Diagnostik und Therapie der Polyneuropathien
Andreas Winkler
Austrian Society of Clinical Research in Neurological Rehabilitation,
Director and Head of the Department of Neurological Rehabilitation, Clinic Pirawarth E-Mail: winkler@klinik-pirawarth.at
Agenda
• Definition und Epidemiologie
• Grundlagen der Pathophysiolgie
• Anamnese , klinische Untersuchung und diagnostischer Algorithmus
• Therapie und Rehabilitation
Definition
Polyneuropathien (PNP) sind generalisierte Erkrankungen des peripheren Nervensystems (PNS).
Zum PNS gehören alle außerhalb des Zentralnervensystems liegenden Teile der motorischen, sensiblen und autonomen Nerven mit ihren Schwannzellen und ganglionären Satellitenzellen, ihren bindegewebigen Hüllstrukturen (Peri‐ und Epineurium) sowie den sie versorgenden Blut‐ und Lymphgefäßen.
Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie © DGN 2019
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Epidemiologie
PNP sind mit einer Prävalenz von ca. 5‐8% die häufigsten Erkrankungen des peripheren Nervensystems (klare Altersassoziation)
Inzidenz: Jährlich erkranken 118 von 100.000 Einwohnern neu
Etwa 200 verschiedene Ursachen können abgegrenzt werden
Ca. 60% sind diabetes‐ und alkoholbedingt
CA. 20‐25 % ohne zuordenbare Kausalität (CIAP‐chronisch idiopathische axonale PNP)
Häufigkeit der unklaren PNP nimmt mit dem Alter zu
Oft werden Ätiologien pauschal unterstellt (Alkohol, partielle Leitungsblöcke etc.), ohne dass ein kausaler Zusammenhang nachgewiesen wurde
Oft Fehldiagnosen (z.B. CIDP in fast 90% )
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Epidemiologie
Agenda
• Definition und Epidemiologie
• Grundlagen der Pathophysiolgie
• Anamnese , klinische Untersuchung und diagnostischer Algorithmus
• Therapie und Rehabilitation
Das senso-motorisches System
„Small fibres“
Das periphere senso-motorisches System
Pathophysiologie der Polyneuropathie
C. Sommer et al., Deutsches Ärzteblatt 2018
Diabetische Polyneuropathie
Sung JY, Tani J, Chang TS, Lin CSY (2017) PLOS ONE 12(2): e0171223.
Risikofaktoren einer diabetische PNP:
• Erkrankungsdauer und HbA1c
• Klassische diabetische Neuropathie tritt zusammen mit anderen Endorgankomplikationen (Retinopathie, Nephropathie) auf
• Small fibre Neuropathie kann bereits auch früh, noch vor Diagnose des DM auftreten
• Weitere Faktoren des metabolischen Syndroms (Dyslipidämie, art.
Hypertension, stammbetonte Adipositas) sind in Typ 2 Patienten
unabhängige RF, weiterhin Nikotinabusus, Alkoholabusus, hohes Alter und Körpergrösse
• Genetisch: ACE und MTHFR Polymorphismen sind mit diabet. PNP assoziiert
Progression of diabetic neuropathy from pathophysiologic, symptomatologic, and nerve excitability viewpoints.
Sung JY, Tani J, Chang TS, Lin CSY (2017) PLOS ONE 12(2): e0171223.
Agenda
• Definition und Epidemiologie
• Grundlagen der Pathophysiolgie
• Anamnese , klinische Untersuchung und diagnostischer Algorithmus
• Therapie und Rehabilitation
Anamnese I
Zeitlichen Verlauf:
• Akut:bis 4 Wochen (z.B. GBS)
• Subakut:4‐8 Wochen (CIDP)
• Chronisch:Länger als 8 Wochen (CMT)
Nach Verteilung:
• Motorische, sensible, gemischte PNP
• Distal symmetrische PNP
• Multiplex Neuropathie
• Proximale Neuropathie (Plexopathie, Radikuloneuropathie)
Nach Pathophysiologie der Neuropathie:
• Demyelinisierende PNP
• Axonale PNP
• Small fibre ‐ Polyneuropathie
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Anamnese II
Frage nach
• sportlichen Fähigkeiten als Kind, Probleme beim Schuhkauf (hereditäre PNP?)
• häufigem Stolpern (distale Schwäche?)
• Schwierigkeiten beim Treppensteigen, beim Aufstehen aus tiefen Sesseln
• oder aus der Hocke (proximale Schwäche?)
• feinmotorischen Einschränkungen der Hände/Finger
• Symptomen eines Karpaltunnelsyndroms als z. B. Erstsymptom einer Schwerpunktneuropathie (hATTR)
• Impfungen in kurz zurückliegendem Zeitraum bei AIDP/ASMAN,
insbesondere auch nach kurz zurückliegender Tetanusimpfung, die eine Polyneuropathie, auch in Gestalt einer Plexusneuropathie, verursachen kann
• Infektionen in kurz zurückliegendem Zeitraum bei AIDP/ASMAN oder länger zurückliegendem Zeitraum bei Mononeuropathia multiplex (z. B. Bannwarth‐Syndrom), Diphtherie im Heilungsstadium bei (toxischer) Polyneuropathia cranialis caudalis.
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Anamnese III
Risikofaktoren für PNP
Sommer, Claudia; Geber, Christian; Young, Peter; Forst, Raimund; Birklein, Frank; Schoser, Benedikt Polyneuropathien Dtsch Arztebl Int 2018; 115(6): 83‐90; DOI: 10.3238/arztebl.2018.0083
Symptomatik der Polyneuropathien
Inspektion
Symptomatik der Polyneuropathien
Distal symmetrisch Radikulopathie/Plexopathie Schwerpunkt Neuropathie Autonome Störungen
Klinische Leitsymptome bei PNP
Sommer, Claudia; Geber, Christian; Young, Peter; Forst, Raimund; Birklein, Frank; Schoser, Benedikt Polyneuropathien Dtsch Arztebl Int 2018; 115(6): 83‐90; DOI: 10.3238/arztebl.2018.0083
Neurologischer Befund bei PNP
Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie © DGN 2019 | Seite 12
Reflexe: Abschwächung/Ausfall von Muskeleigenreflexen, insbesondere Achillessehnenreflex
Motorische Störungen
schlaffe, atrophische Paresen; an den Beinen Fuß‐/Zehenheber meist früher und stärker betroffen;
Faszikulationen
Sensibilitätsstörungen (large fiber neuropathy)
Gliedabschnittsweise socken‐, strumpf‐, handschuhförmige Störungen der taktilen Ästhesie/Algesie;
bei fortgeschrittener PNP auch Bauchwand Pallhyp‐/anästhesie
Störung des Lageempfindens
Rombergtest – sensible Ataxie? Blindgang, Seiltänzergang – sensible Ataxie? Gangunsicherheit?
Sensibilitätsstörungen (small fiber neuropathy)
Thermhyp‐/anästhesie (Testung mit mit Wasser gefüllten Reagenzgläsern, Hyp‐/Analgesie/Allodynie
Beteiligung der Hirnnerven (GBS, MFS)
Beteiligung des autonomen Nervensystems (Pupillenreaktion, Hauttrockenheit, Orthost. Hypotonie))
Neurophysiologische Diagnostik:
Sensible und motorische Neurographie
Nachweis von Generalisierung, bzw.
Verteilung und Ausmaß der Neuropathie Nachweis einer subklinischen Beteiligung
•Unterscheidung:
axonale PNP: gleichmässige Reduktion CMAP und SNAP
demyelinisierende PNP: verlängerte dML, verlangsamte NCV,
Leitungsblock, temporale Dispersion des CMAP, verlängerte F-Wellen- Latent, A-Wellen (AIDP)
Gemnischt a/d PN
Neurophysiologische Diagnostik:
Myographie
• Nachweis einer axonalen Schädigung
• Einschätzung des zeitlichen Verlaufs
Akute Denervierung:
pathologische Spontanaktivität (pSW, Fibrillationen)
Chronische Denervierung:
Dauer der MUPS verlängert, Potentialamplitude erhöht, Phasenzahl erhöht,
Satelitenpotentiale (Reinnervation),
Faszikulationen, CRDs)
Neurographie: NCV und MSAP
Diagnostik der PNP
Sommer, Claudia; Geber, Christian; Young, Peter; Forst, Raimund; Birklein, Frank; Schoser, Benedikt Polyneuropathien Dtsch Arztebl Int 2018; 115(6): 83‐90; DOI: 10.3238/arztebl.2018.0083
Ursachen der Small-fibre-Neuropathie (SFN)
Algorithmus zur Polyneuropathie-Diagnostik
Algorithmus zur Polyneuropathie-Diagnostik
Polyneuropathie-Diagnostik
Überwiegend axonale Schädigung
Polyneuropathie-Diagnostik
Überwiegend axonale Schädigung Überwiegend demyelinisierende Schädigung
PNP mit autonomer Beteiligung
Die Therapie der PNP
• Die spezifische Therapie richtet sich nach der Ursache, wichtig ist eine optimale Behandlung der Grunderkrankung (z.B. Diabetes mellitus, Alkoholkrankheit, Niereninsuffizienz)
• Die symptomatische Therapie richtet sich in erster Linie gegen die neuropathischen Schmerzen, Ziel ist die Reduktion der
Schmerzintensität um mind. 30‐50 %, Verbesserung der Schlaf‐ und Lebensqualität sowie die Erhaltung der sozialen Aktivität und der Arbeitsfähigkeit
Referenz Dieleman JP, et al. Pain. 2008;137:681-8.
*Grundlegende Information zur Studie: Longitudinalstudie von Patientenakten der holländischen Allgemeinbevölkerung
Gesamtinzidenz neuropathischer Schmerzen
Die Inzidenz neuropathischer Schmerzen nimmt mit dem Alter zu und erreicht zwischen dem 70. und 79. Lebensjahr einen Gipfel
Die Inzidenz neuropathischer Schmerzen nimmt mit dem Alter zu und erreicht zwischen dem 70. und 79. Lebensjahr einen Gipfel
Prävalenz Neuropathischer Schmerz
Inzidenzrate / 1000 Patientenjahre
Alter (Jahre)
n = 362 693 n = 362 693
Diabetische Polyneuropathie
Sommer, Claudia; Geber, Christian; Young, Peter; Forst, Raimund; Birklein, Frank; Schoser, Benedikt Polyneuropathien Dtsch Arztebl Int 2018; 115(6): 83‐90; DOI: 10.3238/arztebl.2018.0083
Therapie neuropathischer Schmerzen
Physikalische Behandlungen
Analgetisch wirksame Stromformen
• Gleichstrom (Galvanisation, Iontophorse)
• Träbert-Strom
• Diadynamische Ströme
• TENS
• Ultrareizstrom
• Interferenzstrom
• Zellenbäder
• HiTop
Die Therapie der PNP
• Physikalische Therapiemöglichkeiten:
• Elektrotherapie:
• Hochtontherapie (HiToP®): In Deutschland 1995 entwickeltes Behandlungsverfahren, es werden elektrische Wechselfelder mit einer Frequenz von 4‐30 kHz eingesetzt,
Stromstärke und Frequenz werden gleichzeitig moduliert
• Transkutane elektrische Nervenstimulation (TENS): Elektrische Impulse blockieren die Schmerzweiterleitung im Rückenmark,
körpereigene Endorphine werden freigesetzt
Die Therapie der PNP
• Physikalische Therapiemöglichkeiten:
• Galvanische Zellenbäder: Schmerzlindernd, durchblutungsfördernd
• Neuromuskuläre Elektrostimulation (NMES): „Schwellstrom“ oder
„Exponentialstrom“ zur Kräftigung der Muskulatur
• Thermotherapie: Anwendung von Wärme/Kälte, z.B. in Form von Infrarot‐Therapie
Die Therapie der PNP
• Physikalische Therapiemöglichkeiten:
• Bewegungstherapie (aktiv/passiv) in Form von Physiotherapie bzw.
Medizinischer Trainingstherapie, u.a. zur Vermeidung von Bewegungseinschränkungen (Kontrakturen), Schulung des
Gleichgewichtssinnes, Kräftigung der Muskulatur; bei ausgeprägten PNP‐ Formen auch Vermeidung von Wundliegen (Dekubitus) und Pneumonien
Die Therapie der PNP
• Allgemeine Maßnahmen:
• Falls erforderlich Hilfsmittelversorgung, z.B. Gehhilfen (Gehstöcke, Krücken), s.g. „Peronäusschienen“ bei Lähmung der Vorfußheber, Schuheinlagen, orthopädisches Schuhwerk
• Vor allem bei Diabetes mellitus regelmäßige Eigeninspektion der Füße bezügl. möglicher Verletzungen, med. Fußpflege
PNP- Krankheitsverlauf und Prognose
• Je früher die Nervenschädigung erkannt wird, desto besser die Prognose
• Der PNP‐ Verlauf kann nur positiv beeinflusst werden, wenn die Grunderkrankung diagnostiziert ist und behandelt wird
• Entscheidend ist, ob zum Zeitpunkt der Diagnosestellung bereits irreversible Schäden entstanden sind
• Leider ist in vielen Fällen eine komplette Heilung nicht mehr
möglich, im Vordergrund steht dann, die Beschwerden möglichst effektiv zu lindern
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
Andreas Winkler,
Austrian Society of Clinical Research in Neurological Rehabilitation,
Director and Head of the Department of Neurological Rehabilitation, Klinik Pirawarth E-Mail: winkler@klinik-pirawarth.at