Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 111|
Heft 29–30|
21. Juli 2014 A 1271S
eit Einführung des G-DRG-Systems ab 2003 steht der Verdacht im Raum, in den deutschen Kliniken würde mehr operiert als notwendig. Ge- schäftsführungen motivierten die Ärztinnen und Ärzte, mehr und höhere Fallpauschalen abzurechnen. Organi- sierte Körperverletzung im großen Stil, sozusagen. Im Sommer 2012 beauftragte der Gesetzgeber deshalb den GKV-Spitzenverband, den PKV-Verband und die Deut- sche Krankenhausgesellschaft (DKG), die Gründe für die registrierte Mengenausweitung in den Krankenhäu- sern wissenschaftlich untersuchen zu lassen. Das auf- wendig erstellte Gutachten der Professoren Dr. rer. oec.Jonas Schreyögg, Universität Hamburg, und Dr. med.
Reinhard Busse, Technische Universität Berlin, liegt nun vor – und lässt viele Fragen offen. Vor allem liefert es beiden Seiten, also Krankenhaus- und Kostenträ- gern, Stoff für ihr jeweiliges Argument.
Das Gutachten bestätige den von den Krankenkassen aufgezeigten Zusammenhang von Preis und Menge, in- terpretierte der GKV-Spitzenverband die Studienergeb- nisse: „Krankenhäuser steigern vor allem die Anzahl je- ner Operationen, die sich finanziell lohnen.“
DKG-Präsident Alfred Dänzer zieht aus demselben Bericht den gegenteiligen Schluss: „Dieses Gutachten belegt, dass Behauptungen, die Krankenhäuser würden aus ökonomischen Gründen medizinisch nicht notwen- dige Leistungen erbringen, keinerlei empirische Grund- lage haben.“ Die Studie bestätige, dass Morbidität und Mortalität maßgeblich für die Leistungsentwicklung der Kliniken seien und dass der demografische Effekt, weit mehr als bisher von den Kassen angenommen, die Leistungsentwicklung bestimme.
Dass Schreyögg und Busse keine eindeutigen Belege für oder gegen eine ökonomisch motivierte Mengen- ausweitung in den Kliniken liefern, kann nicht wirklich überraschen. Dafür gibt es zu viele Effekte, die Einfluss auf die Leistungsentwicklung haben: der medizinische Fortschritt, die Erwartungen der Patienten, veränderte Lebensgewohnheiten oder auch sich ändernde Wech- selwirkungen mit der ambulanten Versorgung.
Aber selbst ohne empirischen Nachweis liegt die Vermutung nahe, dass Krankenhäuser im Wettbewerb anpassungsfähig sind: Werden die Leistungen nach Tagessätzen vergütet, kann eine Steigerung der durch- schnittlichen Verweildauer erwartet werden. Werden die Leistungen nach Fallpauschalen vergütet, setzt das Anreize für steigende Operationszahlen.
Generell gilt: Wer im G-DRG-System unnötige Ope- rationen vermeiden will, sollte vor allem den ökonomi- schen Druck auf die Kliniken mindern. Deshalb sind beispielsweise die Länder in der Pflicht, ihren Investi - tionsverpflichtungen nachzukommen. Denn solange Krankenhäuser Investitionen aus den DRG-Erlösen finanzieren müssen, besteht ein Anreiz, immer mehr Fälle zu „produzieren“. Bedarfsnotwendigen Kliniken in der Fläche mit eher wenigen und einfachen Fällen könnten zudem die Vorhaltekosten finanziert werden, um Anreize zur „Flucht in die Menge“ zu reduzieren.
Überhaupt muss die Frage erlaubt sein, warum in Deutschland eine 100-prozentige Finanzierung aller Klinikleistungen über Fallpauschalen erfolgt. Der öko- nomische Druck auf die medizinische Indikationsstel- lung wäre deutlich geringer, wenn beispielsweise nur noch die Hälfte des Budgets über das DRG-System und seine Fallpauschalen gesteuert würde. Es scheint sinn- voller, die Vorhaltung gesondert zu finanzieren.
UNNÖTIGE OPERATIONEN
Den Druck mindern
Jens Flintrop
Jens Flintrop Stellvertretender Leiter der politischen Redaktion