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Archiv "Patient Lenin ein Übermensch?: „Ich stand daneben“" (13.11.1975)

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen FORUM

„Ich stand daneben"

Wie ich in meiner Autobiographie („Werdegang und Lebensweg ei- nes Pathologen", Stuttgart, Schat- tauer-Verlag 1972) berichtet habe, war ich als Stipendiat der Notge- meinschaft der Deutschen Wissen- schaften in den Jahren 1929/30 als Abteilungsleiter an dem Institut tä- tig, in dem man das Gehirn Lenins histologisch untersuchte. Die lük- kenlose Schnittserie wurde in ei- nem gutbewachten Panzerschrank aufbewahrt, die Beurteilung der Schnitte erfolgte unter der Leitung von Professor Oskar Vogt. Der weltberühmte Pathologe Ludwig Aschoff erbat sich bei einem Besu- che in Moskau im Frühjahr 1930 die Erlaubnis, einige dieser histolo- gischen Präparate mikroskopisch untersuchen zu dürfen, war doch auch damals schon das Gerücht verbreitet, daß Lenin einer Lues des Gehirns erlegen wäre. Man stellte daraufhin Aschoff Schnitte zur Verfügung, die er im Institut selbst untersuchte. Mich, der ich da- bei neben ihm stand, ließ er immer wieder einen Blick in das Mikro- skop tun. Seine Diagnose war ein- deutig: schwere zerebrale Gefäß- sklerose mit nachfolgenden fri- schen und älteren enzephalomala- zischen Herden; für eine Lues fand er weder im Gehirn noch an den Gefäßen irgendeinen Anhalts- punkt.

Mit anderen Worten: Er bestätigte vollinhaltlich die pathologisch- anatomische Diagnose des Sek- tionsbefundes. Damit ist allen auf klinische Krankheitszeichen ge- stützten Vermutungen über eine Gehirnlues bei Lenin endgültig der Boden entzogen. Man wird sich also um eine andere Erklärung der

„Symptome" bemühen müssen.

Man könnte sich fragen, wieso es zu der immer wieder auftauchen- den Vermutung einer syphilitischen Gehirnerkrankung bei Lenin ge- kommen war. Wenn man von der politisch motivierten Absicht ab- sieht, den Gründer einer welter- schütternden Bewegung als gei- steskrank hinzustellen, dürfte hier auch ein sprachlich bedingter Irr- tum eine Rolle spielen. Im Engli- schen bezeichnet man nämlich Lähmungen, wie sie bei Lenin infol- ge von Gehirnerweichungen aufge- treten waren, schlechtweg als „Pa- ralysis". Wenn man aber im Deut- schen von einem Patienten sagt, er leide an einer Paralyse, dann den- ken wir in erster Linie an die lui- sche progressive Paralyse. So kommt es, daß man auch dem amerikanischen Präsidenten W.

Wilson, der ebenso wie Lenin an einer zerebralen Sklerose mit ent- sprechenden Lähmungen (Paraly- se) litt und ihr erlag, eine Syphilis des Gehirns andichtete (A. Braun:

Krankheit und Tod im Schicksal bedeutender Menschen. II. Aufl.

Encke-Verlag Stuttgart, 1940).

Professor

Dr. med. Dr. med. h. c.

Herwig Hamperl Pathologisches Institut der Universität

53 Bonn 1

II. Niveaulos

Mit Erstaunen habe ich Ihre weit- schweifige Wiedergabe der Überle- gungen des Herrn Dr. med. Günter

Hesse zur Kenntnis genommen. Aus der Obduktion der Leiche Lenins ha- ben Sie im vergangenen Jahr aus- reichend gesicherte Befunde mit- geteilt. Daß Sie sich nunmehr be- reitfinden, die niveaulosen und vul- gär-medizinischen Spekulationen

des Herrn Hesse zur Schau zu stel- len, fordert meinen Protest heraus.

Es gibt wohl nur wenige herausra- gende Persönlichkeiten, denen nicht von Widersachern veneri- sche oder hirnorganische Erkran- kungen nachzusagen gesucht wur- de. So unternimmt denn auch Herr Hesse den einfachen Versuch, durch Verunglimpfung einer Per- son deren Lebenswerk als Aus- druck eines Krankheitsgeschehens zu deuten. Eine primitivere Form des Antikommunismus, speziell des Antileninismus, haben selbst die Redakteure des „Stürmer" nicht zuwege gebracht. Bedenklich scheint mir hier jedoch, daß ein Arzt sich dafür hergibt, aus vagen fremdanamnestischen Angaben zu Verdachtsdiagnosen zu gelangen, die an Perfidie schwerlich zu über- bieten sind. Differentialdiagnosti- sche Überlegungen scheinen dem Herrn Hesse allgemein zu mühe- voll, er entscheidet sich in der Re- gel für die Möglichkeit, die am mei- sten Infamie zu enthalten scheint.

Es geht mir nicht darum, die Spe- kulationen des Herrn Hesse zu fal- sifizieren, wozu ja eine Anglei- chung an sein Niveau Vorausset- zung wäre, sondern darum, sein Verhalten als unärztlich und uneh- renhaft bloßzustellen. Ferner ist es mehr als 50 Jahre nach dem Tode von Lenin weitgehend bedeutungs- los, ob es sich um eine epilepti- sche, manisch-depressive, paralyti- sche oder wie auch immer hirnor- ganisch alterierte Persönlichkeit gehandelt hat oder nicht. Von der Intaktheft der intellektuellen Fähig- keiten Lenins kann sich heute noch jeder überzeugen, der seinen schriftlichen Nachlaß zu lesen be- reit ist. So ist z. B. das Werk „Ma- terialismus und Empiriokritizismus, Kritsche Bemerkungen über eine reaktionäre Philosophie", Bd. 14 der Werke W. I. Lenin, wie alle anderen Veröffentlichungen an- schauliches Beispiel einer kriti- schen Reflexion der bestehenden Philosophie und ein konstruktiver Beitrag zu einer neuen materialisti- schen Interpretation der Gegen- wart.

Patient Lenin

ein Übermensch?

Zu dem Artikel von Dr. med. Günter Hesse in Heft 10/1975, Seite 682

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 46 vom 13. November 1975 3205

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen Patient Lenin

Man merkt die Absicht, und man wird verstimmt — die trüben politi- schen Motive des Herrn Hesse soll- ten auch der Redaktion nicht ent- gangen sein, und mir bleibt zu wün- schen, daß sich das DEUTSCHE ÄRZTEBLATT zukünftig für derar- tig niveaulose pseudomedizinische Beiträge zu schade sein wird.

Thomas Weinert Medizinalassistent 1 Berlin 21

Lübecker Straße 45

111. Zeugnis von Nonne

Der Aufsatz regte mich zum Nach- denken an, weil ich als damaliger Mitarbeiter von Prof. Pette (Ham- burg-Eppendorf, Schüler von Prof.

Max Nonne) Herrn Prof. Nonne kennenlernte und insbesondere im April/Mai 1949 an einer 14tägigen Arbeitstagung im Hause von Dr.

Evers in Hachen zusammen mit Herrn Prof. Nonne teilnahm (es ging um die multiple Sklerose). Ich war wie Herr Prof. Nonne im Hause von Dr. Evers untergebracht (er wegen Ehrwürdigkeit, ich wegen Geldmangels als junger Assistent).

Dabei ergaben sich abends lange Gespräche.

Prof. Nonne hat bekanntlich 1923 an der Behandlung Lenins in Mos- kau teilgenommen. 1949 hat er mir und anderen ärztlichen Zuhörern über die Behandlung Lenins einge- hend berichtet. Ich erinnere mich an viele Einzelheiten, möchte aber der gebotenen Kürze wegen nur zwei Gesichtspunkte mitteilen.

Ich stellte Herrn Prof. Nonne ver- schiedene Fragen, deren Inhalt sich durch Gerüchte erklärte, die mir als Student zu Ohren gekom- men waren.

0 Litt Lenin an einer syphiliti- schen Hirnerkrankung? Prof. Non- ne hat diese Frage entschieden verneint. Entsprechende Gerüchte entbehrten jeder Grundlage. Es habe sich um eine Hirnarterioskle- rose gehandelt. (Dies ist deshalb besonders wichtig, weil Nonne — Verfasser der bekannten Monogra-

phie „Syphilis und Nervensystem"

— zur damaligen Zeit als europäi- sche, vielleicht weltweit als die Ka- pazität auf dem Gebiet der Hirnlu- es galt).

Haben Sie Lenin zisternal punk- tiert? Auch diese Frage verneinte Nonne und berichtete im einzelnen, daß die zugestandenen Untersu- chungsgänge sehr dürftig waren.

Wer Nonne gekannt hat weiß, daß es sich um einen furchtlosen, kom- promißlos logisch denkenden, lei- denschaftlichen Wissenschaftler gehandelt hat, dessen Worte Ge- wicht haben.

Dr. med. Otto Wullstein Facharzt für Neurologie und Psychiatrie

287 Delmenhorst Lange Straße 85/86

I. Schlußwort

Wir zweifeln natürlich — trotz kom- munistischem Moralkodex im Um- gang mit Kapitalisten, famoser Ly- senko-Genetik, phantastischer Re- generationserscheinungen an des Meisters Mumie, trotz Schaupro- zessen usw. usw. — keinen Augen- blick, daß Aschoff und Hamperl tat- sächlich Lenins Enzephalon und nicht irgendeines unverdächtigen Potemkins aus der zu Vergleichs- zwecken eigens angelegten Hirn- sammlung untersuchten. Es war ja leicht an den Superganglien der dritten Schicht zu identifizieren, auch wenn die Schnitte dem Ver- nehmen nach ziemlich dilettantisch präpariert waren.

Bloß: Wieso vermeldet Hamperl noch in seinem „Werdegang und Lebensweg eines Pathologen"

(Stuttgart — New York 1972, S.

102)• 31 - Lenin hatte ja mehre- re Schlaganfälle erlitten, auch Lues wurde erwogen ... " und nichts von der definitiven Klärung, ge- schweige seiner persönlichen Be- teiligung daran? Demnach wäre Lenin zu allem übrigen ein Hypo- chonder par excellence und die Lues-cerebri-in-vivo-Diagnose des ganzen illustren Gremiums schiere Scharlatanerie.

Ansonsten scheint das Psychokli- ma des Moskauer Hirnforschungs- Instituts wissenschaftlicher Red- lichkeit nicht gerade zuträglich ge- wesen zu sein: Hamperl zufolge

„verkündet" Vogt den „Assozia- tionsathleten" und sein Elite-Enze- phalon, weil er die Sowjetpression nicht verkraftet, und unterwirft sich seinem Posten zuliebe beflissen einem Examen in dialektischem Materialismus (ebd. S. 104). Wenn Vogt wirklich sine bona fide die anatomische Verklärung zelebriert, dann kann man über dieses Kapitel die Akten schließen.

Dagegen ist das Plazet zur Lues von seiten des Patienten wie der gesamten Equipe — Frau, Schwe- ster, ärztlicher Bruder, Sowjetfüh- rung einschließlich Stalin, Trotzki, Mediziner Semaschko und russi- schen Ärzten — jedenfalls nicht mehr aus der Welt zu schaffen.

Über die kollektive Luophobie, ihre historische, soziologische, religiö- se und politische Pathogenese kann ich mich hier nicht äußern.

In puncto Lenin ist die Sache ein- fach — er persönlich prophezeit seine „Paralyse", nicht „Läh- mung", während in Übereinstim- mung damit die öffentliche Mei- nung Rußlands nur ihn und keinen anderen, zeitweise viel prominente- ren bzw. verhaßteren Führer

—Trotzki, Dsershinski, Sinowjew, Swerdlow, Radek, Mme. Kollontai, Stalin usw. — der Syphilis bezich- tigt (George Popoff, „Ich sah die Revolutionäre", Bern 1967, S. 170 u. a. 0.; Nikolaus von Sementow- ski-Kurilo — persönliche Mittei- lung).

Schließlich besteht auch darin gar nicht der neuropsychiatrische Eklat: Die zerebralen Krampfanfäl- le bei hereditärer Belastung, Hirn- schrumpfprozeß, Hypertypisierung usw. usw. sind die Pointe. Und daß man einen Anfallskranken mit Kampfer traktiert.

Zu der „Kritik"

des Herrn Weinert

Anscheinend hat er seines Mei- sters „Materialismus und Empirio-

3206 Heft 46 vom 13. November 1975 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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