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anz gleich unter welcher Regie- rung: Künftig wird wieder ein Thema aufkommen, von dem man glaubte, einen gesellschaftlichen Kon- sens gefunden zu haben: die Pränatal- diagnostik (PND). Dass es Diskussi- ons- und Handlungsbedarf auf diesem Gebiet gibt, zeigte eine öffentliche Anhörung der Enquete-Kommission„Ethik und Recht der modernen Me- dizin“ am 30. Mai.
Die in den Bundestag geladenen Experten kritisierten zwar nicht die Zulassung der PND in Deutschland,
beschrieben aber zum Teil „gravieren- de Fehlentwicklungen“. Schwangere würden vor dem Einsatz von Pränatal- diagnostik viel zu wenig über Zweck, Tragweite, Aussagefähigkeit und mög- liche Konsequenzen beraten. Daten einer von Prof. Dr. med. Irmgard Nip- pert, Universität Münster, vorgestell- ten Studie zeigen, dass der Anteil von vor und nach PND humangenetisch beratenen Frauen noch unter 20 Pro- zent liegt.
Auch nach den Erfahrungen von Dorothea Kühn sind Schwangere „nur
selten“ umfassend informiert. Die Vor- sitzende des Bundes freiberuflicher Hebammen sprach bei der PND gar von einem inzwischen „gesellschaftlich akzeptierten Instrumentarium zur Se- lektion“. Annegret Braun, Leiterin der Stuttgarter PND-Beratungsstelle der Diakonie, bestätigte eine solche Ten- denz. PND werde zudem immer häu- figer als unausweichlicher Teil der Schwangerenvorsorge dargestellt. Die Anwendung der Tests habe fast „kult- haften Charakter“ und sei in der Vor- stellung vieler Schwangeren zur Bedin- gung für ein gesundes Kind geworden.
„Was zur Beruhigung der Schwangeren auf den Markt kam, hat sich zu einem Geschäft mit der Angst entwickelt“, sagte sie. Bei den als IGeL-Leistungen angebotenen Tests herrsche Wildwuchs.
Angebote abzulehnen sei mittlerweile für viele Schwangere schwierig, da sie in einen Interessenskonflikt mit ihrem Arzt gerieten, wenn sie seinen Empfeh- lungen nicht nachkämen.
Neben einer Zunahme der Frühdia- gnostik als IGeL-Leistungen steigt auch die Inanspruchnahme der invasi- ven PND. Die gesetzlichen Kranken- kassen verzeichneten zwischen 1990 und 2001 eine Verdoppelung der Ver- ordnungszahlen bei Amniozentese und Chorionzottenbiopsie. Prof. Dr. med.
Claus R. Bartram, Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Humange- netik, beklagte, dass zwei Drittel der über 35-jährigen Schwangeren invasi- ve PND in Anspruch nehmen. „Dies deutet auf ein Beratungsdefizit hin“, sagte er. Das Risiko, ein behindertes Kind zu bekommen, werde zu hoch eingeschätzt.
Besorgt ist Bartram auch über die Entwicklung der gegenwärtig auf den Markt kommenden DNA-Chips, die viele genetische Veränderungen gleich- zeitig testen können. Eine qualifizierte Beratung sei bei diesen Tests unmög- lich. Der Humangenetiker forderte, das Screening mit DNA-Chips gesetzlich zu verbieten.
In dieser Legislaturperiode wird dies im Falle von Neuwahlen nicht mehr geschehen. Ein neuer Bundes- tag wird jedoch möglichst schnell über ein Gendiagnostikgesetz und die Probleme der PND diskutieren müs- sen. Dr. med. Eva A. Richter-Kuhlmann P O L I T I K
Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 102⏐⏐Heft 24⏐⏐17. Juni 2005 AA1717
Pränataldiagnostik
„Fast kulthafter Charakter“
Ein „medizinisch kontrolliertes Geschäft mit der Angst“
nennen einige Experten die Zunahme von
pränataldiagnostischen Angeboten und Eingriffen.
DÄ:Herr Dr. Steiner, bei ei- ner Anhörung im Bundestag be- richteten Experten über eine Zu- nahme der PND und beklagten Beratungsdefizite. Halten Sie die Beratung der Schwangeren vor PND in den Praxen der niederge- lassenen Gynäkologinnen und Gynäkologen für ausreichend?
Steiner: Grundsätzlich ja.
Mutterschaftsrichtlinien und fo- rensische Gründe verpflichten uns Frauenärzte, Schwangeren die unterschiedlichen Möglich- keiten der PND aufzuzeigen und sie über die Grenzen der Diagno- stik zu informieren. Frauen über 35 Jahre müssen wir beispiels- weise auf die Möglichkeit der Amniozentese hinweisen. Ob sie eine solche Untersuchung wahr- nehmen wollen, müssen dann die Patientinnen auf Basis der Beratung selbst entscheiden.
DÄ: Entscheiden sich viele Frauen nicht nur für pränatal- diagnostische Maßnahmen, weil sie das Risiko überschät- zen, ein behindertes Kind zu be- kommen?
Steiner: Ich glaube nicht, dass die Frauen das Risiko über- schätzen. Viele Schwangere sind heutzutage bei der Geburt ihres Kindes schon älter. Damit steigt auch das Risiko für Anomalien.
Zudem wollen viele Frauen nur ein Kind, und das sollte ge- sund sein.Wie viel Sicherheit die Frauen in ihrer Schwangerschaft wünschen, sollte man ihnen selbst überlassen.
DÄ: Wird dieser Wunsch nach Sicherheit nicht auch von außen geschürt, sodass eine Schwangere mittlerweile das Ge- fühl hat, sie begeht einen Fehler, wenn sie zusätzliche PND-Ange- bote ausschlägt? Eine Expertin
sprach während der Anhörung beim Thema „IGeL-Leistungen für Schwangere“ gar vom „Ge- schäft mit der Angst“ . . .
Steiner: Solche Aussagen kann ich nicht nachvollziehen.
Sicherlich werden in den Medien die Möglichkeiten der PND ver- stärkt erwähnt. Das weckt natür- lich Bedürfnisse. Aber das ist kein Trend. Dass pränataldia- gnostische Möglichkeiten ver- mehrt in Anspruch genommen werden, ist durch das steigende Alter der Schwangeren leicht er- klärlich. Wenn wir PND als IGeL- Leistungen anbieten, besprechen wir vorher die Konsequenzen mit unseren Patientinnen.Es ist selbst- verständlich, dass dazu niemand überredet werden sollte.
DÄ:Was tun Sie, um die Be- ratungsqualität in den Praxen zu sichern?
Steiner:Der überwiegende Teil der niedergelassenen Gynä- kologinnen und Gynäkologen be- sitzt die Anerkennung der psy- chosomatischen Grundversor- gung und ist daher sicher auch in der Lage, eine entsprechende Be- ratung qualifiziert zu erbringen.
Nachgefragt
Dr. med. Manfred Steiner, Präsident des Berufsverban- des der Frauenärzte
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