Deutsches Ärzteblatt
|
Jg. 110|
Heft 15|
12. April 2013 A 729 DEPRESSIVE STÖRUNGENEinzigartiges Wirkprinzip erweitert das therapeutische Repertoire
Der Wirkmechanismus von Tianeptin unterscheidet sich von dem anderer Substanzen zur Therapie von Depressionen: Es rekonstituiert offenbar die Neuroplastizität des Hippocampus und der Amygdala.
T
rotz eines inzwischen großen Spektrums an pharmakologi- schen Substanzen zur Behandlung depressiver Störungen führt die me- dikamentöse Therapie bei etwa je- dem dritten Patienten nicht zum ge- wünschten Erfolg. Deshalb gebe es Bedarf an weiteren Alternativen, er- läuterte Prof. Dr. med. Siegfried Kasper, Ordinarius für Psychiatrie an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Medizinischen Universität in Wien, bei einer Ver- anstaltung von Neuraxpharm-Arz- neimittel in Berlin. Das gelte be- sonders dann, wenn ein Newcomer wie Tianeptin über einen von den bisherigen Optionen abweichenden Wirkmechanismus verfüge.Es sei pathophysiologisch zu kurz gedacht, die Depression pri- mär als monoaminerge Dysbalance zu erklären, sagte Kasper. Seit eini- ger Zeit häuften sich die Hinweise darauf, dass die Depression das Er- gebnis einer Veränderung der Neuro- plastizität sein könnte – vor allem in Hirnstrukturen wie Hippocampus, Amygdala und Cortex, die an der Regulierung von Stimmungen und Emotionen beteiligt sind. Diese Da- ten erlauben nach Auffassung von Kasper auch ein besseres Verständ- nis der erhöhten Anfälligkeit der Betroffenen für Rezidive oder Wie- derauftreten der Depression.
Schutz der Dendriten vor stressinduzierter Atrophie
„Tianeptin stellt die Neuroplastizi- tät des Hippocampus und der Amygdala wieder her“, erläuterte der Psychiater das multifaktoriel- le Wirkprinzip. Die Substanz ist ein Serotonin-Wiederaufnahme-Ver- stärker (SRE). Dennoch hält Kasper
die Reduktion der Serotonin-Kon- zentration im synaptischen Spalt durch das selektive Serotonin- Reuptake-Enhancement nicht für den Hauptmechanismus. Relevanter sei die Hemmung der bei Depres - siven überstimulierten Hypothala- mus-Hypophysen-Nebennierenrin- de-Achse. Das verhindere die stress - induzierte Atrophie der Dendriten in Pyramidenzellen des Hippocam- pus und erkläre die positiven Ef - fekte von Tianeptin auf kognitive Funktionen wie Erinnerungsvermö- gen und Lernfähigkeit.
Zugelassen wurde Tianeptin 1988 zunächst in Frankreich und später in zahlreichen weiteren europäischen Ländern. Seit November 2012 kann das Antidepressivum als Tianeurax® auch in Deutschland verordnet wer- den. Die empfohlene Dosis beträgt dreimal täglich 12,5 mg beziehungs- weise zweimal 12,5 mg/Tag bei Pa- tienten im höheren Lebensalter oder mit schwerer Niereninsuffizienz.
Seine akute und rezidivprophy- laktische Wirksamkeit hat Tianep- tin in einer Reihe von randomisier- ten doppelblinden Studien unter Beweis gestellt – mit signifikanter Überlegenheit gegenüber Placebo und äquivalenter Effektivität zu Tri- zyklika und SSRI (selektive Seroto- nin-Wiederaufnahme-Hemmern).
Dass die Studien und Publikatio- nen vergleichsweise lange zurück- liegen, ist für Prof. Dr. med. Hans- Peter Volz, Ärztlicher Direktor des Krankenhauses für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomati- sche Medizin Schloss Werneck, kein Nachteil. Im Gegenteil: So schwer kranke Patienten wie in je- nen Studien würden heute kaum noch eingeschlossen. Vorteil von
Tianeptin sei die gute Verträglich- keit. Signifikant häufiger als unter Placebo waren lediglich Kopf- schmerzen aufgetreten. In Verglei- chen mit Trizyklia wurden signifi- kant seltener autonome, zentralner- vöse und gastrointestinale Neben- wirkungen oder eine Zunahme des Körpergewichts dokumentiert.
Ohne klinisch relevantes Interaktionspotenzial
Auch im Vergleich mit verschiede- nen SSRI hat sich nach Aussage von Volz eine tendenziell bessere Verträglichkeit gezeigt. Hervorzu- heben sei die wesentlich geringere Wahrscheinlichkeit für sexuelle Funktionsstörungen. Weil die Meta- bolisierung nur in vernachlässig - barem Ausmaß über das hepati sche Zytochrom-P450-System erfolgt, weist Tianeptin kein klinisch rele- vantes Interaktionspotenzial auf.
„Tianeptin ist ein breit einsetz - bares Antidepressivum mit guter Verträglichkeit und zuverlässiger Wirksamkeit“, resümierte Volz. Ein Pluspunkt sei der völlig andere Wirkmechanismus. „Das Problem bei der Therapie depressiver Stö- rungen ist, dass wir nur 60 bis 70 Prozent Responder haben – un- abhängig vom verordneten Medika- ment. Die Rate der Responder ist auch bei Tianeptin nicht höher, aber vermutlich sind die Gruppen unter- schiedlich zusammengesetzt. Ein Patient, der auf Tianeptin gut res- pondiert, ist ein anderer als der, der gut auf ein SSRI anspricht.“
▄
Gabriele Blaeser-Kiel
Launch-Pressekonferenz „Tianeptin, ein neues Wirkprinzip zur Therapie von depressiven Störun- gen“ beim DGPPN-Kongress 2012 in Berlin, Veranstalter: Neuraxpharm-Arzneimittel