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Archiv "Versorgung psychisch Kranker in Baden-Württemberg: Erstgespräch in drei Tagen" (04.11.2011)

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A 2320 Deutsches Ärzteblatt

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Heft 44

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4. November 2011

VERSORGUNG PSYCHISCH KRANKER IN BADEN-WÜRTTEMBERG

Erstgespräch in drei Tagen

In Baden-Württemberg haben die AOK und die Bosch BKK mit dem Medi-Verbund und Berufsverbänden einen Selektivvertrag zur besseren Versorgung psychisch Kranker abgeschlossen. Nicht alle finden ihn gut, einige sogar ethisch bedenklich.

E

s hat mich immer belastet, Hilfesuchenden am Telefon sagen zu müssen, dass ich keine Zeit für sie habe“ – der Psychologi- sche Psychotherapeut Rolf Wa- chendorf hat deshalb bereits seit ei- nigen Jahren in seiner Praxisge- meinschaft in Esslingen ein Akut- versorgungsmodell etabliert, das Patienten mittels halb offener Sprechstunden schnell Termine an- bieten kann und bei akuten Fällen sofort Hilfe leistet. Mit der berufs- politischen Unterstützung des Me- di-Verbunds in Baden-Württemberg (BW), zu dessen Vorstand er ge- hört, versucht Wachendorf seither, die Versorgung psychisch Kranker im ganzen Land zu verbessern.

Die in dem Modell gewonnenen Erfahrungen mündeten jetzt – nach langwierigen Verhandlungen – in einen Facharztvertrag nach § 73c SGB V zur besseren Versorgung der Baden-Württemberger in den Fach- bereichen Psychiatrie, Neurologie und Psychotherapie (PNP). Am 10.

Oktober unterschrieben die AOK-

BW, die Bosch BKK, die Medi-Ver- bund AG, die Landesverbände des Berufsverbandes Deutscher Ner- venärzte, der Deutschen Psychothe- rapeutenvereinigung (DPtV) und der Freien Liste der Psychothera- peuten den PNP-Vertrag.

Akutfälle sofort behandeln Er garantiert eine „schnelle, struk- turierte und flexible“ Behandlung.

Statt monatelang auf einen Termin bei einem Psychotherapeuten zu warten, sollen teilnehmende Patien- ten, beispielsweise bei Verdacht auf Depression, innerhalb von drei Ta- gen einen Termin für ein therapeuti- sches Erstgespräch erhalten. Im Notfall auch am gleichen Tag. Ist eine Psychotherapie nötig, schließt diese sich innerhalb von zwei Wo- chen an. Eine psychotherapeutische Praxis, die an dem PNP-Vertrag teilnehmen will, muss mindestens acht Therapiestunden pro Woche für Akutfälle bereithalten.

Die AOK-BW reagiert mit dem neuen Selektivvertrag auf die

Zunahme psychischer Erkrankun- gen. „In Baden-Württemberg stieg die Diagnose Depression zwischen 2004 und 2008 um rund 20 Prozent, und im ersten Halbjahr 2011 entfie- len fast zehn Prozent aller Arbeits- unfähigkeitstage auf psychische Er- krankungen“, sagte der Vorsitzende Dr. Christopher Hermann gegenüber dem Deutschen Ärzteblatt. Eine ver- bindliche Verpflichtung zur Zusam- menarbeit von Fachärzten, Psycho- logischen Psychotherapeuten (PP) oder Kinder- und Jugendlichenpsy- chotherapeuten (KJP) und eine Ver- netzung mit den Hausärzten mittels strukturierter Arztbriefe soll jetzt helfen, stationäre Einweisungen zu verringern, Fehltage zu reduzieren und Frühberentungen zu vermeiden.

Der PNP-Vertrag ist wie die bei- den bereits laufenden Verträge zur besonderen ambulanten ärztlichen Versorgung (§ 73c, SGB V) Kardio- logie und Gastroenterologie – an den Hausarztvertrag zwischen AOK und Medi gekoppelt. Rund 300 Kardiologen und Gastroentero- logen sowie 66 000 Versicherte sind in den Selektivverträgen einge- schrieben. An dem Hausarztvertrag nehmen zurzeit 3 600 Hausärzte und mehr als eine Million Versi- cherte teil. Die Koppelung bedeutet für psychisch Kranke, dass sie in ei- nem Hausarztvertrag eingeschrie- ben sein müssen, um von dem PNP- Vertrag profitieren zu können. Ge- gebenenfalls müssen sie dafür ihren vertrauten Hausarzt aufgeben.

Gutachterverfahren entfällt Für die psychotherapeutische Be- handlung bieten sich außerhalb des KV-Systems Veränderungen, die viele Therapeuten vorteilhaft finden.

Es entfällt das aufwendige Gutach- terverfahren – mit Ausnahme der Psychoanalyse –, so dass die Psy- Drei Monate

warten psychisch Kranke im Bundes- durchschnitt auf ein Erstgespräch beim Psychotherapeuten.

Foto: Your Photo Today

P O L I T I K

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4. November 2011 chotherapie schnell und unbürokra-

tisch beginnen kann. Verfahren und Methoden wie Systemische Thera- pie, Interpersonelle Psychotherapie, Hypnotherapie oder Eye Movement Desensitization and Reprocessing, die zwar vom Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie anerkannt sind, aber (noch) keine sozialrechtli- che Zulassung durch den Gemeinsa- men Bundesausschuss haben, kön- nen angewendet werden. Die S3- Leitlinien dienen als Basis. „Viele Patienten profitieren von den neuen Verfahren“, sagt Dr. Alessandro Ca- vicchioli, Landesvorsitzender der DPtV. „Wir können jetzt maßge- schneidert behandeln.“ Auch die un- komplizierte Zusammenarbeit mit Psychiatern und Neurologen begrüßt der Psychologische Psychothera- peut, wenn ein Patient mit schwerer Depression beispielsweise auch me- dikamentös behandelt werden muss.

Hinsichtlich der Vergütung wird der neue Facharztvertrag mit einer

„transparenten Vergütungssystema- tik ohne Fallzahlbegrenzung und Abstaffelung“ beworben. Die teil- nehmenden Ärzte und Psychothera- peuten sollen mit einem Mix aus Pauschalen, Einzelleistungsvergü- tungen und Qualitätszuschlägen, die sich je nach Fachbereich unter-

scheiden, „rund 30 Prozent mehr Honorar erhalten als in der Regel- versorgung“. So steht im Mittel- punkt der psychiatrischen Honorar- struktur beispielsweise die unter- stützende Gesprächsbehandlung für 82 Euro pro 50 Minuten, die damit deutlich über der Vergütung liegt, die die Krankenkassen dem KV- System zugesteht.

Ärztliche und Psychologische Psychotherapeuten können für die ersten zehn Stunden je 105 Euro als Einzelleistung abrechnen – in der Regelversorgung sind es bundes- weit 81 Euro. Der Leistungsanreiz auf den ersten Sitzungen soll die Aufnahme neuer Patienten fördern.

Die nächsten 20 Stunden werden à 90 Euro vergütet. Wenn nötig, kön-

nen dann weitere 30 Stunden à 82 Euro abgerechnet werden. Chro- nisch psychisch Kranken können darüber hinaus niederfrequente Langzeittherapien angeboten wer- den, die fünf Jahre dauern können.

Weiter soll die Versorgung psy- chisch kranker Kinder verbessert werden, indem Kinder- und Ju- gendlichenpsychotherapeuten zu- sätzlich zur Einzelleistung 25 Euro abrechnen können und 50 Euro für die Teilnahme an Hilfeplankonfe- renzen erhalten. Auch die Gruppen- psychotherapie wird innerhalb des Selektivvertrages gefördert: Sie lohnt sich nicht nur finanziell, son- dern kann auch parallel zur Einzel- behandlung in Anspruch genom- men werden, beispielsweise eine störungsspezifische Gruppe bei ei- nem anderen Therapeuten. In der Regelversorgung geht nur das eine oder das andere.

Nicht alle psychotherapeutischen Berufsverbände in Baden-Würt- temberg haben sich allerdings an dem PNP-Facharztvertrag beteiligt.

Der Berufsverband der Vertrags- psychotherapeuten (bvvp), die Deutsche Gesellschaft für Psycho- analyse, Psychotherapie und Psy- chosomatik (DGPT) sowie die Vereinigung Analytischer Kinder-

und Jugendlichenpsychotherapeuten (VAKJP) raten ihren Mitgliedern von einer schnellen Einschreibung ab. Zunächste sollen sie sorgfältig prüfen, inwieweit „eine Teilnahme sich mit der eigenen psychothera- peutischen Identität und prakti- schen Arbeitsweise verträgt“, heißt es in einer gemeinsamen ersten Ein- schätzung. Zwar begrüßen die Ver- bände, dass der neue Vertrag ein Problem lösen will, das trotz jahre- langer Forderungen der Psychothe- rapeuten im KV-System nicht ange- gangen wurde: die zeitnahe Versor- gung zu wirtschaftlich angemesse- nen Honoraren. Auch die Möglich- keit, chronisch kranke Patienten sehr lange niederfrequent betreuen zu können, bewerten sie positiv.

Auf der anderen Seite verhindere die Einschreibung in den Vertrag für viele Patienten aber eine mögli- cherweise indizierte notwendige Langzeittherapie von mehr als 60 Sitzungen mit einer wöchentlichen Frequenz, schreiben bvvp, DGPT und VAKJP. Es gebe einige Fälle, bei denen sich die Schwere der Er- krankung erst im Laufe der Be- handlung herausstelle. „Ethisch be- denklich“ seien darüber hinaus die finanziellen Anreize für Therapeu- ten für kurze Behandlungen sowie die von den Krankenkassen vorge- gebenen Ziele bei der Verschrei- bung von Medikamenten und der Dauer der Krankschreibung. „Diese Vertragskonstruktion ist für viele gleichbedeutend mit der Infrage- stellung des Grundkonzepts von Psychotherapie und deren Wirkung für die therapeutische Beziehung“, stellen die Verbände fest.

Die Kritiker sehen darüber hi- naus in zusätzlich zum Kollektiv- vertrag abschließbaren sogenannten Add-on-Verträgen mit möglichst vielen Krankenkassen „eine versor- gungspolitisch und berufsethisch bessere Alternative“. Denn zu hin- terfragen sei, warum der PNP-Ver- trag nicht von vornherein über die KV abgerechnet werden könne.

Dies würde komplizierte Bereini- gungsprozesse vermeiden. Die AOK wird mit der Kassenärztlichen Vereinigung einen Vertrag schlie- ßen, der wie bei den bereits beste- henden 73c-Verträgen „eine Berei- nigung des versicherten-individuel- len historischen Leistungsbedarfs vorsieht“, erklärt der AOK-Vorsit- zende Hermann.

Medi-Vorstandsmitglied Rolf Wachendorf, der auch Vorstandsbe- auftragter für die Psychotherapie in der KV-BW ist, hofft durch den ent- stehenden Wettbewerb auf einen

„positiven Veränderungsdruck“ zu- gunsten besserer Rahmenbedingun- gen für die Psychotherapie im Kol- lektivvertragssystem. Medi ist gera- de dabei, sogenannte Starterpakete an alle Fachärzte und Psychothera- peuten in Baden-Württemberg zu versenden, die die Teilnahmevo- raussetzungen für den PNP-Vertrag

erfüllen.

Petra Bühring

Diese Vertragskonstruktion ist für viele gleichbedeutend

mit der Infragestellung des Grundkonzepts von Psychotherapie und deren Wirkung für die therapeutische Beziehung.

P O L I T I K

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