanz. Verbindlich für seine Ent- scheidungen ist sie aber nicht. Die Loyalität, die der Mandatsträger sei- ner Partei und Fraktion schuldet, kann ebenfalls nicht bestritten wer- den. Dennoch kann und darf darauf ein Fraktionszwang nicht gegründet werden. Das wäre eine heteronome Mißdeutung des parlamentarischen Mandats. Es würde eine qualitative Veränderung unseres Parlamenta- rismus und Parteiwesens zur Folge haben. Es muß dabei bleiben: In dem Gewissenskonflikt des Abge- ordneten mit seiner Fraktion hat die Loyalität gegenüber dem eigenen Gewissen den Vorrang vor Wählern, Partei und Fraktion. Das ist der Triumph des Personalismus im Art.

38 GG. Vom Fraktionszwang wohl zu unterscheiden ist die notwendige Fraktionsdisziplin. Sie bezieht sich auf die Einordnung in die Fraktion und ihre Arbeitsteilung, auf die tech- nischen und organisatorischen Er- fordernisse ihres parlamentarischen Wirkens, auf die regelmäßige Teil- nahme an ihren Sitzungen und auch auf die öffentliche Darstellung ihres politischen Konsenses. Verstöße ge- gen diese Fraktionsdisziplin können nicht mit der Ablehnung des Frak- tionszwanges unter Berufung auf Art. 38 gerechtfertigt werden.

Die Rolle der Parteien

Eine grundlegend andere Bewer- tung des Artikels 38 GG vertritt der langjährige Bundesverfassungsrich- ter Gerhard Leibholz in seinem be- deutenden Buch über die Struktur- probleme der modernen Demokra- tie. Er geht davon aus, daß die reprä- sentative Demokratie sich im Lauf der Geschichte in eine parteien- staatliche Demokratie verwandelt habe. Der Artikel 38 steht im Schat- ten des Artikels 21 GG. Dort wird festgestellt: „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit." Die beiden Artikel seien in ihren verschiedenen Intentionen

„prinzipiell unvereinbar". Bei aller Bewunderung des Scharfsinns und der Gelehrsamkeit von Gerhard Leibholz vermag ich auch nach jah- relanger Diskussion dieser Feststel- lung nicht zuzustimmen.

Ich kann hier auf das Pro und Contra nicht eingehen, sondern möchte le- diglich auf die Konsequenzen hin- weisen, die Gerhard Leibholz aus seiner Vorstellung von der „partei- enstaatlichen Demokratie" korrekt und schlüssig selber zieht. Er kommt zur Bejahung des strikten Fraktionszwanges und dementspre- chend auch des imperativen Man- dats. Korrekt ist auch seine eigene, etwas resignierte Feststellung, daß

„dem Fraktionszwang, der sich aus der Logik des Parteienstaates er- gibt... auch heute noch die verfas- sungsrechtliche Legitimität" fehle.

Ich sehe keinen Anlaß, diesen Zu- stand zu ändern.

Auch wenn man der kritischen Be- schreibung der parteienstaatlichen Demokratie von Gerhard Leibholz folgt, ist nicht zu übersehen, daß die Parteien in unserem Staat allein auf dem freien Konsens ihrer Mitglieder stehen. Zu ihren Mandatsträgern stehen sie in einem freien gegen- seitigen Loyalitätsverhältnis. Es schließt schon als solches heterono- me Bindungen aus. Ich kann nicht erkennen, wieso diese Verfassung unserer Parteien die Gewissensent- scheidung nach Artikel 38 des Grundgesetzes prinzipiell aus- schließt.

Es ist auch nicht einzusehen, warum der Artikel keine Geltung haben soll für die Abgeordneten in den Parla- mentsausschüssen, warum sie dort einem Fraktionszwang unterliegen sollen. Nach § 68 Geschäftsordnung Bundestag werden sie zwar von ih- ren Fraktionen „benannt". Das ist eine reine Organisationsbestim- mung. Sie hat bei weitem nicht die Kraft, für ein wichtiges Stück parla- mentarischer Arbeit eine verfas- sungsrechtliche Bestimmung par- tiell außer Geltung zu setzen und für die Arbeit in den Ausschüssen ein imperatives Mandat der Fraktionen zu installieren.

Es ist auch kein Einwand, wenn da- zu festgestellt wird, daß jeder Man- datsträger der Parteien sich darüber im klaren sein muß, daß zwar nicht jede Meinungsverschiedenheit, wohl aber ernste Loyalitätskonflikte mit seiner Fraktion oder Partei ihn in eine Krise seines parlamentarischen Wirkens und seiner politischen Zu- kunft führen. Er wagt dabei seine politische Zukunft selbst dann, wenn der Konflikt nicht zur Tren- nung führt. Zwar gibt es heute in jeder der großen Parteien eine sehr erhebliche Bandbreite. Sie ergibt sich aus der Notwendigkeit, mög- lichst vielen, auch vielen unter- schiedlichen Gruppen eine politi- sche Heimat zu bieten.

Der fortgesetzte innerparteiliche Kompromiß ist eine zwingende Not- wendigkeit der mehrheitsfähigen Volkspartei. Ihr Konsens beweist sich gerade darin, vollziehbare Kom- promisse zustande zu bringen. Aber so groß auch die Liberalität einer Volkspartei sein mag: wo sie zur Be- Iiebigkeit, zum eklatanten Wider- spruch in sich selbst wird, riskiert sie sich selbst. Der innerparteiliche Kompromiß hat seine Grenzen. Par- teien ohne Profil, ohne faß- und ab- grenzbare Programmatik verlieren ihr Gesicht. Auch von dem unbeque- men Entschluß kann übrigens so et- was wie Faszination oder wenig- stens zustimmende Einsicht aus- gehen.

Die Partei, der politische Kampf- und Arbeitsverbund, in dem sich der

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Heft 30 vom 24. Juli 1980 1857

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Aufsätze • Notizen

Gerstenmaier: Gewissensentscheidung im Parlament

Kandidat und Abgeordnete bewegt, hat also aus mehreren Gründen ei- nen legitimen Anspruch auf seine Loyalität. Niemand ist gezwungen, eine Kandidatur oder ein Mandat an- zunehmen. Wer es tut, erklärt, daß er aus freien Stücken sich zu der Ge- samtlinie und Orientierung seiner Partei bekennt und daß er willens ist, dieser Linie nach dem Maße seiner Kraft und Einsicht zu folgen. Das ist keine heteronome, das ist eine auto- nome Entscheidung.

Finden sich Gründe oder treten Um- stände ein, die nicht vorhersehbar oder der Einsicht des Mandatsträ- gers zuvor verschlossen waren — nun gut, dann mag für den Gewis- senhaften, den das Grundgesetz meint, der Ernstfall eintreten. Wenn es zur Trennung kommt: für die lau- fende Legislaturperiode bleibt sein Mandat gesichert (siehe Gruhl). Da- nach aber ist seinem parlamentari- schen, vielleicht seinem politischen Wirken überhaupt ein Ende gesetzt, wenn er nicht von selbst schon zu- vor auf sein Mandat verzichtet. Es sei denn, er fände in neuen Loyali- tätsverhältnissen, in anderen Ver- trauensbeziehungen eine neue par- lamentarische Tätigkeit. Gustav Hei- nemann ist nicht das einzige Bei- spiel dafür.

Fazit

Unsere repräsentative Demokratie ist also in hohem Maße auf das Ver- trauen gestellt. Ihre Parteien sind und bleiben angewiesen auf das Vertrauen der Wähler, die sich für sie und ihre Programmatik entschei- den. Und die Parteien bleiben ange- wiesen auf die Loyalität ihrer Man- datsträger. Das ist nicht risikolos. Je knapper die Mehrheiten im Parla- ment sind, desto mehr sind die Frak- tionen auf Zusammenhalt angewie- sen, wenn etwas zustande kommen soll. Dieser Zusammenhalt darf aber nicht durch Befehl oder Weisung er- zwungen werden. Seiner Notwen- digkeit wird nur die freie, autonome Entscheidung des Abgeordneten ge- recht.

Der Freiheitsraum, aus dem sie kommt, muß geschützt bleiben. Die-

ser Schutz soll sich jedoch nicht er- strecken auf das Risiko, das in der Gewissensentscheidung vor allem dann liegt, wenn der Mandatsträger in schwerer Entscheidung die Soli- darität mit seiner Fraktion verläßt.

Dieses Risiko trägt er allein.

Anschrift des Verfassers:

Prof. D. Dr.

Eugen Gerstenmaier Rheinhöhenweg 90 5486 Oberwinter (Die Bundesärztekammer veranstal- tete im März ein Symposion zu dem Thema „Freiheit im Beruf", zu dem Politiker, Wissenschaftler, Publizi- sten und Vertreter der Freien Berufe beitrugen. Eugen Gerstenmaier, vie- le Jahre Präsident des Deutschen Bundestages, sprach aus der Sicht des Politikers. Der vorstehende Arti- kel stützt sich auf diesen Vortrag.)

SPRÜCHE

Omnipotenter Staat

„Die Finanzierung des Ge- sundheitswesens hat wieder stärker eine Angelegenheit des Staates zu werden. Der Staat muß zu Umverteilungs- maßnahmen im Staatshaus- halt zugunsten der Sozial- versicherten gezwungen werden. Das aber setzt vor- aus: Einstellung der Subven- tionen für die Privatwirt- schaft ... Darüber hinaus sind die am Patienten verdie- nenden Industriezweige ei- ner verschärften öffentli- chen Kontrolle zu unterzie- hen . . . Und schließlich ist es an der Zeit, die Pfründe von Großverdienern unter den Ärzten nicht mehr länger zu tolerieren ... "

Prof. Dr. med. Hans-Ulrich Deppe, Leiter der Abteilung Medizinische Soziologie im Klinikum der Universität Frankfurt, beim „Gesund- heitstag '80" am 15. Mai in Berlin

FORUM

Erfahrungs- berichte —

einmal anders

Daß mancher Chirurg nicht nur im Umgang mit dem Skal- pell geschickt ist, sondern darüber auch sehr realistisch und zum Teil recht humorvoll zu berichten weiß, zeigen die nachfolgenden Gedichte.

Auch der Patient macht sich — wie das dritte Werk zeigt — sei- nen Reim darauf.

Einlaufnummer 1356

Thomas verspürte Schmerzen im Bauch, Erbrechen kam hinzu, Übelkeit auch.

Dem Kind wurde angst und bange, die Mutter zögerte nicht lange und kam zum Krankenhaus bereits mit fertiger Diagnose hausärztlicher-

seits.

Ein Druck auf den Bauch ließ die Schmerzen vermehren, Mac Burnay kam wieder einmal zu großen Ehren, und Schmerzen beim Druckpunkt vom Lanz sicherten schließlich die Diagnose ganz.

Rovsing und Blumberg blieben ne- gativ, das änderte aber nicht viel prae- operativ.

Für den Anästhesisten war es frohe Kunde, daß es internistisch gab keine krank- haften Befunde.

Die Appendix entfernten wir in ge- wisser Weise typisch, die Situation war auch nicht beson- ders kritisch.

Der Wurm war zwar ein wenig bläu- lich, insgesamt aber fast noch jungfräu- lich;

so berichtet zu unserem Kummer der Pathologe unter 1356/79 — der

Einlaufnummer. >

1858 Heft 30 vom 24. Juli 1980 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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