FORSCHUNGSPOLITIK Zu dem Beitrag „Breitgestreute Einzelprojekte — aber kein Gesamt- konzept" von Dr. rer. pol. Lothar Lieschke in Heft 31/32/1991:
Staatliche Forschungs- politik überfordert
Neben dem Hinweis auf die relativ geringe Mittelaus- stattung der Gesundheitsfor- schung in der Bundesrepublik ist auch der Feststellung des Verfassers zuzustimmen, daß die Schwerpunkte der Förde- rung innerhalb der Grenzen des herrschenden Denkmo- dells einseitig auf Grundla- genforschung und klinischer Forschung liegen. Gerade aus diesem Grunde aber kann die Abgabe von Empfehlungen für den Bereich der ambulan- ten Versorgung durch die Selbstverwaltung der Ärzte und Krankenkassen gern.
§ 135 Abs. 1 SGB V nicht nur als eine zu überwindende Hürde zwischen Innovations- und Diffusionsprozeß gese- hen werden.
Die die Versorgungserfor- dernisse weitgehend verfeh- lende klinische Forschung muß sich dieser Prüfung an den sozialrechtlichen Nor- men der Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit aus guten Gründen auch in Zukunft stellen. Die Forschung war bisher zur Technologiebewer- tung und Methodenentwick- lung für die Qualitätssiche- rung in einem gesundheitspo- litisch relevanten Maß eben- sowenig in der Lage wie zu ei- ner stichhaltigen Beantwor- tung von Fragen nach Kosten und Nutzen bei der Gesund- heitsversorgung. Die Grund- lagen des Managements im Gesundheitswesen (Epide- miologie, Gesundheitssystem- forschung und eine Reihe weiterer Forschungsbereiche) wurden und werden vernach- lässigt.
Die Selbstverwaltungskör- perschaften stehen vor der dringenden und unabweisba- ren Notwendigkeit, die kon- zeptionellen Fragen bei der Gestaltung und Weiterent- wicklung der Gesundheitsver-
sorgung zu beantworten und entsprechende Entscheidun- gen zu treffen. Technologie- bewertung, Qualitätssiche- rung und Kosten-Nutzen- Überlegungen — orientiert an Versorgungserfordernissen und an ärztlichem Sachver- stand — werden zu einer der wichtigsten Aufgaben von Ärztekammern und KVen.
Die Aufgaben der Informati- on und Umsetzung bei neuen Versorgungsaufgaben (zum Beispiel im Bereich der Prä- vention), neuen Technolo- gien und Qualifikationsmaß- nahmen werden sich voraus- sichtlich von den Universitä- ten weg auf die Organisatio- nen der Ärzteschaft verla- gern. Diese werden die erfor- derliche wissenschaftliche Kompetenz über das vorhan- dene Maß hinaus ausbauen und ihrerseits verstärkt For- schungsfragen formulieren müssen.
Nur so ist die bedarfsge- rechte Umsetzung von For- schungs- und Entwicklungs- bemühungen in die breite Anwendung und damit die Verbesserung der Versor- gungsstruktur sicherzustellen.
Nicht die Selbstverwaltungs- körperschaften, sondern die staatliche Forschungspolitik hat sich trotz verdienstvoller Ansätze in der Vergangen- heit angesichts dieser Aufga- be als überfordert gezeigt.
Dr. med. Klaus-Dieter Kossow, Vorsitzender der Kassenärztlichen Vereini- gung Niedersachsen, Berliner Allee 22, W-3000 Hannover 1 LEBENSINTERESSE
Zu dem Kommentar „Abwä- gung der Lebensinteressen" von Dr. Helmuth Merk' in Heft 37/1991:
Falscher Titel
Schon der Titel weist in die Irre, denn abwägbar ist wohl eine mütterliche Quali- tätseinbuße; das „Lebensin- teresse" des Kindes abzuwä- gen, ist völlig irreal. Die Bela- stung der Mutter kann so- dann auch nur an der Be- schwernis von sechs weiteren
Monaten Schwangerschaft gemessen werden, denn darin besteht die „Notlage", es sei denn, es werde von vornher- ein auf die Vernichtung des Übels „Kind" als „Verursa- cher" abgezielt, also auf die freie Lebensverfügbarkeit, und nicht auf Entlastung von der Notlage einer nachge- burtlichen Mutterschaft. An- dernfalls bliebe nämlich das Lebensinteresse des Kindes bei potentiellen Adoptivel- tern (oder der üblen Notlö- sung eines Babykrippen- staats) gänzlich unberührt.
Sind also sechs Monate Schwangerschaft zumutbar, oder muß das Kind nach der Einstellung „lieber tot als bei anderen Eltern" sein Leben lassen?
Dr. med. Rainer Zoch, Rathausstraße 60, W-5410 Höhr-Grenzhausen
RECHTSANSPRUCH
Zu dem Beitrag „Eine Idee aus Bayern: Rechtsansprüche des Kin- des schon im Mutterleib?" von Kurt Gelsner in Heft 34-35/1991:
Fakten vernachlässigt
Die Tendenz der Mei- nungsäußerung von Kurt Gelsner verniedlicht Tötung.
Es geht ums Leben. Merk- würdig, im DEUTSCHEN ÄRZTEBLATT biologische Fakten zu vernachlässigen, die Embryologie, Gynäkolo- gie und Genetik belegen. Hat Kurt Gelsner den Dokumen- tarfilm „Der stumme Schrei"
von N. B. Nathanson gese- hen? Der ungeborene Mensch ist schon einige Wo- chen nach der Empfängnis mit hoher Wahrscheinlichkeit ein leidensfähiges Wesen, ein von beiden Eltern verschiede- nes Individuum. Der soge- nannten Abtreibung gehen Folterung und Zerstückelung voraus.
Vertritt Herr G. eine hu- mane Familienplanung, ein Rechtsverständnis und eine Politik, die geeignet sind,
„Schaden vom deutschen Volk abzuwenden"?
Dr. med. J. Paul Klärner, Zur Gloria 54, Wuppertal 23
Auseinandersetzung erforderlich
. . . Was hier in die Nähe eines Faschingsscherzes ge- rückt wird, ist nicht neu: Im Erbrecht wird der Erzeugte, aber noch nicht Geborene als Erbe seit alters her berück- sichtigt (§ 1923 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches).
Und was seit dem vergange- nen Jahr selbst Tieren im ge- schriebenen Recht zugebilligt wird, nämlich eine eigene Rechtsstellung und der Schutz der Gesetze (§ 90 a BGB, geschaffen durch Ge- setz vom 20. August 1990), sollte dem Fötus mehr als bil- lig sein. Deshalb ist eine ernsthafte Auseinanderset- zung mit dem Gedanken er- forderlich, bereits das unge- borene Kind zum Träger des Unterhaltsanspruches zu ma- chen und ihm die Vater- schaftsfeststellung zu ermög- lichen. Denn von was lebt das Kind, wenn es denn geboren ist, bis zum Abschluß der Pro- zesse? So es bedürftig ist, von öffentlichen Mitteln. Was spricht dagegen, dem eigent- lich Zahlungspflichtigen zu einem früheren Zeitpunkt als bisher die Erfüllung seiner Unterhaltspflicht abzuverlan- gen?
Die Vorschläge aus Bay- ern können im übrigen völlig unabhängig von der Abtrei- bungsfrage diskutiert werden, betreffen sie doch keine straf- rechtlichen Fragen, sondern die zivilrechtliche Stellung des Ungeborenen. Sie ma- chen es allerdings den Fri- stenlösungs-Anhängern schwerer. Wird der Fötus als Träger eigener Unterhalts- rechte anerkannt, so kann ihm das Recht auf Leben schwerlich verweigert wer- den. Aber das ist keine perfi- de Erfindung der ewig gestri- gen Bayerischen Staatsregie- rung, wie der Autor zu mei- nen scheint, sondern aus dem geltenden Recht zu schöpfen- de Erkenntnis, siehe Erbrecht und Bundesverfassungsge- richt.
Dr. jur. Ulrich Bracker, Frans-Hals-Straße 15 b, W-8000 München 71
A-3288 (12) Dt. Ärztebl. 88, Heft 40, 3. Oktober 1991