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Archiv "Patient Lenin: ein Übermensch?" (20.03.1975)

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen.

Dr. med. Günter Hesse

Zweite Fortsetzung und Schluß

Intellektueller

und Persönlichkeitszerfall

Attestieren interessierte Cliquen Lenin eine bis zum letzten Atemzug ungebrochene Intelligenz, so zitie- ren sie fleißig Foersters Erstaunen über Lenins geistige Kapazität noch während der Schlaganfälle — und zum Schluß ist die Hirnde- struktion zur Quantitö nögligeable zusammengeschrumpft.

Die täglichen Aufzeichnungen der Sekretärinnen Woloditschewa, Fo- tijewa,. Allilujewa, Gljasser, Flak- sermaw, Manutscharjanz in der Zeit vom 21. November 1922 bis 6. März 1923, also noch vor dem zweiten

„großen Schlaganfall", sehen weni- ger bestechend aus, obwohl man den Diktator in jeder Weise schont.

Er fühlt sich (25. November 1922) ar- beitsunfähig und reduziert sein Pensum auf ein Minimum (26. No- vember 1922). Wegen seiner doch nicht allein physischen Unpäßlich- keit nimmt ihm seine Umgebung nicht nur sämtliche Entscheidungen ab, sondern stellt ihn kalt (30. No- vember 1922). Er steht ständig u. a.

auch in ophthalmologischer Be- handlung, und man expediert für ihn aus Berlin Arzneimittel nach Moskau.

Auffällig oft wechselt seine Stim- mung: Trotz gravierender Ein- schränkungen der Ärzte am 13. De- zember 1922 ist er in den nächsten Tagen bester Laune, obwohl er kaum die Feder führen kann (15.

Dezember 1922) und neben rapiden Schwankungen im Befinden Ge- dächtnislücken und Konzentra- tionsmängel auftreten:

GESCHICHTE DER MEDIZIN

„Ich konnte ihn mehrere Tage hin- tereinander beim Diktat beobach- ten und habe dabei festgestellt, daß es ihm unangenehm ist, wenn man ihn mitten im Satz unterbricht, da er dann den Faden verliert,"

schreibt M. A. Woloditschewa (Le- nin-Werke, Ergänzungs-Band 1917-1923, Seite 511). Ist ihm bes- ser zumute, er ohne Stocken seine Sätze artikuliert und keine Korn- presse auf dem Kopf hat, wird es gebührend notiert (2. Februar 1923).

Nichtsdestoweniger schreitet der geistige Abbau in Form einer typi- schen Hirnleistungsschwäche fort, auch wenn am 4. Februar 1923 der

„deutsche Arzt (Foerster) ihm viele angenehme Dinge gesagt, Gymna- stik erlaubt und die Zeit zum Dik- tieren verlängert" hatte. Offensicht- lich täuscht sich Foerster bereits zu diesem Zeitpunkt grundsätzlich in der psychischen Verfassung sei- nes Patienten. Denn schon ab nächstem Tag merkt Lenin selbst seine Verlangsamung und verbalen Ausfälle (5. Februar), wie er vom Thema abschweift (6. Februar), nicht mehr mit dem geplanten Kon- zept für einen Artikel zu Rande kommt und perseveriert (7. Febru- ar).

Gewiß treten Scheinbesserungen auf: am Vormittag des 14. Februar 1923 fühlt er sich „vollkommen ge- sund". Am Abend jedoch ist der Überschwang verpufft, und der kranke Lenin bringt kaum noch ein Wort heraus. Leider sind nach dem 14. Februar nur zwei Eintragungen (5. und 6. März 1923) publiziert.

Nach dem weiteren bekannten Die Entarztung der Welt

muß, paßt nicht in das moderne Weltbild. Man will sie geschenkt bekommen. Wenn die Industriali- sierung übermäßig wird, wenn die Bequemlichkeit des Wohlstandes überhandnimmt, schrumpfen die gesunden Kräfte im Kampf ums Dasein. Die Lebensfreude wird durch erzwungene Inaktivität er-

stickt und die Leistungsfähigkeit und Leistungslust gelähmt. Das aber interpretiert Illich einseitig, ja fast monoman als das Werk der

„medizinischen Mafia". Krankhei- ten seien meist Entgiftungsvorgän- ge. Man solle sie nicht abtreiben wie eine ungewünschte Schwan- gerschaft. Der Arzt entmündige den Kranken, er mache ihn zu ei- nem Reparaturobjekt.

Illich versteigt sich nicht dazu, die moderne Heilkunde abzuschaffen.

Aber: „Die Gesellschaft, welche die Intervention der Professionellen auf ein Minimum beschränken kann, schafft die beste Voraussetzung für die Gesundheit." Außerdem werde die Schlachtung der heiligen Kuh, des jetzigen Gesundheitswe- sens, eine befreiende Signalwir- kung auf andere industrielle Sek- toren haben. Mich will auch Leh- rer, Priester, Rechtsanwälte, Inge- nieure und Parteibonzen expropri- ieren. Zum Glück also sind wir nicht die einzigen Übeltäter, aber die Hauptschuldigen bleiben wir doch.

Das Buch birgt eine Fülle von Un- gereimtheiten. Peinliche Halbwahr- heiten wechseln in bunter Reihe mit grotesken Ansichten ab. Bei dem heutigen Trend wird das Buch ein gefundenes Fressen für viele Zeitschriften sein. Trotzdem ist das Buch im positiven Sinne anstößig.

Es wird unzählige Diskussionen auslösen.

Diese kurze Vorankündigung soll uns zu Überlegungen anregen, in welcher Weise wirksam den meist maßlosen und von keiner Sach- kenntnis getrübten Vorstellungen Illichs entgegenzutreten ist.

Anschrift des Verfassers:

Dr. med. Bernhard Fleiß 6931 Neckarhäuserhof

Patient Lenin: ein Übermensch?

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 12 vom 20. März 1975 835

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Spektrum der Woche Aufsätze - Notizen Patient Lenin

Krankheitsverlauf wird allerdings kaum jemand eine Hebung des in- tellektuellen Niveaus erwarten.

Woher dann diese seltsame Fehl- einschätzung Foersters? Der be- kannte Lenin-Biograph Possony vermutet politische, Stalin willfähri- ge Naivität.

Wahrscheinlicher, und dafür spricht die obige Fehldiagnose, war er vorwiegend neurologisch- chirurgisch orientiert. Sonst hätte er sich des senil-dementen, des- orientierten, bettlägerigen Profes- sors entsonnen, der zwar die Kon- trolle über Blase und Darm verlo- ren hat, nichtsdestotrotz mit seinen Schülern die vertracktesten Proble- me der höheren Mathematik disku- tiert.

Gegen die intellektuelle und auch charakterliche Depravation infolge des Hirnprozesses ist Foerster kein guter Garant. Lenins engere Umge- bung weiß besser, wie es um seine geistige Potenz steht: man deklas- siert ihn posthum stillschweigend für unzurechnungsfähig.

Und damit sind wir bei dem von Trotzki hochgespielten „Testa- ment" angelangt — in vero näm- lich verheimlicht Stalin diesen

„letzten Willen" Lenins niemals vor dem Zentralkomitee. Unisono, in- klusive Trotzki verwirft das Füh- rungskollektiv die Ausführung die- ser Unmutsäußerung. Unisono wird deshalb Stalin, Lenin wie der le- benden Krupskaja zum Tort, auf seinem Posten belassen, ja zum Vollstrecker des Leninismus ge-

kürt (Stalin-Werke, Band 10, Seite 151).

Au fond ist Lenins Warnung vor Stalin, die mit Grobheit, Machtgier und riskanter Spaltung der Partei motiviert wird, eine aktivierte Remi- niszenz des eigenen Wesens aus dem Schisma von 1903 — man macht ihm damals die gleichen Vorwürfe —, auf Stalin übertragen.

In Lenins enzephalopathischer Psy- chopathologie dominiert die

organische Enthemmung,

welche seine Charaktereigentüm- lichkeiten hypertypisiert, ohne daß Alter oder Erfahrung, geschweige denn moralische Metanoia dämp- fen. Unter der Fassade von Bil- dung, Wissen und „guter Politur"

(Bumke, d. h. bürgerlicher Erzie- hung) ruiniert ein ethischer Abbau seine menschliche Matrix und treibt ihn ohne Besinnung in Terror, Ra- gen, Megalomanie, Superlativis- men, Katastrophenerwartung usw.

Demgegenüber spielt die Lues-Frage

eine sekundäre Rolle. Natürlich wäre ihre definitive Klärung wichtig

Professor Vogt

genug. Die arbiträre Verschleie- rung der Interessierten gestattet vorerst wenig Hoffnung. Untersu- chen wir, welche Gründe dafür sprechen:

Zuerst ist die Hinzuziehung der Sy- philisexperten Strümpell und Non- ne ein wichtiges Indiz. Ohne ent- sprechenden Verdacht wäre ihre Anwesenheit in den Augen der Par- tei eine überflüssige Diskriminie- rung.

Prompt stellt der russisch spre- chende Luesspezialist Strümpell am Krankenbett die klinisch „wahr- scheinlichste" Diagnose: „Endarte- riitis luetica" nicht nach bloßem Augenschein, sondern spezifischer Anamnese. Keiner der anwesenden russischen Ärzte protestiert. Wes- halb wird Strümpells klinischer Verdacht erst jetzt publik? Weil er dem Obduktionsbefund wider- spricht oder den geheimen Con- sensus omnium von Lenins Krank- heit bestätigt?

Entkräftet vielleicht die „allgemei- ne Arteriosklerose" in tabula die Syphilis in vivo? Etwa deswegen, weil man sich auf bloße makro- skopische Inspektion beschränkte?

Warum unterschlägt man die ge- läufige, in jedem Lehrbuch behan- delte Kombination von Syphilis und sekundärer Sklerose? „Daß bei der Lues cerebrospinalis Gefäßprozes- se beobachtet werden, die in kei- ner ihrer morphologischen Einzel- heiten von sicher luesfreien Arte- riosklerosen abweichen"? (0.

Stochdorph in: Handbuch der spe- ziellen pathologischen Anatomie und Histologie XIII 1, Seite 1504 und E. Sträußler in: XIII 2, Seite 917, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1958).

Weshalb kennen wir nur die Fabel Vogts seiner extraordinär großen Ganglienzellen der dritten Schicht, aber sonst kein Tüttelchen der üb- rigen Architektonik oder gar patho- logischen Alterationen? Vogt über- liefert dazu nur ein dürftiges Sche- ma aus einem winzigen Bereich des zweiunddreißigtausendmal mi- krotomierten Hirns, ohne Gefäße, ohne Glia.

Gegenüber Strümpells „Endarteri- itis luetica" ist der negative Blut- WaR- und Liquorbefund bedeu- tungslos. Abgesehen davon, daß die damaligen Liquor- und Serore- aktionen zu wenig empfindlich wa- ren, ist ja Lenin sicherlich behandelt worden. Bekanntlich schmolzen sogar die zerebralen Gummen unter konsequenter Ka- liumjodat-Zufuhr, und just seine Pneumonie wie die anschließen-

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen

Patient Lenin

de chronische Gastroenteropathie könnten Nebenwirkungen intensi- ver antiluetischer Medikation ge- wesen sein. Lenins Angst vor Para- lyse, die Shub, Mitglied der sozial- demokratischen Partei Rußlands seit 1903, berichtet, rührt doch nicht von ungefähr.

Und welch ein Zufall: Akkurat im zeitlichen Zusammenhang mit der Analyse von Lenins Hirn startet eine Sowjet-Syphilis-Expedition, um die Eigentümlichkeiten der Lues in seiner näheren Heimat zu studieren. Noch ein Zufall: ihre Er- gebnisse liegen bis heute unter Verschluß.

Daß man kaschierte, belegt das Versäumnis der makro- wie mikro- skopischen Hodeninspektion. Was für eine seltsame Gleichgültigkeit angesichts seiner Infertilität. Belegt weiter das eigenartige Desinteres- se an seinem Augenbefund. Weder Bulbus noch Opticus werden nähe- rer Betrachtung gewürdigt.

Ist Lenins Lues nicht allgemeine Überzeugung? Trotzdem begnügen sich die Experten mit einer derart oberflächlichen Bestandsaufnah- me, daß der gesamte wissenschaft- liche Aufwand retrospektiv zur Far- ce wird, zu einer Prodromal- erscheinung der Moskauer Schau- prozesse unter Stalins Regie.

Warum löst Vogt sein Wort von der Verantwortung „der ganzen Welt gegenüber" nicht ein und vergat- tert vielmehr seine Mitarbeiter auf strengste „Loyalität", nicht der ganzen Welt, sondern den Sowjets gegenüber, wenn sie aus dem Mos- kauer Hirnforschungsinstitut be- richten wollen?

Die Schlampereien und die Fälschungen

Schludern im Detail, Fälschungen im großen Stil stehen Pate bei Le- nins Apotheose. Der „Spiegel"

sucht bei Lenin die „Entfremdung"

vergeblich, obwohl sie mindestens fünfmal in „Staat und Revolution"

vorkommt. Der große Psychiater

Bumke schilt die russischen Kolle- gen des medizinischen Oblomowis- mus — ohne Ahnung von der roten Realität. Foerster entdeckt in ihm den politischen Supermann und vergißt, daß sein Übermensch gan- ze vier Jahre bei besserer Verpfle- gung und mehr Erholung als seine Mitmenschen im Amt war. Laut Nonne ist „von Lues keine Rede"

und 1974 taucht Strümpells Endar- teriitis luetica auf. Sauerbruch will dem armen Revolutionär in der Schweiz — gratis versteht sich — einen Zahn gezogen haben, dabei war a) der Erzexpropriateur kei- neswegs mittellos und b) ist die Story laut Gautschi erfunden, weil die beiden sich gar nicht getroffen haben können (Will Gautschi, Le- nin als Emigrant in der Schweiz, Zürich, 1973).

Gorki macht aus dem „berechnen- den Betrüger" von 1917 nach 1924 ein Allround-Genie und einen Kin- derfreund dazu, auch wenn Lenins alter Genosse Lepeschinski selbst im Nekrolog dessen Abnei- gung gegen die lieben Kleinen aus- drücklich hervorhebt.

Als Nonplusultra krönt Vogts „As- soziationsathlet" diese „Mauso- leumsgeschichtsschreibung" der Falsi- und Mystifikation. Kennt der Hirnforscher gleich den deutschen Diplomaten, die Lenin nach 1917 vom „kalten Bluthund" zum „hohen Idealisten" — was für ein Wider- spruch, welch eine Inkompatibilität

— avancieren lassen, seine Werke etwa nur vom Hörensagen? Sonst hätte weder er noch Foerster oder sonst wer Schläue und Raffinesse mit „Geistesgröße" und Gedanken- reichtum, hirndefekte enthemmte Brutalität nicht mit politischer Weisheit, seine Depression nicht mit Überarbeitung usw. verwechselt.

Auf gleicher Linie bewegt sich jene Argumentation, die Hirnatrophie mit der völlig destruierten linken Hemi- sphäre als unwesentlich für Lenins

„moral insanity" zu bagatellisieren, demonstrierten doch zeitgenössi- sche Radikalinskis Lenins Brutali- tät ohne jedes Anzeichen zentral- nervöser Ausfälle — eine homöo- pathische Simplifikation, die bei si-

Lenin in seinem Arbeitszimmer im Kreml (Oktober 1918)

milibus similia voraussetzt und die Psychiatrie der Hirnleiden auf den Kopf stellt: die totale oder partielle Nivellierung des Individuums auf ein primitiveres Niveau. Schließt diese Erfahrung etwa das Vorkom- men solcher — autochthonen — Primitivität ohne zerebrale Läsion aus, oder benutzen wir umgekehrt nicht gerade die Schablonen der Verhaltensradikalen als Parameter?

Der Medizin stünde bei der Verklä- rung Lenins zum „Prometheus des 20. Jahrhunderts" der Advocatus diaboli besser zu Gesicht denn die- ses Larvieren mit pseudodementer Sophistik, Halbwahrheit bis zum plumpen Schwindel? Als ob es nie den Fall Nietzsche gegeben hätte.

Und welche verblüffende Akribie, den „großen Psychiater", Bumke zum Zeugen für Lenins „Geistes- größe" zu machen (Kuhlendahls Leserbrief, FAZ vom 8. April 1974), obwohl dieser sich jedes „eigenen Urteils" enthält, weil Lenin schon zu krank war (Oswald Bumke, Erin- nerungen und Betrachtungen, Mün- chen 1952, Seite 109/110)?

Wesensänderungen der Epileptiker Daß sogar bei Hirnkranken ohne morphologische Veränderungen DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 12 vom 20. März 1975 837

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen

Patient Lenin

von der Schwere in Lenins atrophi- schem Organ erhebliche Charak- terveränderungen manifest werden, sei aus einer zeitgenössischen Ar- beit zitiert, die nicht nur Überein- stimmung mit Lenins Symptomatik exemplifiziert, sondern auch den Einwand gleicher Anomalie bei Ge- sunden entkräftet: Die Ein- zelerscheinung gewinnt im Ensem- ble mit anderen ganz im Sinne des Diamats (dialektischer Materialis- mus) vom Umschlag der Quantität in Qualität Bedeutung und Prä- gnanz. Zitat:

„Im Laufe der Erkrankung kommt es bei den Patienten zu einer Än- derung der Reaktionsweisen, die den Persönlichkeitskern immer mehr miteinbeziehen und. zu einem mehr oder weniger erstarrten Hal- tungsgefüge mit vermindertem Freiheitsgrad führen. Die vielfälti- gen, differenzierten und nuancier- ten Facetten der ursprünglichen Persönlichkeit gehen verloren. Be- sonders die Möglichkeiten im zwi- schenmenschlichen Bezug werden eingeengt und durch gleichsam fertigintegrierte Verhaltensmuster ersetzt. Als Konsequenz hieraus er- gibt sich eine stärkere Polarisie- rung der psychischen Akte mit Fehlen der Zwischentöne. Deshalb imponiert das ,Gehabe' der Epilep- tiker unnatürlich, übertrieben, thea- tralisch.

Von oben nach unten: Lenin auf der Höhe seiner Macht (1922) — Dieses Bild einer depressiven Krise des 44jährigen illustriert seinen Zustand von 1908: „Ich habe das Gefühl, als ob wir hierher ge- kommen sind, um uns ins Grab zu le- gen." (Krupskaja, Erinnerungen, S. 183)

— Und hier das gleiche Konterfei aus den Lenin-Werken, Band 20. Für die Herausgeber ist die melancholisch ver- zweifelte Facies ein offenkundiges Är- gernis. Also versuchen sie die Mimik — die hängenden Mundwinkel werden durch zusätzliche Schnauzhaare von oben verdeckt und die steilen Nasen- wurzelfalten gemildert — mittels Re- tusche aufzuhellen. Im übrigen sind die Lidspalten gleich weit — Die linke Lid-Spalte ist enger als rechts. Der linke Bulbus ist nach innen gerichtet

Fotos: Ullstein

Die Charakterisierung des Epilepti- kers zeigt dies deutlich: wider- sprüchliche Verhaltensweisen wie Eigensinn — abnorme Beeinfluß- barkeit; ausgeprägtes Autoritätsge- fühl — Abstandslosigkeit, Aufdring- lichkeit und unangebrachte Ver- traulichkeit; devote Süßlichkeit — feierliche Gemessenheit; betonte Höflichkeit — hemmungslose Rücksichtslosigkeit bis zur Brutali- tät; Überheblichkeit — Unterwür- figkeit; hypersoziales Verhalten — asoziales Verhalten.

Sieht man in diesen Widersprüch- lichkeiten nicht das Krankhafte, sondern das Unaufrichtige, Heuch- lerische, Bigotte, so wird der be- rühmt gewordene Ausspruch von Samt von den ,armen Epilepti- schen, die das Gebetbuch in der Tasche, den lieben Gott auf der Zunge und den Ausbund von Ca- naillerie im Leibe tragen' verständ- lich. Auch im Psychischen setzt sich die Tendenz, wie in der Krampfentladung zum ,Alles oder Nichts' durch.

Bleuler beschreibt die Affektivität folgendermaßen: emotionelle Wal- lungen und Stimmungen werden krankhaft stark, dauern krankhaft lang und sind schwerer als beim Gesunden durch Einflüsse von au- ßen zu unterbrechen. Dies gilt nicht nur für die Reizbarkeit, son- dern auch für die Freude. Hier klingt bereits die Neigung zu reten- tiven Tendenzen auf, wie sie Bräu- tigam in seiner Strukturanalyse von tiefenpsychologischem Aspekt her in ihrer Beziehung zu aggressiven Tendenzen in einen Zusammen- hang gebracht hat. Er zeigt auf, daß das hypersoziale Gebaren als eine kompensatorische Reaktions- bildung auf unbewußte, überwertig- aggressive Antriebe zu verstehen ist.

Bräutigam vermutet, daß das Aus- maß der Wesensänderung zum Grad der aggressiven Kräfte einer- seits und dem Grad der Verdrän- gung andererseits in einem Ver- hältnis steht. Die Unausgeglichen- heit des affektiven Lebens spiegelt so die ambivalenten Tendenzen

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Spektrum der Woche Aufsätze - Notizen Patient Lenin

zwischen der ,Lust`, gut, und der ,Lust', böse zu sein, wider. Gerade letzteres ist eine besondere Bela- stung für die Umgebung, aber auch für den Patienten selbst, der diesen hintergründigen Widerspruch ah- nend erlebt und erleidet." (B. Frie- del: Die Epilepsien, in Lexikon der Psychiatrie, hg. Christian Müller, Berlin/Heidelberg/New York 1973, Seite 188/189)

Exitus im Status epilepticus Darf man Lenin mit Epilepsiekran- ken vergleichen? Laut Foerster, der das Geheimnis seinen Kollegen verriet, laborierte sowohl Lenin wie auch sein Vater an generalisierten Krampfanfällen. Da epileptiforme Paroxysmen bei Zerebralsklerosen äußerst selten (0,4°/o) vorkommen

— was Foerster sicher geläufig war — und wie gesagt Bechterew en bloc Lenins Leiden auf genuine Epilepsie deduziert, ergeben sich neue unerwartete Aspekte.

Wenn dazu noch der Nachfolger Vogts am Moskauer Hirnfor- schungsinstitut, Lenins persönli- cher Betreuer V. P. Ossipow, den deutschen Neurochirurgen Lügen straft und statt geistiger Vitalität ein psychophysisches Wrack mit Weinkrämpfen seit Ende 1922 prä- sentiert, das außerdem gegen den kettenrauchenden, nervösen, deut- schen Professor eine wachsende Aversion entwickelt, dann nimmt sich Foersters Laudatio über Le- nins intellektuelle Superiorität trotz hochgradiger Hirnatrophie wunder- lich genug aus. Aber hatte nicht Foerster die ominöse „Abnützungs- sklerose" Semaschkos, diese Au- genwischerei fürs gemeine Volk, legalisiert, also jenen spektakulä- ren Bluff mitinszeniert, welcher die Welt von dem materialistischen Junktim: destruiertes Hirn — politi- sches Chaos ablenken sollte?

Es hieße die deutsche Wissen- schaft beleidigen, dem an dit zu glauben, die Sowjets hätten sich mit Honoraren von 30 000 Gold- mark pro Arzt die medizinische Kooperation gesichert.

Nichtsdestoweniger steht neben der „Abnützungssklerose" die Fa- bel vom Ende infolge Hirnblutung im Raum. Folke Henschen aus Stockholm, dem letzten lebenden Arzt Lenins, ist die Richtigstellung der „Abnützungssklerose': wie der bereits von Bucharin angedeutete Exitus im Status epilepticus zu ver- danken (FAZ v. 13. V. 1974).

Bleibt die Frage nach der Ätiolo- gie. Ein Medizinalverbrechen, das manche im Hinblick auf die schon unter Lenin hypertrophierende, durch Stalin zum Perfektionismus getriebene Polit-Paranoia diskutie- ren, benötigen wir kaum zur Erklä- rung für Lenins angesichts dieser Vorgeschichte durchaus plausiblen Verfall.

Ein Fazit: „...spezifisch ..."

Die mannigfaltigen körperlichen und seelischen Alterationen ä la Possony symptomatologisch und willkürlich unter Zyklothymie plus Arteriosklerose plus Neurose plus Mutterbindung plus Hyposexualität usw. zu rubrizieren taugt wenig.

Ungezwungen wäre der gesamte Komplex konstanter wie wechseln- der und wandelnder Erscheinun- gen einer schleichend beginnen- den Lues cerebri — nicht Paralyse!

— und ihrer nebenwirkungsreichen Therapie bei hereditärer Arterio- sklerose und Epilepsie zuzuordnen.

Wer dagegen die negativen Befun- de im Blut (WaR) und Liquor (Sachs-Georgi) — an sich kein Ge- genindiz versus alte Syphilis nach diversen Kuren — beschwört, wird mit folgendem reichhaltigen patho- gnomonischen Sortiment konfron- tiert:

Frühkindlicher Entwicklungsrück- stand,

eine — väterlicherseits vererbte?

— verzögerte Sprachentwicklung, Pneumonie,

3) Leserbrief der Strümpell-Tochter, Frau Dr. Klaphek, Düsseldorf, in der Frank- furter Allgemeinen Zeitung vom 5. April 1975.

Zoster-Psychose, Schädeltraumen,

epileptische Anfälle (väterliche An- lage),

narkoleptische Anfälle, Attentat-Schußverletzung, Kugelexstirpation,

Therapieschäden (Jod, Chinin, Kampher),

larvierte Depressionen, maniforme Krisen,

Augenlidlähmung und praktische Blindheit links,

„moral insanity",

vorzeitige Arteriosklerose (väterli- che Belastung),

hirnatrophischer Prozeß infolge eminenter Zerebralsklerose mit in- tellektuellem Verfall,

apoplektische Insulte, Hemiplegie und Aphasie, finaler Status epilepticus.

Last not least frappiert noch ein medizinisches Rätsel: Warum wohl setzte man Lenin 1922/23, stand die Lues außer Debatte, unter eine ebenso spezifische wie toxisch nicht irrelevante Jod-Salvarsan- Kombination? Weshalb wider- sprach niemand, nicht einmal der Patient, dieser Medikation?

Wieso wird diese Behandlung bis heute vertuscht? Nicht von unge- fähr mokiert sich der gern in Dia- mat-Sophistik brillierende Trotzki in seinem „Jungen Lenin" über die Adepten der „Mausoleumsge- schichtsschreibung", welche der Kanonisierung halber die Fakten korrigieren. Heischte er doch selbst von den ausländischen Ärz- ten ein striktes Schweigegelöbnis betreffend Lenins Krankheit.

Deswegen kommt erst jetzt Strüm- pells Therapie-Anweisung für die wahrscheinliche „Endarteriitis lue- tica" ans Tageslicht: „...Behand- lung kann nur spezifisch sein

....3) .

Anschrift des Verfassers:

Dr. med. Günter Hesse 75 Karlsruhe

Hans-Thoma-Straße 15 a DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 12 vom 20. März 1975 839

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