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Archiv "Strukturreform im Gesundheitswesen Herausforderung für die Selbstverwaltung" (31.05.1990)

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auch Texte, in denen die Heilkraft des Frankenweines beschrieben wird

— von Hildegard von Bingen bis Ru- dolf Virchow.

Aufruf

zur Frei-Beruflichkeit In der Mitte der Veranstaltung stand die Verleihung der Paracelsus- Medaillen dieses Jahres an Frau Dr.

med. Hedda Heuser-Schreiber, Dr.

med. Wilhelm Baldus und Prof. Dr.

med. Peter Stoll (die Laudationes sind bereits im vorigen Heft veröf- fentlicht worden). Frau Dr. Heuser- Schreiber begann die Dankadresse für die Geehrten mit dem Hinweis darauf, daß zuletzt vor 16 Jahren ei- ne Frau eine entsprechende Anspra- che gehalten habe (Dr. med. Lena Ohnesorge). Diese Auszeichnung stehe im Zusammenhang mit Ab- schiednehmen, mit dem Kennenler- nen der eigenen Grenzen. Da seit dem 9. November 1989 alles anders werde, falle dies zwar schwer, aber:

„Wir müssen das Ärmel-Aufkrem- peln der jungen Generation überlas- sen — und wir beneiden sie darum!"

Frau Heuser forderte die jungen Kol- legen zur Standortbestimmung auf — sie empfinde Bedenken, wenn sie be- obachte, wie wenig manche junge Kol- legen die Freiberuflichkeit bewerten und hochhalten, auch im Kranken- haus: „Wir müssen die ärztlichen Ver- pflichtungen höher stellen als die Gunst der Mächtigen!" Die Ärzte hät- ten im Interesse der Patienten ihre Kompetenzen zu verteidigen und sich gegen jede Gleichmacherei zur Wehr zu setzen; sie dürften sich nicht „auf Pauschalen und Listen reduzieren"

lassen, und sie müßten das Patienten- geheimnis energischer denn je vertei- digen. Frau Heuser schloß mit einem Appell an die Ärzte: „Befreien Sie sich aus der Lobby und gehen Sie wie- der in die Parlamente!"

Die Eröffnungsveranstaltung wurde dann sogleich zur ersten Ar- beitssitzung: Dr. Karsten Vilmar, Präsident der Bundesärztekammer, trug sein Referat zum ersten Tages- ordnungspunkt „Strukturreform im.

Gesundheitswesen" vor — es ist ne- benstehend und auf den nachfolgen- den Seiten dokumentiert. bt

Dr. Karsten Vilmar

B

ei der Eröffnung des 92. Deut- schen Ärztetages im Mai ver- gangenen Jahres im Plenarsaal des Reichstages unmittelbar an der Berliner Mauer war trotz erfolgrei- cher Freiheitsbewegungen in ver- schiedenen Ländern Osteuropas kaum vorauszusehen, daß schon we- nige Monate später diese Mauer und die Grenzbefestigungen in Deutsch- land durchlässig werden oder gar ganz verschwinden könnten. Durch, eine unblutige Revolution im ande- ren Teil Deutschlands wurde im No- vember 1989 nach nahezu 60 Jahren

— die nationalsozialistische Diktatur eingeschlossen — das Joch der Unter- drückung abgeschüttelt. Damit wur- de der Weg zur Überwindung der wi- dernatürlichen Teilung Deutsch- lands und Europas endgültig frei, nachdem zuvor schon zuerst in Un- garn durch die Öffnung des Eisernen Vorhanges eine entscheidende Wei- chenstellung erfolgt war, für die wir vor allem unseren ungarischen Freunden tiefen Dank schulden.

Die Notwendigkeit zu Besinnung und Standortbestimmung

Die ersten freien Wahlen in der heutigen DDR seit vielen Jahrzehn- ten am 18. März 1990 zur Volkskam-

mer und am 6. Mai 1990 zu den Kommunalparlamenten haben jetzt die Voraussetzungen für demokrati- sche Strukturen und Entscheidungen geschaffen. Erstmals seit dem 50.

Deutschen Ärztetag 1931 in Köln können wieder Ärztinnen und Ärzte aus allen Teilen Deutschlands an ei- nem Deutschen Ärztetag ungehin- dert teilnehmen, und erstmals kön- nen wir frei gewählte Repräsentan- ten der Ärzteschaft aus den anderen Teilen unseres Vaterlandes bei uns begrüßen. Aus dem Ablauf der Bera- tungen und der demokratischen Meinungsbildungsprozesse während der Arbeitssitzungen werden sie si- cher wichtige Eindrücke für den Aufbau einer ärztlichen Selbstver- waltung in den zum 1. Januar 1991 zu bildenden Ländern im anderen Teil Deutschlands gewinnen können.

Die wohl heute schon als histo- risch zu wertenden politischen Er- eignisse in Deutschland und in Euro- pa werden aber auch die Meinungs- und Entscheidungsbildung der Dele- gierten des 93. Deutschen Ärzteta- ges beeinflussen. Insbesondere die Probleme einer Strukturreform im Gesundheitswesen müssen jetzt in einem größeren Zusammenhang ge- sehen und beurteilt werden — ebenso wie die sich daraus ergebenden gro- ßen Herausforderungen an die Selbstverwaltung. Der nach kaltem Krieg und jahrzehntelanger Stagnati-

Strukturreform

im Gesundheitswesen Herausforderung für die Selbstverwaltung

Referat des Präsidenten der Bundesärztekammer und des Deutschen Ärztetages

bei der Eröffnung des 93. Deutschen Ärztetages

A-1762 (22) Dt. Ärztebl. 87, Heft 22, 31. Mai 1990

(2)

Überfüllt: der Kaisersaal in der Würzburger Residenz während der Eröffnungsveranstal- tung des 93. Deutschen Ärztetages; auch der hinter den Barock-Portalen liegende Weissersaal war bis zum letzten Platz be- setzt. Schlußpunkt der dreistündigen Veran- staltung: das Referat Dr. Karsten Vilmars, des Präsidenten des Deutschen Ärztetages und der Bundesärztekammer, zum Tages- ordnungspunkt 1: „Strukturreform im Ge- sundheitswesen - Herausforderung für die Selbstverwaltung"

Die Eigenständigkeit der Sozial- politik

• bildet die Grundlage für so- ziale Gerechtigkeit und sozialen Ausgleich,

• anerkennt den gesellschaft- lichen Pluralismus."

Dies ist — wie viele andere Aus- sagen und Reformvorschläge in den

„Gesundheits- und sozialpolitischen Vorstellungen der deutschen Arzte- schaft" — unverändert gültig. Das so-

genannte „Blaue Papier" eignet sich deshalb gleichermaßen zur Beurtei- lung vergangener Entwicklungen wie künftiger Gestaltungsmöglichkeiten.

Die Ursachen und Gründe wa- ren ebenso wie Lösungsvorschläge für eine Strukturreform im Gesund.

heitswesen mehrfach Gegenstand der Überlegungen Deutscher Arzte- tage, zuletzt 1988 in Frankfurt wäh- rend der parlamentarischen Bera- tungen zum Gesundheits-Reformge- setz im Deutschen Bundestag.

Nachdem dieses Gesetz am 1.

Januar 1989 im Sozialgesetzbuch V in Kraft getreten ist, hielten die Dis- kussionen in der Öffentlichkeit und innerhalb der Ärzteschaft um die Auswirkungen der neuen Bestim- mungen unvermindert an. Eine erste Wertung erfolgte auf dem 92. Deut- an rasch in Gang gekommene Verei-

nigungsprozeß hat einerseits viele noch vor einem Jahr mindestens zu unseren Lebzeiten für unlösbar ge- haltene Probleme entfallen lassen oder erheblich in ihrer Bedeutung gemindert, andererseits sind da- durch sowohl neue entstanden als auch bei uns bestehende alte Proble- me ungelöst geblieben. Aus der den- noch insgesamt erfreulichen, lange ersehnten Entwicklung resultiert deshalb die Notwendigkeit zu Besin- nung und Standortbestimmung, zur Neubewertung alter und neuer Pro- bleme und zur Festlegung von Priori- täten für deren Lösung.

GRG: Langfristige Auswirkungen noch nicht abzusehen

Gesundheits- und Sozialpolitik — so wichtig sie für die Ärzteschaft und andere im Gesundheitswesen Tätige auch sein mögen — können dabei nicht isoliert betrachtet, sondern müssen in größerem Zusammenhang beurteilt werden. In den erstmals 1974 vom Deutschen Ärztetag in Berlin verabschiedeten und zuletzt vom Deutschen Ärztetag 1986 in Hannover erneut bestätigten „Ge- sundheits- und sozialpolitischen Vorstellungen der deutschen Arzte- schaft" heißt es dazu: „Gesundheits- politik und Sozialpolitik sind gleich- rangige Elemente der allgemeinen Politik. Nur die eigenständige Hand- habung von Gesundheits- und So- zialpolitik sichert die sachgerechte Beachtung ihrer unterschiedlichen Kriterien.

Die eigenständige Gesundheits- politik ergibt sich aus ihrer Aufgabe,

• die bestmöglichen Vorausset- zungen für Schutz, Förderung, Er- haltung und Wiederherstellung der Gesundheit jedes einzelnen Men- schen zu schaffen,

• in Abstimmung mit der Bil- dungs-, Wirtschafts-, Finanz- und Rechtspolitik sowie mit der eigen- ständigen Sozialpolitik eine optimale Berücksichtigung des Gesundheits- wesens innerhalb der Einheit der ge- samtpolitischen Zusammenhänge zu ermöglichen.

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Die drei Träger der Paracelsus-Medaille 1990 der deutschen Ärzteschaft nach der Verlei- hung (neben Dr. Karsten Vilmar v. 1. n. r.): Prof. Dr. Peter Stoll, Dr. Hedda Heuser-Schreiber, Dr. Wilhelm Baldus. (Die ausführlichen Laudationes wurden bereits in Heft 21 des Deut- schen Ärzteblatts veröffentlicht mit einem Verzeichnis der bisherigen Träger der Medaille)

rt

schen Ärztetag in Berlin, als — eben- so wie während der Beratungsphase in Anhörungen und schriftlichen Stellungnahmen — auf eine genaue Analyse aller Einflußfaktoren und der langfristigen Auswirkungen der neuen Bestimmungen gedrungen wurde. Vor allem deshalb, weil nach Auffassung der Ärzteschaft wesent- liche Ursachen der Ausgabensteige- rungen der gesetzlichen Krankenver- sicherung in der Vergangenheit bei dieser Gesetzgebung weitgehend un- berücksichtigt geblieben sind. Zu nennen sind insbesondere die Ver- änderungen im Bevölkerungsaufbau, das nicht nur quantitativ, sondern vor allem qualitativ erweiterte Lei- stungsspektrum der Medizin, die zu- nehmende Belastung der aktiven Beitragszahler der gesetzlichen Krankenversicherung durch die Krankenversicherung der Rentner sowie viele auf die gesetzliche Kran- kenversicherung überwälzte sozial- politischen Aufgaben, für die eigent- lich Steuermittel bereitgestellt wer- den müßten.

Der aus politischen Gründen zwar verständlichen optimistischen Beurteilung des Gesetzes durch den Bundesarbeitsminister stehen heute

kritische Erfahrungsberichte der Selbstverwaltung in den verschiede- nen Leistungsbereichen gegenüber.

Es erscheint zum Beispiel nach wie vor zumindest zweifelhaft, ob das er- rechnete Einsparpotential von rund 14 Milliarden DM durch Streichun- gen bei Sterbegeld und Fahrtkosten, durch die Negativliste und die Ein- führung von Festbeträgen für Arz- neimittel sowie Heil- und Hilfsmittel tatsächlich auf Dauer erreicht wer- den kann — auch wenn die von den Krankenkassen verkündeten Über- schüsse in Höhe von rund 16 Milliar- den DM für 1989 dies jetzt zu bewei- sen scheinen.

Viele Bestimmungen des So- zialgesetzbuches V konnten 1989 überhaupt noch nicht greifen, so daß die Einsparungen ihre Ursa- chen in Ankündigungseffekten ha- ben, der 1988 im Vorfeld des Re- formgesetzes aufgeblähte sogenann- te „Blümbauch" also in sich zusam- mengefallen ist. Eine vorschnelle Beurteilung ist deshalb falsch — so- wohl in der einen wie in der ande- ren Richtung. Es müssen vielmehr die langfristigen Auswirkungen der neuen gesetzlichen Bestimmungen untersucht werden.

Nicht schon jetzt nach dem

Gesetzgeber rufen!

Entscheidend für Erfolg oder Versagen wird es sein, ob und wie es der Selbstverwaltung von Ärzteschaft und Krankenkassen gelingt, viele neue, vom Gesetzgeber vorgegebene Rahmenbestimmungen auszufüllen, Mißverständliches klarzustellen und auch unscharf formulierte Bestim- mungen praktikabel zu machen.

Das gilt zum Beispiel für die Re- gelungen

1> zu Festbeträgen, zu Richt- größen, zu Wirtschaftlichkeitsprü- fungen,

> zur Ermächtigung von Kran- kenhausärzten und Krankenhausein- richtungen zur Teilnahme an der kassenärztlichen Versorgung,

> zur prästationären Diagno- stik und poststationären Therapie,

> zu Krankenhaus-Preisver- gleichslisten,

> zu Qualitätssicherungsmaß- nahmen,

> zur Bedarfsplanung, sei es für Großgeräte, Krankenhäuser oder anderes mehr.

Auch das Fehlen von Über- gangsbestimmungen hat teilweise er- hebliche Rechtsunsicherheit ausge- löst. Unklare oder in sich wider- sprüchliche Vorschriften haben die Akzeptanz dieses Gesetzes bei den Beteiligten nicht nur gefährdet, son- dern auch zu rechtlichen Auseinan- dersetzungen und Verzögerungen beim Abschluß neuer Verträge ge- führt. Doch auch wenn für die Ärzte- schaft viel Belastendes und Ärgerli- ches mit den neuen Regelungen ver- bunden ist, was vielleicht sogar die Verwaltungskosten ansteigen läßt, und wenn es auch weiterhin fragwür- dig bleibt, ob das politische Postulat der Beitragssatzstabilität richtig ist und aufrecht erhalten werden kann, sollte dennoch jetzt nicht schon wie- der der Ruf nach Regierung und Ge- setzgeber laut werden. Diese haben ihre Aufgabe zunächst gemacht — vielleicht nur recht und schlecht —, selbst wenn der die Strukturreform der gesetzlichen Krankenversiche- rung umfassende Teil der Gesamtre- form noch aussteht.

A-1764 (24) Dt. Ärztebl. 87, Heft 22, 31. Mai 1990

(4)

Für die damit verbundenen au- ßerordentlich schwierigen Organisa- tions- und Rechtsfragen läßt auch der nach mehr als zweieinhalbjähri- ger Arbeit vorgelegte Endbericht der durch Beschluß des Deutschen Bun- destages vom 4. Juni 1987 eingesetz- ten Enquetekommission „Struktur- reform der gesetzlichen Krankenver- sicherung" klare Vorstellungen und ein schlüssiges Konzept ebenso ver- missen wie für die übrigen Probleme

— oder Scheinprobleme — im Gesund- heitswesen.

Diese Fleißarbeit ist dennoch in- soweit aufschlußreich, als die unter- schiedlichen parteipolitischen Stand- punkte und oft ideologiegeprägten Lösungsansätze zusammengetragen und mit jeweiligen Mehrheits- und Minderheitsvoten versehen wurden.

Der Erkenntnisgewinn steht aller- dings zu dem Aufwand von insge- samt rund acht Millionen DM an Steuergeldern in einem krassen Miß- verhältnis.

Medizinische Daten immer noch zu wenig berücksichtigt

Für die Beurteilung von Ent- wicklungen im Gesundheitswesen mangelt es vor allem immer noch an aussagekräftigen Daten, aus denen die ganze Dynamik des Leistungsge- schehens mit verbesserten Behand- lungsmöglichkeiten, Verringerung der Risiken und Erhöhung der Chancen für die Patienten zu erken- nen wäre.

Die zunehmende Zahl älterer Menschen hat wegen der gleichzeitig bestehenden Multimorbidität mit oft erhöhtem Behandlungsbedarf, aber auch verbesserten Behandlungsmög- lichkeiten und einem nicht nur in quantitativer, sondern vor allem in qualitativer Hinsicht völlig veränder- ten Leistungsspektrum der Medizin dazu geführt, daß der Anteil der ak- tiven Beitragszahler am Solidarbei- trag für die Krankenversicherung der Rentner stark angestiegen ist (1)*).

* Die in Klammern gesetzten Zahlen bezie- hen sich auf die Anmerkungen am Schluß dieses dokumentierten Referates

In diesem Zusammenhang ist auch der weiterhin zu erwartende Anstieg der durchschnittlichen Le- benserwartung der Menschen in der Bundesrepublik Deutschland und der DDR interessant. Sie ist dort al- lerdings sowohl bei Männern als auch bei Frauen um zwei Jahre nied- riger und damit deutlich geringer als hier (2).

Die Ursachen dafür sind sicher vielfältig, das Niveau der ärztlichen und medizinischen Versorgung spielt dabei eine ebenso wichtige Rolle wie die gesamtgesellschaftlichen Ver- hältnisse oder die unterschiedlichen Umwelteinflüsse.

Für die künftige Gestaltung der Gesundheits- und Sozialpolitik sind auch aus diesen Gründen vermehrte epidemiologische Forschung und die Erarbeitung medizinischer Orientie- rungsdaten dringend notwendig. Er- kenntnisse für Prävention, Kuration und Rehabilitation und damit Grundlagen für politische Entschei- dungen können jedoch nur dann dar- aus gewonnen werden, wenn solche medizinischen Orientierungsdaten ohne politische Vorgaben, also wirk- lich wertneutral, erhoben werden.

Bei aller Achtung der Persönlich- keitsrechte und des durch das Bun- desverfassungsgericht bestätigten Rechtes auf informationelle Selbst- bestimmung dürfen Datenschutzbe- stimmungen dies nicht verhindern.

Der 92. Deutsche Ärztetag 1989 in Berlin hat dafür richtungweisende Beschlüsse gefaßt. Die sich daraus ergebenden Anderungen der Berufs- ordnung für die deutschen Ärzte werden uns hier unter Tagesord- nungspunkt IV beschäftigen.

Auch der Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Ge- sundheitswesen hat in seinem Jah- resgutachten 1990 festgestellt: „Die Aufmerksamkeit des Rates wird sich in Zukunft immer mehr der Analyse und Fortschreibung des aktuellen Leistungsgeschehens zuwenden.

Dem gesetzlichen Auftrag entspre- chend, muß außerdem neben der ökonomischen verstärkt eine medizi- nische Orientierung erarbeitet wer- den."

Deutsche Ärztetage haben schon früher wiederholt auf diese Notwendigkeit hingewiesen. Für die

künftige Gestaltung unseres Ge- sundheitswesens, bei der die neuen Entwicklungen in der DDR mit ih- ren herausfordernden Problemen durch Mängel, unzureichende Kapa- zitäten und die Folgen jahrzehnte- langer Plan- und Mißwirtschaft be- dacht werden müssen, aber auch hin- sichtlich der Entwicklung eines Ge- samtkonzeptes zur Absicherung des Pflegerisikos sind daher dringend weitere Untersuchungen über diese sehr komplexen Zusammenhänge er- forderlich.

Aus den Ergebnissen der Volks- zählung vom 25. Mai 1987 sind eben- falls Erkenntnisse für die künftige Gestaltung der Gesundheits- und Sozialpolitik zu gewinnen (3).

Die Zahl der Pflegefälle ist zum Beispiel heute mit 2,1 Millionen an- zusetzen, für das Jahr 2000 sind 2,4 Millionen zu erwarten, für das Jahr 2030 muß mit 2,9 Millionen Pflege- fällen gerechnet werden, ohne daß dabei schon die in der DDR zu er- wartenden Pflegefälle berücksichtigt sind.

Unberücksichtigt bleiben ferner alle diejenigen Menschen, die nicht Pflegefälle im Rechtssinn, sondern als Alleinstehende oftmals nur für einen mehr oder weniger langen Zeitraum versorgungsbedürftig sind.

Diese Personengruppe dürfte heute eine wesentliche Ursache der in Krankenhäusern angeblich festge- stellten „Fehl"-Belegungen sein.

Pflegesicherung:

Dreiteilung der Kosten notwendig

An die politisch Verantwort- lichen muß daher erneut appelliert werden, alle Bemühungen darauf zu richten, die häuslichen Pflegekapazi- täten zu stärken, die ambulanten pflegerischen Dienste auszubauen und im stationären Bereich ausrei- chend flankierende Kapazitäten zu schaffen. Ferner ist ein umfassendes Finanzierungskonzept erforderlich.

Für die Verteilung der Kosten sollte eine Dreiteilung vorgesehen werden in

• Investitionskosten aus Steu- ermitteln,

(5)

• Kosten für ärztliche und me- dizinische Versorgung aus Beiträgen der gesetzlichen Krankenversiche- rung,

• Kosten für Unterbringung und Verpflegung, lediglich diese müßten dann noch vom Betroffenen getragen werden.

Die für die künftige Gestaltung unseres Gesundheitswesens wichti- gen Positionen und Entwicklungs- tendenzen müssen wegen der ange- strebten Sozialunion und der Ver- einheitlichung der beiden Teile Deutschlands um valide Daten aus der DDR ergänzt werden, wobei sich wegen der Vergleichbarkeit Proble- me ergeben können. Immerhin be- fanden sich 1988 auch in der DDR 16 Prozent der Bevölkerung im Ren- tenalter (zwei Millionen Frauen und 700 000 Männer). Über eine Million Menschen waren 1988 älter als 75 Jahre, und ebenso wie bei uns litten viele dieser älteren Personen an mehreren chronischen Erkrankun- gen gleichzeitig. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, daß auch im Ge- sundheitswesen eine den heutigen Möglichkeiten der Medizin entspre- chende Versorgung der Menschen trotz der „Errungenschaften" im real existierenden Sozialismus geschei- tert ist.

Das stellt auch OMR Dr. sc.

med. Berndt Schirmer vom Ministe- rium für Gesundheits- und Sozialwe- sen der DDR in der kürzlich mit Pro- fessor Dr. med. Michael Arnold her- ausgegebenen Publikation „Gesund- heit für ein Deutschland" (4) fest, wenn er schreibt: „Das Gesundheits- und Sozialwesen der DDR befindet sich in einer tiefen existentiellen Kri- se, die nur durch die rigorose Über- windung der bisherigen Kommando- Strukturen, der kontraproduktiven

‚Planung' und die Schaffung plurali- stischer Eigentumsformen, starker Versicherungen und vernünftige An- reize beherrscht werden kann."

Gesundheitswesen der DDR freiheitlich reformieren!

Eine tiefgreifende Reform des Gesundheitswesens muß bei der So- zialunion und der Vereinheitlichung

der beiden Teile Deutschlands des- halb vorrangiges Ziel sein, auch um endlich für die Bevölkerung in der DDR eine möglichst gute, individu- elle, dem Stand der modernen Medi- zin entsprechende Versorgung zu er- reichen. Mit materieller oder finan- zieller Hilfe allein ist es hier nicht getan. Notwendig ist vielmehr die Einführung eines beitragsfinanzier- ten gegliederten sozialen Kranken- versicherungssystems. Die Errich- tung einer Einheitskasse wäre dage- gen — auch wenn sie nur als Über- gangslösung gedacht sein sollte — ei- ne direkte Fortsetzung der gerade gescheiterten zentral-diktatorischen Einheitsstruktur. Der „Wettstreit der Systeme" ist doch auch auf die- sem Gebiet klar entschieden. Föde- ralistisch-pluralistische freiheitliche Gliederungen mit funktionsfähigen Selbstverwaltungskörperschaften von Krankenkassen und Ärzten ha- ben sich als weit überlegen erwiesen

— nur so konnte in der Bundesrepu- blik Deutschland ein auch interna- tional anerkannt hohes Versorgungs- niveau erreicht werden — sowohl in der Krankenversicherung als auch in der Rentenversicherung.

In den künftigen Ländern der heutigen DDR wird dies mit den bei uns bewährten Strukturen nach Überwindung von Anfangsschwierig- keiten auch zu erreichen sein, um möglichst rasch zu vergleichbar gu- ten Lebens- und Arbeitsbedingun- gen in allen Teilen Deutschlands zu kommen. Eine Fortsetzung unter- schiedlicher Rechts- und sozialer Si- cherungssysteme stünde dem eher entgegen.

Gleiches gilt für die Strukturen der ärztlichen Versorgung im ambu- lanten Bereich mit Polikliniken, Am- bulatorien und betriebsmedizinische Einrichtungen. Selbstverständlich soll niemand zur Niederlassung in ei- gener Praxis gezwungen werden. Die in einem langen Arbeitsleben ohne die Chance anderer Möglichkeiten wohlerworbenen Rechte müssen ge- sichert bleiben. Altes Unrecht darf nicht durch neues Unrecht abgelöst werden. Die ungewöhnliche Situa- tion erfordert auch das Verlassen ausgetretener Pfade. Hier ist Kreati- vität gefragt und der Mut, auch neue Organisationsformen zu erproben.

Langfristig allerdings wäre die Be- vorzugung staatlicher Einrichtungen mit gesicherter Re-Finanzierung ge- genüber ärztlichen Praxen mit priva- tem Risiko eine Gefährdung freiheit- licher Strukturen.

II Rasche Novellierung der Gebührenordnung dringend erforderlich

Dringend notwendig ist für eine neue Versorgungsstruktur aber auch eine der Vielfalt und dem Arbeits- aufwand der Behandlungsverfahren moderner Medizin entsprechende Gebührenordnung. Die in der DDR für die derzeit wenigen noch tätigen niedergelassenen Arzte geltende und 1952 modifizierte PreuGO aus dem Jahre 1924 ist nach Ablauf von nunmehr 60 Jahren doch wohl wirk- lich „etwas überholt" und nicht zur Finanzierung eines leistungsfähigen Gesundheitswesens geeignet.

Grundlage könnte dafür das in der Bundesrepublik Deutschland geltende Leistungsverzeichnis der amtlichen Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) bilden, für welche die Bundesärztekammer auf der Grund- lage vieler Arbeitsbesprechungen mit medizinisch-wissenschaftlichen Fachgesellschaften und ärztlichen Berufsverbänden eine aktuelle No- vellierung erarbeitet hat, die alle seit der letzten Novellierung vor immer- hin schon zwölf Jahren feststellbaren Fortschritte der Medizin berücksich- tigt. Dabei wurde Kostenneutralität zwar für den Punktwert akzeptiert, für den medizinisch-wissenschaft- lichen Fortschritt seit 1982 kann dies jedoch nicht gelten. Völlig unver- ständlich ist daher die „Bitte" des Bundesarbeitsministers, der für den Erlaß der amtlichen Gebührenord- nung zuständig ist, wegen einer an- geblich damit verbundenen — nicht nachvollziehbaren — 20prozentigen Ausgabensteigerung durch ein mo- dernes Leistungsverzeichnis die von uns unterbreiteten — wie der Mini- ster schreibt — „Änderungsvorschlä- ge so zu überarbeiten, daß das im Vorjahr gemeinsam angestrebte Ziel der Kostenneutralität erreicht wer- den kann". Das ist sicher mehr als A-1768 (28) Dt. Ärztebl. 87, Heft 22, 31. Mai 1990

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nur eine Herausforderung an die Selbstverwaltung!

Wie soll denn wohl der medizini- sche Fortschritt, den die private Krankenversicherung in ihrer Wer- bung den privat Versicherten als ih- ren besonderen Vorteil anpreist, von der Selbstverwaltung „kostenneut- ral" zur Verfügung gestellt werden?

Und die nicht nur in Bilanz-Presse- konferenzen von einzelnen Versi- cherungsunternehmen als Erfolg ge- priesene Zunahme der Versicher- tenzahl läßt ebensowenig eine „ko- stenneutrale" Entwicklung der Aus- gaben zu. Hier soll vom Ministerium offenbar nur der „Schwarze Peter"

für das Hinauszögern der Novellie- rung der GOÄ bis zur nächsten Le- gislaturperiode der Bundesärzte- kammer zugeschoben werden. Gera- de im Hinblick auf das Zusammen- wachsen der beiden Teile Deutsch- lands ist jedoch eine rasche Novellie- rung dringend erforderlich, um auch in den Ländern der heutigen DDR Maßstäbe für ein leistungsfähiges, der modernen Medizin entsprechen- des Gesundheitswesen zu setzen.

• Vorrang bei allen Überlegun- gen muß die optimale Versorgung der Patienten haben. Nicht mehr zeitgemäße Strukturen — ob in der Gebührenordnung, bei Krankenkas- sen oder in Krankenhäusern — müs- sen deshalb ebenso wie andere sach- fremde Machtpositionen weichen.

Bewegender Abschluß der Eröffnungsver- anstaltung im Kaisersaal der Würzburger Residenz — die Nationalhymne: Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Va- terland! Danach laßt uns alle streben brü- derlich mit Herz und Hand! Einigkeit und Recht und Freiheit sind des Glückes Unter- pfand. Blüh im Glanze dieses Glückes, blü- he, deutsches Vaterland!

Das muß in allen Teilen Deutsch- lands ebenso gelten wie in anderen Ländern der Welt. Zu berücksichti- gen ist dabei die rasche Weiterent- wicklung der Medizin mit Differen- zierung, Spezialisierung, Rationali- sierung, Konzentration. Sie hat dazu geführt, daß heute in der Bundesre- publik Deutschland viele Ärzte nicht mehr in Einzelpraxis tätig sind, weil zahlreiche ärztliche Verrichtungen wegen der benötigten personellen und apparativen Infrastruktur dort nicht ohne weiteres möglich sind.

Diese Entwicklung spiegelt sich in der Aufgliederung der Arztzahlen deutlich wider (5).

Von den jetzt über 85 000 den Beruf ausübenden Arzten mit Ge- biets- und Teilgebietsbezeichnungen (ohne Allgemeinmedizin) sind zwar 41 957, das sind 49,1 Prozent, in frei- er Praxis, und nur 35 870, entspre- chend 41,9 Prozent, im Krankenhaus tätig. Bei Disziplinen mit hohem technischen und apparativen Auf- wand ist der weit überwiegende Teil der Spezialisten allerdings nicht

mehr in freier Praxis tätig — so arbei- ten zum Beispiel rund 80 Prozent al- ler Anästhesisten, Chirurgen, Neu- rochirurgen, aber auch Vertreter der Teilgebiete der Chirurgie ebenso wie Vertreter der Teilgebiete der Inne- ren Medizin heute in Krankenhäu- sern.

Reglementierungen im Freien Beruf auf Dauer frustrierend

In vielen Gebieten und Teilge- bieten der Medizin können die Ärzte in ihrer Krankenhaustätigkeit jedoch nach wie vor nur eine „Durchlaufpo- sition" für die Dauer von vielleicht vier bis zehn Jahren sehen, auf die dann eine weitere Phase von 20 bis 25 Jahren freiberuflicher Tätigkeit folgt. Die steigenden Arztzahlen in Klinik und Praxis haben — neben der Planstellenvermehrung infolge Ar- beitszeitverkürzung — auch hierin ei- ne wesentliche Ursache, weil natür- lich ein Anreiz zum Medizinstudium so lange gegeben war, wie im Kran- kenhaus infolge ständiger Abwande- rung scheinbarer Mangel an Arzten bestand, bis sich auch für die letzte freiwerdende Planstelle eine Viel- zahl von Bewerbern gemeldet und sich die Aussichten dann sowohl im Krankenhaus als auch in der Praxis sichtbar verschlechtert haben.

Die inzwischen in vielen Zulas- sungsbezirken der Kassenärztlichen Vereinigungen weit über den ver- nünftigen Bedarf hinausgehende Zahl von Kassenärzten hat hier eine wesentliche Ursache. Versuche, der Entwicklung mit Zulassungsbesch- ränkungen, Altersbegrenzungen oder anderen Reglementierungen, so auch einer im Gesetzbuch vorge- sehenen Gliederungsbeschreibung der kassenärztlichen Versorgung als einer entweder hausärztlichen oder fachärztlichen beizukommen, kön- nen deshalb zu keinen auf Dauer be- friedigenden Ergebnissen führen.

Sie müssen sogar scheitern, wenn durch derartige Maßnahmen ein sich ständig vergrößerndes Potential un- zufriedener, gut aus- und weiterge- bildeter Ärztinnen und Ärzte ge- schaffen wird, die keine Möglichkeit

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mehr finden, ihren Beruf auszuüben, und sich so um die Ergebnisse jahre- langen Fleißes geprellt sehen müs- sen. Aber auch für die bereits in der Praxis Tätigen sind solche mit einem freien Beruf eigentlich unvereinba- ren Reglementierungen auf Dauer frustrierend.

Den gemeinsamen Kern des Arztberufs

r

unbedingt erhalten In

Die zunehmende Arbeitslosig-

keit von Ärztinnen und Ärzten ist nicht nur wegen der Verschlechte- rung der Berufschancen für junge Menschen — deren Bedeutung nicht unterschätzt werden darf — zu beach- ten, sondern auch wegen der Auswir- kungen auf die persönlichen Mög- lichkeiten zur Weiterbildung in der Allgemeinmedizin ebenso wie in den verschiedenen Gebieten und Teilge- bieten der Medizin und den sich dar- aus ergebenden Auswirkungen auf die Qualität der ärztlichen Versor- gung insgesamt. Die für diese Fragen zuständigen Gremien der ärztlichen Selbstverwaltung prüfen zur Zeit Notwendigkeit und Möglichkeiten, durch veränderte Bestimmungen zur Weiterbildung und zur Definition und Abgrenzung der heute gewohn- ten Gebiets- und Teilgebietsbezeich- nungen für die ärztliche Berufsaus- übung der Entwicklung der Medizin und den Erfordernissen der Praxis Rechnung zu tragen und eine Min- derung der Qualität zukünftiger Arz- te zu vermeiden.

Nach der Verabschiedung der EG-Richtlinie „Allgemeinmedizin"

durch den Ministerrat am 24. Juni 1986 muß jeder EG-Mitgliedsstaat eine ergänzende spezifische, minde- stens zweijährige Vollzeitausbildung in der Allgemeinmedizin einführen.

Befähigungsnachweise auf dieser Grundlage können seit dem 1. Ja- nuar 1990 erteilt werden. Ab 1. Ja- nuar 1995 ist der Nachweis dieser mindestens zweijährigen Ausbildung in der Allgemeinmedizin Vorausset- zung für die Ausübung des ärztlichen Berufes als praktischer Arzt im Rah- men der sozialen Sicherungssysteme der Mitgliedsstaaten, in der Bundes-

republik Deutschland also für die Tätigkeit als Kassenarzt. Die Bun- desländer müssen nunmehr auf- grund der Kompetenzverteilung zwi- schen Bund und Ländern infolge der föderalistischen Struktur die dazu erforderlichen gesetzlichen Regelun- gen treffen. Entsprechende Gesetze wurden — allerdings mit unterschied- lichen Lösungsansätzen — bislang le- diglich in fünf Bundesländern be- schlossen. Es ist zu wünschen, daß die notwendigen rechtlichen Rege- lungen langfristig im Einvernehmen erzielt werden können — was dann erreichbar erscheint, wenn nach Verkürzung der Studienzeit auf fünf Jahre auch eine Verkürzung der Weiterbildung zum Allgemeinarzt auf drei Jahre möglich wäre, um eine Gesamtdauer von acht Jahren nicht zu überschreiten. Allerdings stehen EG-Regelungen heute einer Ausbil- dungsverkürzung im Wege; auch die medizinischen Fakultäten könnten ohne tiefgreifende Reform eine der- art verkürzte Ausbildung nicht durchführen. Dennoch, der gemein- same Kern des Arztberufes bliebe so unverändert, ein langjähriger, kräfte- zehrender Kampf innerhalb der Ärz- teschaft könnte beendet werden, der sonst auf Dauer leicht als Sprengsatz für die ärztliche Selbstverwaltung wirken könnte.

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Jeder Arzt steht jetzt vor wichtigen

Wahl-Entscheidungen

Es muß jedoch klar gesagt wer- den, daß die ärztlichen Selbstverwal- tungskörperschaften allein nicht in der Lage sind, diese wegen der medi- zinisch-wissenschaftlichen Entwick- lungen, aber auch wegen arbeits- und tarifrechtlicher Veränderungen, vor allem jedoch als Folge einer ver- fehlten Bildungspolitik der siebziger Jahre entstandenen Probleme zu lö- sen, die eigentlich auch von Politi- kern, die über eine Legislaturperio- de hinaus denken sollten, längst hät- ten gesehen werden müssen.

Die noch vor einem Jahr nicht vorherzusehenden Entwicklungen in Deutschland und in Europa verlan- gen von allen politisch Handelnden

in Bund und Ländern, aber auch in den verschiedenen Organen der Selbstverwaltung, Weitblick und Entschlossenheit. Durch die teilwei- se großen personellen, finanziellen und organisatorischen Probleme sollte sich niemand entmutigen las- sen. Diese erfreulichen Veränderun- gen verlangen Ideenreichtum und Zielstrebigkeit ebenso wie Improvi- sationsvermögen.

Im Gesundheitswesen sollte der besondere Sachverstand in den ärzt- lichen Selbstverwaltungskörper- schaften genutzt und dadurch noch erhöht werden, daß auf föderalisti- scher Basis auch in den künftigen Ländern der heutigen DDR schnell entsprechende Strukturen geschaf- fen werden. Keinesfalls sollte der Staat alles allein machen wollen, sondern sich der Hilfe und engagier- ten Mitwirkung und nicht zuletzt des guten Willens der Bürger in allen Teilen Deutschlands versichern.

Freiheitliche, pluralistische und fö- deralistische Strukturen werden sich auch bei der Bewältigung dieser schwierigen Aufgaben als leistungs- fähig erweisen. Die Schaffung von Selbstverwaltungskörperschaften er- öffnet die besten Möglichkeiten, den in ihnen zusammengeschlossenen Sachverstand wirksam werden zu las- sen. Sie eröffnet den Mitgliedern Rechte zur Regelung ihrer eigenen Angelegenheiten, aber auch die Pflicht, dies im Einklang mit den Be- langen der Allgemeinheit zu tun.

Vor dem im Dezember 1990 — wenn es denn dabei bleibt — neu zu wählenden Deutschen Bundestag liegen — ebenso wie vor dem jetzt erstmals frei gewählten Parlament in der DDR und eines Tages einem frei gewählten gesamtdeutschen Parla- ment — wichtige Aufgaben. Die Wah- len zum Bundestag und ebenso zu Landtagen werden für die Zukunft unserer sozialen Sicherungssysteme

— insbesondere der gesetzlichen Krankenversicherung, aber auch für die Ausübung des ärztlichen Berufes in den kommenden Jahrzehnten — von entscheidender Bedeutung sein, ebenso natürlich für die Versorgung der Bevölkerung. Jeder Arzt sollte deshalb die gesundheits- und sozial- politischen Programme der einzel- nen Parteien genau studieren und A-1772 (32) Dt. Ärztebl. 87, Heft 22, 31. Mai 1990

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bei seiner Wahlentscheidung prüfen, ob diese sich an den Notwendig- keiten einer dem heutigen Stand der Medizin entsprechenden Versor- gung der Patienten und ihren Be- dürfnissen orientieren oder unab- hängig davon an Ideologien und un- bewiesenen Heilslehren. Sicher wird es keinen Idealzustand geben kön- nen — dennoch muß eine Entschei- dung getroffen werden, auch wenn vielleicht nur die Wahl des „kleine- ren Übels" möglich ist.

Den jetzt im Gesundheitswesen und in den anderen Zweigen der so- zialen Sicherung ebenso wie in den übrigen Bereichen des Wirtschafts- und Sozialwesens zu lösenden Auf- gaben muß sich die Ärzteschaft, muß sich ihre Selbstverwaltung in aller Offenheit stellen. Trotz mancher un- terschiedlicher Standpunkte und In- teressen, die von den zahlreichen Aufgaben und Tätigkeiten der Ärzte in Klinik und Praxis, als Allgemein- arzt oder als Spezialist und Super- spezialist in der Patientenversorgung wie in Forschung und Lehre ebenso geprägt sind wie von unterschied- lichen politischen Vorstellungen, muß die Gesamtärzteschaft sich auf das allen Ärzten Gemeinsame besin- nen und dazu beitragen, die auch we- gen der Entwicklung der Medizin und der demographischen Verschiebun- gen im Bevölkerungsaufbau in allen Teilen Deutschlands bestehenden Probleme zu bewältigen. Aus Spezial- interessen, Föderalismus und Mei- nungspluralismus dürfen daher keine Zersetzungspotentiale entstehen.

Die Selbstverwaltung muß die notwendigen Regelungen — soweit dies möglich ist — in eigener Verant- wortung treffen und ihren Stand- punkt in der Öffentlichkeit glaub- würdig vertreten können. Der Staat muß den Selbstverwaltungskörper- schaften den dazu nötigen Freiraum lassen — er darf nicht versuchen, alle Initiativen der Selbstverwaltung an sich zu reißen, um gleichsam eine

„Plagiatpolitik" zu betreiben.

Druck, Androhung von Auf- sichtsmaßnahmen und fachliche Be- vormundung oder Behinderung der Entscheidungen der Selbstverwal- tung sind mit dieser klaren politi- schen Zielsetzung nicht vereinbar.

Damit würden die demokratisch ge-

In der von Balthasar Neumann gestalteten Residenz der Würzburger Fürstbischöfe gab die Bayerische Staatsregierung einen Empfang für die Delegierten und Gäste des Deutschen Ärztetages. Unser Foto ganz oben: Würzburgs Bischof, Dr. Paul-Werner Scheele, im Gespräch mit Sanitätsrat Prof.

Dr. med. Franz Carl Loch, Präsident der Ärztekammer des Saarlandes; links: Dr. In- geborg Retzlaff, die Präsidentin der Ärzte- kammer Schleswig-Holstein

wählten und legitimierten Vertreter der Selbstverwaltung dem Verdacht ausgesetzt, sie seien „Büttel des Staates" und die Körperschaften sei-

ne „Gängelbänder". Eine aus Mit- gliedsbeiträgen finanzierte Selbst- verwaltung ist aber keine staatliche Auftragsverwaltung. Zwar verträgt richtig verstandene Selbstverwaltung eine Rechtsaufsicht, niemals aber ei- ne angemaßte Fachaufsicht, denn dann wäre sie keine Selbstverwal- tung mehr.

Schon 1982 hat Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl in seiner Regie- rungserklärung ausgeführt: „Wir sind davon überzeugt, daß freie In- itiative und Leistung für den einzel- nen wie für das Ganze besser sind als staatliche Lenkung und Bevormun- dung." Daß der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen Vorrang vor ge- setzgeberischen Maßnahmen einge- räumt werde, bestätigte der Bundes- kanzler auch im September 1985 in einem Gespräch über aktuelle Fra- gen der Gesundheitspolitik den Re- präsentanten von Ärzten, Zahnärz- ten, Apothekern und Pharmaindu- strie im Beisein der Minister Blüm und Geißler. Der Bundesarbeitsmi- nister, der gleichfalls 1985 in seinem

„10-Punkte-Programm" die Stärkung der Selbstverwaltung als wichtiges Ziel hervorhob, wird sicher hieran festhalten und uns noch Beweise hierfür liefern.

Verhandlungen und Verträge und in noch größerem Maße die Wahlen zu Landesparlamenten und

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zum Bundestag, vielleicht in abseh- barer Zeit auch schon für ein ge- samtdeutsches Parlament, bedeuten Weichenstellungen, die den Kurs un- seres staatlichen Gemeinwesens über das nächste Jahrzehnt bis weit in das nächste Jahrtausend hinein bestimmen werden. Die Ärzteschaft in allen Teilen Deutschlands muß sich dabei ihrer besonderen Ver- pflichtung gegenüber Kranken und Hilfsbedürftigen bewußt sein.

I Gemeinsame Zukunft in Freiheit

und Unabhängigkeit

Maßstab ihrer Entscheidungen muß die Qualität der ärztlichen Ver- sorgung unter Berücksichtigung indi- vidueller Wünsche und Bedürfnisse der Patienten sein. Berufliche Unab- hängigkeit und ärztliche Entschei- dungsfreiheit sowie die Möglichkeit einer freiberuflichen Tätigkeit sind dafür wichtige Voraussetzungen.

Ärztliche Argumentation muß bei den politischen Entscheidungspro- zessen berücksichtigt werden — sie wird jedoch dann wirkungslos blei- ben, wenn ein Kampf aller gegen alle erfolgt oder die Glaubwürdigkeit der ärztlichen Selbstverwaltungskörper- schaften demontiert wird, gleichgül- tig, ob von innen oder von außen. Je- der Arzt sollte sich der ihm daraus erwachsenden Verantwortung be- wußt sein und darauf achten, daß nicht ideologiegetriebene „Traum- tänzer" versuchen, mit den Trüm- mern des gescheiterten Sozialismus funktionierende Systeme zu gefähr- den oder gar unbrauchbar zu ma- chen. Bruchstücke der Mauer eignen sich vielleicht als Mahnmale; Frag- mente der dahinterstehenden Ideo- logie sind jedoch als tragende Ele- mente eines freiheitlichen sozialen Gesundheitswesens unbrauchbar.

Den jetzt im Gesundheitswesen und in den anderen Zweigen der so- zialen Sicherung ebenso wie in allen anderen Bereichen der Gesellschaft zu lösenden Aufgaben müssen sich auch die Ärzteschaft und ihre Selbst- verwaltung stellen. Sie sollten mit Zuversicht und — angesichts der au- ßergewöhnlichen Situation — viel-

leicht auch mit unkonventionellen Konzepten gemeinsam mit anderen gesellschaftlichen Gruppen die in dieser Form sicher nicht wiederkeh- renden Chancen nutzen, um die Tei- lung Deutschlands und Europas zu

überwinden. ❑

Anmerkungen

(1) Mußten noch 1960 die Beitragszahler lediglich 1,3 Milliarden DM für die Kranken- versicherung der Rentner bezahlen, so ist die- se Summe bis zum Jahre 1988 auf mehr als 28,7 Milliarden DM angewachsen. Das be- deutet, daß diese Summe bis heute über das Zwanzigfache gestiegen ist. 100 Beitragszah- ler mußten 1960 lediglich für zirka 30 Rent- ner aufkommen, heute für 56 und im Jahre 2030 werden sie — wenn der Trend so bleibt — für 132 Rentner bezahlen müssen.

(2) Während in der Bundesrepublik Deutschland in der Zeit von 1970 bis 1986 die Lebenserwartung bei über sechzigjährigen Männern um 17,3 Prozent (das sind zwei Jah- re), bei Frauen um 21,7 Prozent (das sind 2,6 Jahre) gestiegen ist, trat bei den Bürgern der DDR eine Steigerung von 15,9 Prozent bei Männern und 19,2 Prozent bei Frauen ein.

Die durchschnittliche Lebenserwartung be- trägt in der DDR für Männer 69,7 Jahre, für Frauen 75,7 Jahre (im Vergleich dazu Bun- desrepublik Deutschland: Männer = 71,8 Jahre, Frauen = 78,4 Jahre).

(3) Aus der zunehmenden Zahl der Ein- Personen-Haushalte läßt sich — ebenso wie aus der Tatsache, daß 1970 23,2 Prozent aller Einwohner jünger als 15 Jahre waren, im Jah- re 1987 jedoch nur noch 14,6 Prozent, älter als 65 Jahre dagegen jetzt 15,3 Prozent, wäh- rend dies 1970 noch zwölf Prozent waren — auf einen weiteren starken Anstieg der Zahl der Pflegefälle schließen. In einem Zeitraum von nur 17 Jahren ist im Bevölkerungsaufbau eine Verschiebung dergestalt erfolgt, daß da- mals doppelt soviel Menschen jünger als 15 waren als solche, die älter als 65 waren. 1987 sind hingegen mehr Menschen älter als 65, als es Kinder unter 15 Jahren gibt.

(4) Arnold, M./Schirmer, B.: „Gesund- heit für ein Deutschland", Deutscher Ärzte- Verlag, Köln, 1990

(5) Noch im Jahre 1930 übten im Deutschland der Weimarer Republik 37 237 Ärzte — das waren seinerzeit 75 Prozent aller Ärzte — ihren Beruf in freier Praxis aus. Die Zahl der freipraktizierenden Ärzte stieg seit- dem zwar auf heute 74 040 in der Bundesre- publik Deutschland stark an, ihr Prozentsatz verringerte sich jedoch auf 39,3 Prozent aller berufstätigen Arzte — die Zahl der Kranken- hausärzte veränderte sich entsprechend. Be- trug deren Gesamtzahl im Jahre 1930 noch 9977 — 19,9 Prozent der Ärzteschaft — , so ist ihre Zahl heute auf 92 480, das sind 49,1 Pro- zent aller berufstätigen Arzte, angestiegen.

Weitere 21 705 Ärzte = 11,5 Prozent aller berufstätigen Ärzte, waren 1989 bei Behör- den und öffentlich-rechtlichen Körperschaf- ten oder in sonstiger ärztlicher Tätigkeit au- ßerhalb von Krankenhaus und freier Praxis tätig.

93. Deutscher Ärztetag

Teilnehmer

aus dem Ausland

Albanien: Prof. P. Gace, Präsident;

Prof. Pandeli Qina.

Belgien: Dr. Andrä Wynen, Präsident der Fäderation Belge des Chambres syndica- les des Mädecins; Generalsekretär des Welt- ärztebundes.

Bulgarien: Dr. A. Salev, Präsident der Gewerkschaft für das Gesundheitswesen.

Dänemark: Dr. Poul Diederich, Mitglied des geschäftsführenden Vorstandes der dä- nischen Ärzteorganisation.

Finnland: Dr. Ulla-Kaja Lammi, Mitglied des geschäftsführenden Vorstandes der Fin- nischen Ärzteorganisation.

Frankreich: Dr. J. Moulin, Generalse- kretär des Conseil National de ('Ordre des Mädecins.

Großbritannien: Dr. Gordon MacPher- son, Deputy Editor, British Medical Journal.

Luxemburg: Dr. Andrä Thibeau, Präsi- dent der Association des Mädecins et Mäde- cins-Dentistes du Grand-Duchä du Luxem- bourg.

Medical Women's I. A.: Frau Dr. C.

Motze', Generalsekretärin des Internationalen Ärztinnenverbandes.

Norwegen: Dr. Bernt Einar Ostensen, Mitglied des Vorstandes der Norwegischen Ärzteorganisation.

Österreich: OMR Dr. H. Christ, Vizeprä- sident der Österreichischen Ärztekammer.

Polen: Dr. T. Chrusciel, Präsident der Polnischen Ärztekammer; Prof. Dr. J. Woy- Wojciechowski, Präsident der polnischen Ärzteorganisation.

Schweden: Dr. B. Blomquist, Mitglied des Vorstandes der niedergelassenen Arzte Schwedens.

Schweiz: Dr. H. R. Sahli, Präsident der Verbindung der Schweizer Ärzte.

Südafrika: Dr. H. . A. Hanekom, Gene- ralsekretär der südafrikanischen Ärzteorgani- sation.

Tschechoslowakei: Dr. med. Dr. Ph. J.

Kopecny, Mitglied des Präsidiums der tsche- choslowakischen Ärzteorganisation.

UdSSR: Dr. Lidia Novak, Präsidentin der Gewerkschaft für das Gesundheitswesen der UdSSR; Boris Denisov, Dolmetscher.

Ungarn: Prof. Dr. C. Farsang, General- sekretär; Frau Dr. M. Kissnä-Kalmär, Leiterin der Abteilung Internationale Beziehungen der ungarischen Ärzteorganisation.

USA: Mr. Leigh Page, American Medi- cal News, offizielles Organ der American Me-

dical Association. ❑

IMF

A-1774 (36) Dt. Ärztebl. 87, Heft 22, 31. Mai 1990

Referenzen

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