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Archiv "Ambulante Pflege: Kein Geld für Menschlichkeit" (05.08.2002)

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prechzeit ist werkstags zwischen zehn und zwölf. So lange konnte die alte Dame auf dem Anrufbeantwor- ter nicht warten. „Ich habe Hunger“, beklagt sie sich. Das Abendessen der pflegebedürftigen Diabetikerin ist schon seit Stunden überfällig. Ihr Be- treuer hat sie vermutlich versetzt. Der Anrufbeantworter steht im Büro von Gabriele Tammen-Parr. Die Sozial- pädagogin ist Leiterin von „Pflege in Not“, einer Beratungsstelle des Diako- nischen Werkes in Berlin, die Hilfe bei Problemen in der Pflege älterer Men- schen anbietet. Es kommt nicht sehr oft vor, dass betroffene Patienten selbst zum Hörer greifen. Meistens sind es Fa- milienangehörige, die über Missstände oder sogar über Gewaltanwendung bei der Pflege ihrer Verwandten klagen.

Manchmal rufen auch Pfleger an, die mit ihrer Aufgabe überfordert sind und sich einfach einmal aussprechen wollen.

Spuren von Vernachlässigung

Berichte in den Medien über katastro- phale Qualitätsmängel häufen sich und lassen die ambulante Pflege in einem schlechten Licht erscheinen. „Exitus durch Vernachlässigung“ titelte der

„Spiegel“ bereits 1999 und schilderte den Fall einer vom Pflegedienst betreu- ten Seniorin, die abgemagert und mit Druckgeschwüren in die Klinik kam und wenig später starb. Der Fall löste ei- ne heftige Debatte über Qualitätsdefi- zite in der häuslichen Pflege aus. Geän- dert hat sich seither wenig. Das be- stätigt Prof. Dr. med. Klaus Püschel, Di- rektor des Instituts für Rechtsmedizin an der Universitätsklinik Hamburg:

„Immer wieder diagnostizieren Ärzte Spuren von Vernachlässigung bei älte- ren Menschen.“ Dazu zählten Druck-

stellen, Austrocknungserscheinungen, aber auch Einsamkeit und seelische Probleme. Die Schnittstelle zwischen Pflege und medizinischer Versorgung müsse dringend verbessert werden. Ei- ne engere Zusammenarbeit beider Be- reiche sei nötig, empfiehlt der Rechts- mediziner.

„Bei ‚Pflege in Not‘ gehen monatlich über 100 Anrufe ein – Tendenz steigend“, berichtet Frau Tammen-Parr. Kritisiert würden insbesondere unpersönliche

Behandlung, schlechte Qualifizierung der Mitarbeiter, mangelnde personel- le Kontinuität und unzureichende Deutschkenntnisse. Trotzdem warnt die Sozialpädagogin vor einer pauschalen

„Kriminalisierung“ der Pflegedienste.

Tammen-Parr: „Die Kritik spiegelt weitgehend strukturelle Probleme wi- der.“ Wirtschaftliche Zwänge führten

zu einem enormen Zeitdruck für die Pfleger. Zudem seien die Dienste häu- fig hoffnungslos unterbesetzt. Dies be- stätigt eine jetzt veröffentlichte Studie des Deutschen Instituts für angewandte Pflegeforschung (dip), wonach über 40 000 Stellen im gesamten Pflegebe- reich unbesetzt seien.

In der ambulanten Pflege sind schät- zungsweise 16 000 Stellen offen. Auf dem Arbeitsmarkt sind arbeitssuchen- de Pflegefachkräfte selten geworden.

Mit einer Arbeitslosenquote von nur 2,8 Prozent in diesem Sektor (bei fallen- der Tendenz) scheint auch künftig keine Besserung in Sicht. Deutschland steue- re auf einen „Pflegekollaps“ zu, warnt deshalb Prof. Dr. Frank Weidner, Direk- tor des dip und Projektleiter der Studie.

Schon jetzt würden Pflegeeinrichtun- gen eine schlechter werdende Qualifi- kation bei Bewerbern beklagen. In den letzten zwei Jahren sei der Anteil der Einrichtungen, die keine geeignete Be- werbung für die Be- setzung einer Stelle ausmachen konnten, von 10,1 auf 21,1 Prozent gestiegen.

Andrea Kapp, ge- sundheitspolitische Sprecherin des Bun- desverbands Ambu- lante Dienste, gibt sich trotz allem über- zeugt, dass die über- wiegende Zahl der Pflegedienste sorg- fältig und gewissen- haft arbeitet. Regel- mäßig kontrolliere der Medizinische Dienst der Kranken- kassen (MDK) die Dienste. In ihrem Bereich habe der MDK in den letzten zwei Jahren keinen Pflegefehler nach Überprüfungen nach- weisen können. Zwar gebe es Probleme – einseitige Schuldzuweisungen seien aber nicht angebracht, so Kapp. Viel- mehr müsse in der Diskussion über die Qualität der häuslichen Pflege auch die unzureichende Finanzierung dieses Be- reichs einbezogen werden. Wegen der gedeckelten Budgets reiche das Geld aus der Pflegeversicherung hinten und vorne nicht. Die Leistungen der häusli- chen Krankenpflege (unter anderem P O L I T I K

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A2084 Deutsches ÄrzteblattJg. 99Heft 31–325. August 2002

Ambulante Pflege

Kein Geld für Menschlichkeit

Patienten fordern mehr Zuwendung und Pflegedienste eine bessere Bezahlung. Die Ursachen für Qualitätsdefizite in der Pflege sind vielfältig.

Pflege in Not, Diakonisches Werk Berlin Stadtmitte e.V., Zossener Straße 24, 10961 Berlin, Tel.: 0 30/69 59 89 89, E-Mail: pflege-in-not@dw-stadtmitte.de

Deutsches Institut für angewandte Pflegeforschung e.V., Internet: www.dip-home.de, E-Mail: info@dip-home.de

Druckstellen, Austrocknungserscheinungen, aber auch Einsamkeit können Folgen von Vernachlässigung in der Pflege sein. Foto: epd

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Deutsches ÄrzteblattJg. 99Heft 31–325. August 2002 AA2085

Verbandwechsel, Injektionen, Dekubi- tusbehandlung) würden trotz ärztlich attestierter Notwendigkeit bürokrati- schen Prüfverfahren unterworfen und den Patienten immer häufiger verwei- gert. Infolgedessen seien die Ausgaben in der häuslichen Krankenpflege in den vergangenen Jahren ständig gesunken und befänden sich trotz steigender Lei- stungsfälle heute noch unter dem Ni- veau von 1995. Kapp: „Die Pfleger wer- den vor Ort mit den Problemen allein gelassen und erbringen immer wieder Leistungen, die ihnen nicht honoriert werden.“ Glaubt man den Krankenkas- sen, sieht die Realität anders aus: Oft- mals würden Leistungen abgerechnet, die nie erbracht wurden, klagen sie.

Seit Einführung der Pflegeversicherung sind nicht nur zahlreiche Pflegedienste wie Pilze aus dem Boden geschossen.

Seither häufen sich auch Meldungen über Abrechnungsbetrügereien.

Hausärzte sensibilisieren

Gabriele Tammen-Parr sind Beschwer- den über angeblich fehlerhafte Abrech- nungen nicht fremd. Alte Leute könn- ten oftmals gar nicht mehr nachvollzie- hen, was alles abgerechnet werde. Ver- allgemeinern will sie aber auch hier nicht. Schwarze Schafe gebe es in jeder Branche. Gleiches gelte für Qualitäts- defizite in der Pflege. Trotzdem – wenn es zu schwerwiegenden Versäumnissen in der Versorgung komme, müsse ge- handelt werden. Hier seien auch An- gehörige, Sozialarbeiter und Ärzte ge- fordert. Zu häufig würden blaue Flecken oder Verwahrlosungserschei- nungen bei alten Menschen übersehen.

Bisher hätten sie Ärzte nicht unter- stützt. Hausärzte sollten stärker für die- se Probleme sensibilisiert werden, for- dert die Sozialapädagogin.

Andernfals bleibt Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen die Möglich- keit, sich an eine Beratungsstelle wie

„Pflege in Not“ oder an ihre Kranken- kasse zu wenden. Für die hungrige Seniorin auf dem Anrufbeantworter kann Tammen-Parr allerdings nichts tun.

In ihrer Aufregung hat die alte Dame vergessen, ihren Namen und ihre Te- lefonnummer auf dem Band zu hinter-

lassen. Samir Rabbata

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ach der derzeitigen Konzeption zur Einführung von diagnosebe- zogenen Fallpauschalen auf der Basis der australischen Diagnosis Rela- ted Groups (DRGs) könnten vor allem die Universitätskliniken und Kranken- häuser der Maximalversorgungsstufe gegenüber Durchschnitts-Akutkran- kenhäusern finanziell

benachteiligt werden.

Dadurch müssten die Forschung und Lehre in Universitätskranken- häusern und akademi- schen Lehrkrankenhäu- sern leiden, rügt der Ver- band der Unversitätskli- nika in Deutschland e.V.

(VUD) in einer Eingabe an das Bundesgesund- heitsministerium. Rüdi- ger Strehl, der Vorsit- zende des VUD, Kauf- männischer Vorstand des Klinikums der Uni- versität Tübingen, hält ergänzende Entgelte, vor allem Zusatzentgel- te für teure Medikamen-

te und aufwendige diagnostische sowie therapeutische Verfahren, für unver- zichtbar. Darüber hinaus müsse eine Minimalrevision der DRG-bezogenen Entgelte für die Intensivmedizin, On- kologie sowie geriatrische und chroni- sche Erkrankungen erfolgen.

Wie Strehl vor einem DRG-Forum der Bundesärztekammer am 13. Juni in Köln erklärte, stehen die Universitäts- klinika vor folgender Ausgangslage:

Künftig sollen nahezu alle Kranken- hausleistungen über DRG-orientierte Fallpauschalen in fast allen Kranken- hausbereichen (mit Ausnahme der Psychiatrie und der psychotherapeuti-

schen Medizin) abgerechnet werden.

Rund 400 Hauptdiagnosen werden zu 600 bis 800 DRGs aufgesplittet. Dies erfordere sorgfältige und exakt ab- grenzbare medizinische Klassifikationen, genaue, vertraglich abgesicherte Kodier- richtlinien und realistische Kalkulatio- nen. In der Krankenhausrealität gäbe es leichtere und schwerere Fälle, die in den DRG- bezogenen Entgelten abgefangen werden. Sol- che Krankenhäuser, die überwiegend und in Rou- tine schwerere Krank- heitsfälle und Krank- heitsbilder zu versorgen haben, sind nach Mei- nung des VUD gegen- über Durchschnittskran- kenhäusern benachtei- ligt. Jedenfalls seien Universitätskliniken bei einem landesbezogenen Einheitspreissystem auf Diagnosebasis benach- teiligt und kämen nicht mehr auf die in den Preisen enthaltenen Ko- sten. Zudem suggeriere das neue Sy- stem den Eindruck einer scheinbaren Lückenlosigkeit. Seltene und neue Er- krankungen würden in jeder medizini- schen Hauptgruppe einer Sammel-DRG mit zumeist einer niedrigeren Bewer- tung zugeordnet, moniert der VUD. Da- durch werde ein Kostenrisiko vor allem für die Hochleistungsmedizin heraufbe- schworen. Höchstleistungen mit relativ hohen Kosten würden dann nur noch über Einheitspreise vergütet werden.

Deshalb könnten die Universitätsklini- ken mit ihren bisherigen Leistungen sich künftig nicht mehr über die Preise

stabilisieren.

Krankenhäuser/Entgeltsystem

Für Extras

und Zusatzentgelte

DRG-Forum der Bundesärztekammer: Unikliniken-Verband hat leistungsbedingte Ausnahmen angemahnt.

Rüdiger Strehl: „Ein Start nur mit den 661 australischen DRGs und den dortigen Vergütungs- tarifen ist nicht mit der deut- schen Krankenhauspraxis ver- einbar.“ Foto: privat

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