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Archiv "Allgemeinmedizin im Studium: Ab in die Praxis!" (19.11.2010)

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A 2284 Deutsches Ärzteblatt

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Jg. 107

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Heft 46

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19. November 2010

ALLGEMEINMEDIZIN IM STUDIUM

Ab in die Praxis!

Die Ausbildung von Medizinstudierenden findet häufig im Hörsaal oder im Krankenhaus statt. Anders in Witten/Herdecke: Hier arbeiten die Studenten ab dem ersten Semester in Hausarztpraxen mit.

M

axie Hähnel (23) hat heute einen schwierigen Fall zu lösen. Zumindest scheint die Pa- tientin, die ihr gegenübersitzt, irgend- wie alle möglichen Krankheiten zu haben. Die zierliche Studentin mit dem blonden, kurzen Pferdeschwanz blickt kurz auf den Bildschirm. Im Computersystem ist bereits eine ganze Liste von Diagnosen doku- mentiert: Bluthochdruck, chronisch obstruktive Lungenerkrankung und eine Spinalkanalstenose. Die Pa- tientin redet außerdem ohne Punkt und Komma.

Neulich ist sie hingefallen. Ja, und oft hat sie Durchfall, aber mo- mentan nicht. Seit letzter Woche hustet sie, doch das ist wieder bes- ser. Bauchschmerzen hat sie ab und zu – schon länger. Vor ein paar Ta- gen war ihr Auge ganz rot. Das ist aber noch längst nicht alles: „Die Kopfschmerzen kommen und ge- hen. Aber wenn ich jetzt mit Ihnen spreche, geht es schon wieder los“, sagt sie. Die Patientin rutscht unru- hig auf dem Stuhl hin und her. Ihre Hände sind gefaltet, die Daumen kreisen umeinander.

Hähnels Handwerkszeug liegt auf ihrem Schreibtisch: Blutdruck- manschette, ein blaues Stethoskop, eine Packung Holzspatel und ein roter Reflexhammer. Sie ist zwar noch keine Ärztin, sondern studiert Medizin im sechsten Semester. Aber sie hat ein komplett ausgestattetes Arztzimmer für sich allein. Ihr wichtigstes Werkzeug ist jedoch zu- nächst einmal ihr Verstand: „War - um kommt diese Patientin mit die-

sen Beschwerden heute zu mir?“

Das ist die Frage, die Prof. Dr. med.

Stefan Wilm (51) ihr mit auf den Weg gegeben hat. Er ist ihr Betreu- er und Inhaber der allgemeinmedi- zinischen Praxis in Köln-Esch.

Mit diesem Leitsatz lässt sich der Wust an Beschwerden schon ein- mal etwas sortieren. Hähnel ent-

scheidet sich dafür, den Husten stärker unter die Lupe zu nehmen.

„Haben Sie Fieber gemessen?“, fragt die Studentin. Hat die Patien- tin, die Temperatur war aber nicht erhöht. Dann fragt Hähnel noch nach dem Auswurf. Der ist klar, nicht gelb. Nein, rauchen – das tut sie schon seit Jahren nicht mehr.

Hähnel hört die Lunge ab und schaut dann noch, ob der Rachen- raum gerötet ist. Dann tippt sie ihre

Untersuchungsbefunde in den PC ein. Nun öffnet sie die Tür einen Spalt weit. Das ist das Zeichen für Allgemeinarzt Wilm, dass sie fertig ist und er dazukommen soll.

Ab dem ersten Semester sind die Studierenden der Universität Wit- ten/Herdecke bei Hausärzten tätig – immer in derselben Praxis. „All - gemeinmedizinisches Adoptionspro- gramm“ nennt sich das (siehe Kas- ten). Ist das zu Beginn der Ausbil- dung keine Überforderung? Nein, meint Hähnel. Anfangs habe sie erst einmal zugeschaut. „Aber man lernt mit jedem Semester etwas Neues“, erklärt sie. Tatsächlich kommen im- mer mehr Aufgaben hinzu, zu- nächst die Anamnese und Untersu- chung. Am Ende sollen die Studie- renden eine Empfehlung für Dia - gnostik und Therapie entwickeln und mit den Patienten besprechen.

Das bedeutet, Wilm wird immer spä- ter dazugerufen, weil die Studentin mehr und mehr selbst kann. „Das ist ein Erfolgserlebnis“, sagt Häh- nel. Sie kann das theoretische Wis-

Wir sehen uns nicht als Hausarztschmiede.

Wir wollen gute Ärzte ausbilden.

Stefan Wilm, Allgemeinarzt und Lehrstuhlinhaber

T H E M E N D E R Z E I T

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Deutsches Ärzteblatt

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19. November 2010 A 2285 sen aus der Uni konkret anwenden.

Die Patienten begleitet sie über ei- nen langen Zeitraum, weil sie im- mer in derselben Praxis ist.

Wilm hat das Signal „offener Türspalt“ mittlerweile bemerkt und ist dazugekommen. Ganz in Ruhe hört er den Bericht der Studentin an, und außerdem das, was die Pa- tientin zu sagen hat. Er stellt noch einige Fragen, zum Beispiel, ob sie nachts schlafen kann oder vom Husten aufwacht. Dann hört er die Lunge ab. Plötzlich hält er inne und winkt Hähnel heran, lässt sie mit auf die Stelle hören, die er auffällig findet. „Der Husten ist ja schon besser, Herr Doktor, aber muss man da nicht doch was machen?“, will die Patientin wissen. Wilm beru- higt. Sie soll ihre Sprays weiterneh- men und viel trinken. „Wenn es schlimmer wird oder Sie Fieber kriegen, melden Sie sich.“ Der Hausarzt fragt dann aber auch noch einmal nach dem roten Auge. Er überweist die Patientin zur Augen- innendruckmessung.

„Mit dem roten Auge war ich mir unsicher. Augenheilkunde hatte ich noch nicht“, erläutert Hähnel, als sie später mit ihrem Ausbilder al- lein ist. Auf die Differenzialdiagno- se Glaukom wäre sie nicht gekom- men. „Kopfschmerzen und rotes Auge, da muss es klingeln“, sagt Wilm. Dass sie nicht daran gedacht hat, findet er allerdings nicht so dra- matisch. „Die Studierenden sollen ihre Grenzen kennen. Das ist für den Arztberuf enorm wichtig“, be- tont der Allgemeinmediziner. Ent- scheidend sei zum jetzigen Zeit- punkt, dass die Studentin reflektiere, wie der Patientenkontakt verlaufen sei. Für Wilm ist die Begegnung von

Arzt und Patient etwas sehr Span- nendes. Der Experte für Krankheit trifft den Experten fürs Kranksein.

„Die Patientin hat ihre Be- schwerden so diffus geschildert, weil sie für sie diffus sind“, sagt er.

Gemeinsam müsse man im Ge- spräch die Symptome sortieren, um dann abzugleichen, was die aktuelle Situation mit der Vorgeschichte zu tun habe. Das klingt banal, ist aber manchmal nicht so einfach. Und oft sind die Menschen besorgt. In der Nachbesprechung wird der Studen- tin klar: Die Patientin brauchte eine Bestätigung, dass ihr Infekt auf dem Weg der Besserung ist – auch ohne Medikamente. „Da muss man als Hausarzt auch mal klar sagen: In Ihrem Fall würde ein Antibiotikum nicht helfen“, erläutert Wilm.

Selbstreflexion – fachlich und menschlich Der Allgemeinarzt ist nicht nur Hähnels Ausbilder, sondern auch der allgemeinmedizinische Lehr- stuhlinhaber in Witten/Herdecke.

Selbstverständlich möchte er die Studierenden für sein Fach begeis- tern. Sein Hauptanliegen ist das je- doch nicht. „Wir sehen uns nicht als Hausarztschmiede. Wir wollen gute Ärzte ausbilden“, sagt er. Für ihn ist es entscheidend, dass die Studieren- den lernen, ihr Verhalten zu reflek- tieren – fachlich und menschlich.

„Warum tue ich das, was ich tue?“ – das ist für ihn eine ganz entschei- dende Leitfrage. Aus seiner Sicht sind die Studierenden einer Flut von Wissen ausgesetzt. „Deshalb haben viele die Tendenz, sich an mühsam erworbenen, vermeintli- chen Wahrheiten festzuklammern“, erklärt Wilm. Er verlangt außerdem

von den Studenten, dass sie auch seine Arbeit kritisch betrachten und nicht einfach kopieren. Sie sollen sich die Frage stellen: „Hätte ich das jetzt auch so gemacht? Und wenn nein, warum nicht?“ Die an- gehenden Ärzte sollen Leitlinien kennen, aber auch einschätzen kön- nen, wann es gute Gründe gibt, von ihnen abzuweichen.

Die Allgemeinmediziner in Wit- ten haben einen hohen Anspruch:

Die Studierenden sollen lernen, evi- denzbasiert und zugleich patienten- zentriert zu arbeiten. Das sollten im Prinzip alle Ärzte können – egal, ob sie nun in Klinik oder Praxis tätig sind. Das Adoptionsprogramm hat allerdings noch einen anderen Hin- tergrund, der mit dem ambulanten Setting zu tun hat. „Ein großer Teil der Behandlungen findet in der hausärztlichen Versorgung statt, die Lehre aber meistens an hochspezia- lisierten Kliniken“, sagt Dr. med.

Paul Jansen (53), Institut für Allge- meinmedizin und Familienmedizin der Uni Witten/Herdecke, das passt für ihn nicht zusammen und gehe an der Versorgungsrealität vorbei.

Der Anteil von Absolventen, die Hausärzte werden, ist in Witten mit circa 15 Prozent traditionell höher als an vielen Universitäten. Ob die Zahl mit dem Adoptionsprogramm gestiegen ist, kann Jansen nicht sa- gen. Seit der Einführung hat noch keine Kohorte die Weiterbildung beendet. Fest steht für ihn aber schon heute, dass das Programm das gegenseitige Verständnis ver- bessert: „Jeder Hausarzt hat schon mal in einem Krankenhaus gearbei- tet, viele Klinikärzte aber noch nie in einer Hausarztpraxis.“

Ob sie Allgemeinmedizinerin werden will? Das kann Maxie Häh- nel noch nicht sagen. Zurzeit findet sie viele Fächer spannend, zum Beispiel die Unfallchirurgie. Aber es sei schön, wie viel positi - ves Feedback man bekomme. „Sie macht das richtig toll“, bestätigt die Patientin. Hähnel findet außerdem gut, dass man sehr viel Zeit hat, Anamnesen zu üben. Für ihren Aus- bilder Wilm ist das im Übrigen die eigentliche „Königsdisziplin der

Medizin“. ■

Dr. med. Birgit Hibbeler Die Medizinstudierenden an der Universität Witten/

Herdecke werden ab dem ersten Semester in all- gemeinmedizinischen Lehrpraxen ausgebildet.

Dort absolvieren sie sechs Blöcke – insgesamt zehn Wochen. Dabei übernehmen sie mit der Zeit mehr und mehr Aufgaben. Zunächst beobachten sie den Arzt-Patienten-Kontakt, später untersuchen sie und erheben Anamnesen. Schließlich machen

sie Therapievorschläge und schreiben Epikrisen.

Betreut werden sie im 1:1-Verhältnis – und zwar idealerweise das ganze Studium vom selben Arzt.

Daher der Name „Adoptionsprogramm“.

Die Ausbildung in Witten erfolgt in einem Mo- dellstudiengang. Eine Trennung von Klinik und Vorklinik gibt es nicht. Der Unterricht ist problem- orientiert und interdisziplinär.

DAS ADOPTIONSPROGRAMM

Lernen am kon- kreten Fall: Stefan Wilm und Maxie Hähnel im Gespräch mit einer Patientin

Fotos: Dominik Clemens

T H E M E N D E R Z E I T

Referenzen

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