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Archiv "Die Müllhalde" (27.09.1979)

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen FEUILLETON

Die

Müllhalde

Günther Abel

Das große sich von Süden nach Nor- den erstreckende Gebirge, welches in ein westliches, mittleres und östli- ches unterteilt wird, fällt zum Tief- land relativ steil ab. Der große Fluß bildet ein sumpfig-heißes Delta, be- völkert von Alligatoren, Schlangen und Moskitos, und ein Kanal führt ins Meer. Zwischen Kanal und Delta liegt die Stadt, mit herrlichen Hotels und unsagbaren Elendsvierteln, die in den Sumpf hineingebaut worden sind. Die feuchte, überhitzte Luft verleitet zum sicheren Tode, näm- lich dem Öffnen der Taxifenster. Ne- ben dem eigentlichen Driver sitzt der Herr Fahrer und neben ihm der Gast, dessen Leben zu schützen ist. Bei Fahrtantritt wurde die Lichtbildli- zenz vorgezeigt, die besagt, daß man lediglich übervorteilt, keines- falls aber ausgeraubt werden dürfe und sich auch nicht plötzlich split- ternackend in einem Steinbruch wiedersehen würde.

Der Staat sorgt für Ordnung, der Fahrer für die Sicherheit und der rangniedere Driver für das alters- schwache Auto. Beim Öffnen der Fenster würden aber tausend Hände in den Wagen greifen und raffen, was Wert hätte, das Hemd, den Schlips oder das Taschentuch, alles hier fast unerreichbare Gegenstän- de des gehobenen Luxus, zumindest für die letzte Klasse von Mensch, also die fünfte.

Am Rande der Stadt liegt die Müll- halde, dort wo Rauch und Feuer und Geier auf Leichen hindeuten. Auf den Halden suchen Männer und Frauen nach Verwertbarem, wäh- rend die Kinder kleine Alligatoren fangen, um sie an Handtaschen- händler billigst zu verkaufen. Das Geld reicht nicht für die vielen ar- beitslosen Familienmitglieder, aber für den braunen Zuckerrohrschnaps

— mit dem die Kinder ihre Ruhe er- kaufen werden — sollten die paar Münzen genügen. Der Fusel ist schlimm wie Schwefelsäure, für europäische Menschen der absolute Tod, für Einheimische nur das relati- ve Absterben. Er wird aus Melasse schwarz gebrannt und ist ein Gesöff der Hölle. Und irgendwo haucht, zur Freude der vielen Geier, der Polizei dieses Landes, ein Mensch seine Seele aus. Sein Körper ist Leben für die Vögel, seine nicht ganz aufge- brauchte Fuselflasche Labung für die noch Lebenden.

Dr. med. Günther Abel, einer der Preis- träger des „Literaturpreises Arzt und Schriftsteller", über den auf Seite 2531 berichtet wird. Dr. Abel, 1920 in Reutlin- gen in Württemberg geboren, studierte in Berlin und Halle an der Saale. Das Stu- dium, durch den Krieg unterbrochen, be- endete er als Spätheimkehrer in West- berlin. Klinische Tätigkeit in der Psychia- trie, Niederlassung als Kassenarzt in Ber- lin und Wiesbaden, dann als Medizinal- oberrat tätig, und mittlerweile lebt er — aus gesundheitlichen Gründen — im Ru- hestand in Steinbergkirche an der Ost- see. Seine Kurzgeschichte „Die Müllhal- de" ist dem „Almanach '78 deutscher Schriftstellerärzte" entnommen, heraus- gegeben von Dr. med. Armin Jüngling, erschienen im Verlag Th. Breit, Mar- quartstein Foto: Guth

Aber heute ist ein besonderer Tag, denn Josef, der ungekrönte König der Halde Nord, trägt seinen alten Zylinderhut und ist stolz auf LY, die jüngere Tochter. Sie heiratet. Der Glückliche ist der Sohn vom alten Paulus, dem Beherrscher der Halde Süd. Brautvater und Schwiegervater haben das große Fest vorbereitet, das Fest der Hochzeit ihrer Kinder.

Und die Kinder strahlen vor Glück.

Auch die anderen Haldenbewohner feiern mit. Sie haben Lumpen, Pa- pierfetzen und Reklamedinge zu- sammengesucht, die als Abfälle ei- gentlich zur Vernichtung bestimmt gewesen waren. Mit diesen Dingen wird ein imaginäres Zimmer ge- schmückt, dessen Ecken aus 4 Holz- pfählen bestehen, die im Müllberg stecken.

Die Braut hat ein leicht verrostetes Kreuz um den Hals, welches ebenso, wie die anderen Dinge, Wegwerfgut gewesen ist. Auch für das leibliche Wohl wurde gesorgt, und in einigen schmutziggrünen Flaschen befindet sich der eben beschriebene Fusel.

Sie kommen sich nun entgegen, um sich von Halde Nord und Halde Süd im „Hochzeitszimmer" zu treffen.

Die Väter sind stolz über die Schön- heit ihrer Kinder, die Mütter wischen sich Tränen aus den Augen, denn in 9 Monaten wird alles anders ausse- hen, ein Esser wird zusätzliche Ver- sorgung beanspruchen. Sie sind nicht so wie die Mütter aus dem Sumpf, die den Touristen für ganze 4 Mark ein nacktes Neugeborenes anbieten, so, als ob sie ein Huhn feilhielten. Wenn sich dann niemand für ganze 4 Mark erbarmen wird, dann bekommen die Vögel ein Gra- tisessen, und der Alltag geht weiter.

Hier, bei den Fürsten der Halde, ist es ganz anders, da gibt es noch Tra- dition.

Eine alte Kiste, auf der einige wilde Blumen liegen, ist der Altar, und Herr Raffael fungiert als Kaplan. Er ist der geistige Führer, denn er ist sogar 2 Jahre in die Schule gegan- gen und kann seinen Namen schrei- ben. Dann haben ihn fremde Trup-

2530 Heft 39 vom 27. September 1979 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen Die Müllhalde

pen requiriert, er ist durch die Sümpfe urid Hochebenen gezogen und als krank entlassen worden. Die Halde ist nun seine Heimat, und so- wohl die Gruppe Nord als auch Süd akzeptieren den Schreibverständi- gen, der sogar predigen kann.

Die Zeremonie ist ernst und ergrei- fend. Die Ja-Worte werden vom Wind deutlich hörbar über die Halde verbreitet, als ob der Wind selber als Trauzeuge fungieren wollte. Ein al- ter Fenstervorhang ersetzt das Band des Priesters, aber er erfüllt den gleichen Zweck. Nun sind beide Mann und Frau. Das Fest kann be- ginnen.

Auf selbstgebastelten Instrumenten wird aufgespielt, zum Lachen und Tanzen. Die Flaschen kreisen die Runden, die bleichen Gesichter rö- ten sich vor Eifer und Alkohol. Die Alten, das heißt Menschen über 35 Jahren, sitzen abseits und schauen zu, denken an ihre Jugend und ihren baldigen Tod. Wer hat das 40. Le- bensjahr denn schon überlebt?

Niemand!

Aus dem Müll wurde ein altes Sofa geborgen, die Federn kaputt, die Wanzen noch lebendig. Es ist für heute das Hochzeitsbett der Glückli- chen, und eine Schilfwand schafft den Reiz des Intimen. Die Glückli- chen ziehen sich zurück, derweile die Festmenge weiter feiert.

Die Nacht bricht herein, plötzlich und fast unerwartet. Ein Feuerstoß lodert zum Himmel, er gibt Wärme und Hoffnung, denn die Nächte sind kalt und lebensfeindlich. Der Ge- sang der Menschen ist eine Mi- schung zwischen geistlichem Lied und Volksweise, und er läßt sie ihr Dasein vergessen! Wie schön ist doch das Leben, sagt eine alte Frau von ca. 28 Jahren, der die Zähne fehlen und die das alljährliche Ent- binden zum Skelett gemacht hatte.

Sie lächelt. „Das Leben ist doch schön, doch sehr schön", sagt sie und spült mit dem Fusel nach. Die jungen Leute auf dem Sofa sind er- schöpft, die Ehe ist vollzogen, sie umarmen sich und schlummern ein.

Laßt doch die anderen feiern.

Allmählich werden sie alle müde, vom Feiern und vom Freudentau- mel. Sie ziehen sich zurück, die vom Norden nach Nord, die vom Süden nach Süd. Und zwischen beiden Gruppen liegt das Hochzeitszimmer mit dem alten Sofa.

Der Morgen kommt ebenso überra- schend wie vorher die Nacht. Mit

Diese Grafik von Kristina von Mittelstaedt schmückt den Band „Literaturpreis Arzt und Schriftsteller", der von der Verlags- gesellschaft Kurpiers + Schonefeld, Scheltheide 26, 4800 Bielefeld 1, heraus- gegeben wurde. Der Band enthält ausge- wählte Beiträge der Preisträger: Docto- res Günther Abel, Erika Bohl, Fritz Brett- schneider, Harald Mozer, H. Dieter Pan- nen, Ernst Rossmüller, Rochus Turmann und Erich Weihs. Eingeleitet werden die Beiträge jeweils durch ein Porträt sowie eine Kurzbiographie der Autoren. Dotiert wurde der Preis mit der hier abgebilde- ten, in einer limitierten Auflage signier- ten Grafik von Kristina von Mittelstaedt.

Als Jury wirkten Mitglieder des Arbeits- kreises für Literatur und Kunst in Biele- feld unter dem Vorsitz von Frau Profes- sor S. Rejda, BA MA. Der Reinerlös aus dieser Publikation, die zum Preis von 24,80 DM verkauft wird, dient der Unter- stützung Multiple-Sklerose-Kranker. Er geht an die „amsel", Stuttgart („aktion multiple sklerose erkrankter").

dem Morgen rattern die schweren Lkws der Müllabfuhr heran, die den Schutt der Reichen hier abladen werden. Es kommen die großen Bagger, die den Schutt planieren.

Der Fahrer des einen Autos merkt erst in letzter Sekunde, daß auf dem alten Sofa, das bereits vom Bagger erfaßt worden ist, zwei Menschen schlafen. Er stoppt und ruft, als sie nicht gleich aufwachen, wirft er ein Stück Holz. „He, ihr Langschläfer, los fort, sonst werdet ihr unterge- baggert!"

Traumverloren schrecken sie auf, et- wäs verwirrt, aber dann schnell be- greifend. Gestern ist gestern und vorbei, und heute ist ein neuer Tag, ein harter Tag wie jeder andere. Sie nicken dem Fahrer zu und ver- schwinden über die Halde. Es wird zudem Zeit, wieder für Nahrung zu sorgen, die Tagewerke beginnen.

Sie werden nun zusammen suchen und teilen, was sie gefunden haben, denn sie sind ein Ehepaar, vor Gott und den Menschen hier auf der Hal- de. Was außerhalb der Halde pas- siert, ist ohne wesentliches Interes- se. Dort sollen auch Menschen woh- nen. „Vielleicht sind es aber doch keine Menschen", meint die junge Ehefrau, „denn noch nie habe ich so einen sonderbaren Typ gesehen, der gestern mit einem Driver und einem Fahrer zur Halde gekommen ist. Wie der ausgesehen hat? Sonderbar und eine so weiße Hautfarbe? Ich glau- be", seufzt die junge Frau, „es war ein Lebewesen von einem anderen Stern, zu dem wir beten, und das war eben das Geschenk, welches uns der Himmel zugedacht hatte. Es war ein schöner Tag, aber nun heißt es, die verlorene Arbeitszeit einzu- holen."

Die Halde war staubig und der Taxi- fahrer ist für Sauberkeit. Er sagt es seinem Driver. Dieser sagt es seinem Wagenwäscher, der sich an die Ar- beit macht, denn fürs Wagenwa- schen ist auch ein Driver zu vornehm.

Anschrift des Verfassers:

Dr. - med. Günther Abel Schosterweg 14 2391 Steinbergkirche

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 39 vom 27. September 1979 2531

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