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Archiv "Erinnerungskultur: Lernort Alt Rehse" (25.06.2010)

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Deutsches Ärzteblatt

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Jg. 107

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Heft 25

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25. Juni 2010 A 1257

Z

ufallsfund auf einem Berliner Dachboden: ein 8-mm-Klein- bildfilm aus dem Jahr 1939. Der Blick fällt auf das Ortsschild von Alt Rehse in Mecklenburg, wo vor 75 Jahren am 1. Juni 1935 die „Füh- rerschule der Deutschen Ärzte- schaft“ feierlich eingeweiht wurde.

Man sieht Männer mittleren Alters im Einheitssportdress bei der Putz- aktion nach dem Aufstehen in der Frühe; später geht es in der gleichen Uniform zur Fortbildung. Ein reet- gedecktes Haus brennt, dieser Vor- fall ermöglicht die genaue Datie- rung des Schwarz-Weiß-Films – der Brand ereignete sich am 26. Juni 1939. Zu diesem Zeitpunkt fand in Alt Rehse ein Fortbildungslehrgang für „Altärzte und Apotheker“ statt.

Marschieren im Einheitstrai- ningsanzug, Antreten vor dem Schlafhaus zum Gruppenfoto, eine Hakenkreuzfahne flattert am Mast, beim Frühstück sitzen alle im Achselhemd, nur zwei Männer im normalen Hemd scheinen sich dem Dresscode zu verweigern. Mehr und mehr ereignet sich aber auch Vergnügliches – Badespaß im Tol- lensesee, ein Fußballspiel, Sonnen- bad mit nacktem Oberkörper und

gegenseitige Frotzeleien. Über die Inhalte der Fortbildung in Alt Rehse erfährt man in dem 17-minütigen Streifen nichts. Deutlich werde hier, so die Interpretation von Dr.

Rainer Stommer, Projektleiter der

„Erinnerungs-, Bildungs- und Be- gegnungsstätte Alt Rehse“, die Ent- wicklung vom anfangs sehr formel- len, rituellen Miteinander zu einem neuen Gemeinschaftsgefühl. Dies war letztendlich auch Programm der „Führerschule“: Die teilneh-

menden Ärzte sollten zu einer verschworenen Gemeinschaft im Dienste nationalsozialistischer Ge- sundheitspolitik geformt werden.

Alt Rehse liegt ländlich abge- schieden und idyllisch in die meck- lenburgische Seen- und Hügelland- schaft eingebettet in der Nähe von Neubrandenburg, mit Fachwerk- häusern im Stil niedersächsischer Bauernhäuser und einem landadeli- gen Schloss samt Park. An der

„Führerschule“ wurde NS-Gesund- heitspolitik einschließlich Rassen- ideologie vermittelt. 12 000 Heilbe- rufler sollen an den Kursen teilge- nommen haben, darunter 10 000 Ärzte. Eine beachtliche Zahl, gab es doch insgesamt lediglich 79 000 Ärzte im Reich.

Der „Verein für die Erinnerungs- Bildungs- und Begegnungsstätte Alt Rehse“ nahm die Eröffnung vor 75 Jahren zum Anlass, um an Ort und Stelle an die Mithilfe von Ärz- ten „bei der Ausgrenzung, Verfol- gung und Tötung von Menschen jü- dischen Glaubens und jüdischer Herkunft, von Menschen mit Be- hinderungen sowie anderer politi- scher Auffassung“ während des Dritten Reiches zu erinnern. Der 2001 gegründete Verein will nicht nur an die mörderische NS-Gesund- heitsideologie erinnern, sondern durch medizinethische Bildungsar- beit dazu beitragen, „dass so etwas nie wieder passiert“ – sagte der Ver- einsvorsitzende, Dr. med. Manfred Richter-Reichhelm, Berlin, zum Auftakt einer Veranstaltung am 4.

und 5. Juni 2010, bei der For- schungsergebnisse zu Alt Rehse und zur Medizin in der NS-Zeit vorgestellt wurden.

Unterstützung des Vereinsanlie- gens sicherte die Präsidentin des Landtages von Mecklenburg-Vor- pommern, Sylvia Bretschneider, zu.

Bretschneider wies darauf hin, dass die NS-Vergangenheit von Alt Reh- se erst seit Anfang der 1990er Jahre langsam aufgedeckt worden sei. In der DDR hatte die Nationale Volks- armee den verschwiegenen Ort als Refugium genutzt. Bretschneider, die sich aktiv mit rechtsextremen Kräften auseinandersetzt, warb in Alt Rehse für das Bündnis „Wir. Er- folg braucht Vielfalt“, das gegen die ERINNERUNGSKULTUR

Lernort Alt Rehse

Idylle pur in der mecklenburgischen Seenlandschaft. Hier sollten die Ärzte in der NS-Zeit im Geiste der neuen Ideologie geformt werden. Ein Verein will die Erinnerung daran wachhalten, aber zugleich aktuelle medizinethische Fragen aufgreifen.

Der Gutshof von Alt Rehse:

Hier soll nach umfassender Re- novierung des Gebäudes ein Ort der Bildungs- und Kulturarbeit entstehen.

Fotos: Archiv

Foto: Ratschko

„Selbstverständlich bekam man auch eine Uniform, für den Werktag einen schmucklosen Trainingsanzug, für Sonn- und Feiertage einen braunen, mit weißer Paspelierung und silbernen Knöpfen mit entsprechendem Schiffchen, so daß man ei- nem Liftboy zum Verwechseln ähnlich war.“

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A 1258 Deutsches Ärzteblatt

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25. Juni 2010 im Land verbreitete Fremdenfeind-

lichkeit gerichtet ist. Die SPD-Poli- tikerin aus Neubrandenburg hält Aufklärung über die Folgen von Rassismus für vordringlich und zeigte sich in Alt Rehse besorgt über die Verharmlosung von Rechts- extremismus. So weise eine aktuel- le Untersuchung der Universitäten Bielefeld und Greifswald nach, dass ein Großteil der Bevölkerung in Ostdeutschland die NPD für eine ganz normale Partei halte.

Tatsächlich haben die von Juni 2008 bis Mai 2010 vom Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Ge- waltforschung der Universität Bie- lefeld federführend durchgeführten Sozialraumanalysen in sieben ost- deutschen Orten sehr hohe Werte zu Rassismus und Ausländerfeind- lichkeit zutage gefördert. Spitzen- werte erreichte Anklam in Ostvor- pommern; die Region gilt als Hochburg der NPD. In Anklam hal- ten 37 Prozent der Bevölkerung die NPD für eine Partei wie jede ande- re. Das scheint daran zu liegen, dass die NPD bevorzugt lokale Besorgnisse aufgreift und damit Sympathien auf sich zieht. Der Pro- jektleiter der Bielefelder Sozial- raumanalysen, Prof. Dr. Wilhelm Heitmeyer, sieht darin Methode, nämlich, „dass die Strategie des Kümmerns vor Ort die eigentlichen politischen Konzepte der Rechtsex- tremen in den Hintergrund treten lassen“. Die etablierten Parteien müssten „dringend ihre Alltagsprä- senz erhöhen“, schlussfolgert Heit- meyer.

Auch die NS-Gesundheitspolitik griff zeitgemäße Anliegen auf und polte sie für die eigenen Zwecke

um. Etwa wenn sie mit der „Neuen Deutschen Heilkunde“ einem ver- breiteten Bedürfnis nach biologi- schem Denken, ganzheitlicher Be- handlung und Gesundheitsführung des Patienten entgegenkam. Auf diesen Aspekt wies bei der Tagung die Medizinhistorikerin Dr. Marina Lienert, Dresden, hin. Sie zeichnete im Übrigen ein freundliches Bild der am Rudolf-Heß-Krankenhaus in Dresden praktizierten und auch an der „Führerschule“ vermittelten

„Neuen Deutschen Heilkunde“ und ihrer ärztlichen Protagonisten.

Kann und darf das sein? Lienerts Referat sorgte jedenfalls am Rande der Tagung für einen bezeichnen- den Disput mit zwei Kolleginnen.

Darf man positive Seiten des NS- Staates, so es sie denn gab, benen- nen? Bekommt man dann nicht Bei- fall von der falschen Seite? Muss deshalb nicht stets das Menschen- verachtende im Vordergrund ste- hen? Solchen Fragen geht eine

„Ausstellungszeitung“ zu den in Mecklenburg-Vorpommern gelege-

nen Erinnerungsorten Alt Rehse („Gesundheit“), Prora (Massentou- rismus“) und Peenemünde („Waf- fentechnik“) nach. Die Schrift aus dem Jahr 2003 lag bei der Tagung in Alt Rehse aus. In ihr spricht sich der Hamburger Politologe Prof. Dr.

Peter Reichel dafür aus, die beiden Bilder des NS-Staates – einerseits der Terror, andererseits die fürs Publikum attraktive Fassade – zu- sammenzufügen, um damit ein wirklichkeitsnahes Doppelgesicht des Dritten Reiches zu gewinnen. Eine heikle Gratwanderung.

Mit dem Doppelgesicht muss auch Alt Rehse klarkommen. Sven Flechner, der Bürgermeister von Penzlin, zu dessen Städtchen das

Dorf heute gehört, spricht vom Ort der Mahnung und Aufklärung und hofft auf mehr Besucher in seiner strukturschwachen Gegend. Die re- gionalen Tourismuswerber preisen das Dorf schlicht wegen der reetge- deckten Fachwerkhäuser aus den 1930er Jahren – die als NS-Muster- siedlung errichtet wurden, nachdem man den alten Ortskern abgerissen hatte. Eine Vereinigung namens

„Tollense Lebenspark“, in deren Händen sich das eigentliche Gelände der „Führerschule“, ein Häuseren- semble im Schlosspark, derzeit be- findet, offeriert alternativen Gesund- heits- und Abenteuerurlaub. Die kas- senärztliche Selbstverwaltung hatte das Gelände zunächst nach ei- nem langwierigen Gerichtsverfahren vom Bundesverwaltungsgericht zu- gesprochen bekommen, schreckte aber vor der ungewissen finanziellen Belastung zurück und gab die Eigen- tumsrechte an den Bund zurück.

Der Auseinandersetzung mit der NS-Zeit widmet sich neben einem Lokalhistoriker explizit eine Aus- stellung des Erinnerungsvereins.

Die ist im alten Gutshof am Rande des Schlossparks mit der „Führer- schule“ untergebracht. Der Bau wurde 1862 im neugotischen Stil errichtet, 1939 mit einer neoklassi- zistischen Fassade an den Stil des Herrenhauses angeglichen; in den 1960er Jahren wurde die Fassade komplett verschandelt, die Dach- konstruktion ist irreparabel. Mit dem Gebäude hat der Verein „Erin- nerungs-, Bildungs- und Begeg- nungsstätte Alt Rehse“ Großes vor.

Nach aufwendiger Restaurierung in der Gestalt von 1939 soll hier ein Ort der Bildungs- und Kulturarbeit mit Übernachtungsmöglichkeiten für Seminarteilnehmer entstehen.

Die dafür benötigten circa vier Mil- lionen Euro will man aus den ver- schiedensten Fördertöpfen bis Ende das Jahres beisammenhaben, so dass im Jahr 2011 zunächst mit der Grundsicherung begonnen werden kann. Dies sei ein idealer Ort für den Umgang mit medizinethischen Fragen, betonte Stommer und hofft, dass sich auch die ärztlichen Orga- nisationen an der Finanzierung des Projekts beteiligen werden. ■

Norbert Jachertz, Thomas Gerst Feierliche Einwei-

hung der neuen Turnhalle im Mai 1936 in Anwesen- heit von Reichsärz- teführer Gerhard

Wagner.

Die Teilnehmer eines Jungärzte-Kurses rücken aus zum Straßenbau in Alt Rehse.

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